BT-Drucksache 16/4748

Lebenslanges Lernen fördern

Vom 21. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4748
16. Wahlperiode 21. 03. 2007

Antrag
der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, Brigitte Pothmer, Krista
Sager, Dr. Gerhard Schick, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt,
Britta Haßelmann und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lebenslanges Lernen fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Wissensgesellschaft stellt neue Anforderungen an jeden Einzelnen, an die
Bildungsinstitutionen, an die Wirtschaft und an den Staat. Die Fähigkeit, Infor-
mationen zu verarbeiten und einzuordnen sowie die Fähigkeit, Wissen aus die-
sen Informationen zu generieren und zu erneuern, gewinnen immens an Bedeu-
tung. Bildung ist in der Wissensgesellschaft Voraussetzung für die Selbständig-
keit des Individuums, für gesellschaftliche Innovation, für Kreativität und ganz
besonders für soziale Integration und demokratische Teilhabe.

In der Wissensgesellschaft verändern sich Lern- und Qualifizierungsprozesse:
Priorität hat nicht mehr eine spezialisierte passgenaue Erstausbildung, sondern
eine kontinuierliche Weiterqualifizierung in allen Lebensphasen. Neben einer
sehr guten vorschulischen und schulischen Grundausbildung sowie einer hohen
Bildungsbeteiligung und Qualität im Hochschulbereich müssen wir also beson-
deres Augenmerk auf die berufliche Weiterbildung legen.

Dies liegt gleichermaßen im Interesse der Beschäftigten, der Unternehmen und
des Staates. Auf den Einzelnen bezogen stärkt Weiterbildung die individuelle
Kompetenz und damit die Beschäftigungsfähigkeit und soziale Integration. Sie
dient dazu, neue Qualifikationspotenziale zu erschließen und bereits vorhandene
Qualifikationen zu stabilisieren. Die Beschäftigungsmöglichkeiten für Gering-
qualifizierte nehmen in einer wissensbasierten Ökonomie weiter ab. Nur noch
die Hälfte dieser Gruppe ist heute überhaupt erwerbstätig. Damit die Beschäfti-
gungsquote steigt und somit auch die hohen staatlichen Sozialtransfers sinken,
müssen wir vorsorgen und möglichst viele Menschen gut qualifizieren.

Der Handlungsbedarf wird noch deutlicher, wenn man die Mängel unseres Bil-
dungssystems berücksichtigt, das jedes Jahr über 80 000 Schulabbrecherinnen
und -abbrecher „produziert“ und fast ein Viertel der Jugendlichen mit Kompe-
tenzen auf Grundschulniveau entlässt. In den letzten Jahren ist dadurch eine
große Gruppe von Bildungsverlierern herangewachsen, die eine zweite Chance

braucht.

Weiterbildung liegt aber auch im ureigensten Interesse von Unternehmen. Denn
genauso wie neue Technologien neue Produktions- und Absatzchancen bieten,
eröffnet der Wissens- und Kreativitätszuwachs der Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter durch Weiterbildung den Betrieben Möglichkeiten für Innovationen und
Wachstum. Auf diese Potenziale können kluge Unternehmerinnen und Unter-
nehmer nicht verzichten. Insbesondere nicht vor dem Hintergrund der demogra-

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fischen Entwicklung und des daraus resultierenden dramatischen Fachkräfte-
mangels, der heute schon – trotz hoher Arbeitslosigkeit – in etlichen Branchen
zu spüren ist. Allein im Ingenieurbereich fehlen 22 000 Fachkräfte. Die Zahl der
Studienanfängerinnen und -anfänger für Informatik ist auf einem historischen
Tiefstand – trotz eines hohen Fachkräftebedarfs der Branche. Bisher wurde be-
triebliche Innovation hauptsächlich über die Einstellung von Absolventinnen
und Absolventen der Erstausbildung realisiert. Dies ist bei erheblichem Fach-
kräftemangel und der zurzeit zu geringen Bildungsbeteiligung im tertiären Sek-
tor kaum mehr möglich. Vielmehr müssen sich alle Beschäftigten kontinuierlich
weiterqualifizieren, auch im Bereich der „soft skills“ wie Team- und Kommuni-
kationsfähigkeit, Konfliktlösung oder Moderation.

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der steigenden Lebens-
arbeitszeit muss auch die Weiterbildungsbeteiligung älterer Beschäftigter erhöht
werden. Die jahrzehntelange Tradition der Frühverrentung hat dazu geführt,
dass die Potenziale älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr ge-
sehen und nicht ausreichend wertgeschätzt wurden. Diese Verschwendung kön-
nen wir uns in einer Wissensgesellschaft nicht leisten.

Viele junge Menschen müssen heute nach einer langen Erstausbildung innerhalb
weniger Jahre Ausbildungsabschluss, Berufseinstieg und Familiengründung un-
ter einen Hut bringen. Ein gutes System der beruflichen Weiterbildung kann
dazu beitragen, diese „Rush-Hour des Lebens“ etwas zu entzerren. Denn wenn
Weiterqualifizierung in unterschiedlichen Abschnitten des Berufslebens zur
Normalität wird, mindert dies den Druck, vor der Familiengründung „ausge-
lernt“ haben zu müssen.

Die beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen erfordern auf vielen Ebe-
nen und Feldern Anpassungsstrategien. Neben beruflicher Weiterbildung spielt
auch die allgemeine und politische Weiterbildung eine wichtige Rolle für die in-
dividuelle Weiterentwicklung jedes und jeder Einzelnen. Denn sie fördert geis-
tige Beweglichkeit und Kreativität. Sie schafft zudem bessere Voraussetzungen
für Orientierung in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft und für Teilhabe
am demokratischen Gemeinwesen.

Im internationalen Vergleich hat Deutschland einiges aufzuholen. Nach Eurostat-
Kriterien liegt die Teilnahmequote an unterschiedlichen Lernformen im Erwach-
senenalter in Deutschland bei 42 Prozent, skandinavische Länder kommen hin-
gegen auf 70 bis 80 Prozent. Eine ähnliche Tendenz zeigt die aktuelle OECD-
Bildungsstudie, die Weiterbildung etwas enger definiert: Mit einer Teilnahme-
quote von 12 Prozent liegt Deutschland hier deutlich unter dem OECD-Schnitt
von 18 Prozent und weit abgeschlagen hinter Ländern wie Dänemark, Finnland,
Schweden oder den USA, die 35 bis 40 Prozent erreichen. Die OECD-Studie
zeigt auch, dass Geringqualifizierte in Deutschland noch seltener als in anderen
Ländern an Maßnahmen des Lebenslangen Lernens teilnehmen. Und auch
Frauen mit Kindern und Beschäftigte in Kleinen und Mittleren Unternehmen sind
in der beruflichen Weiterbildung deutlich unterrepräsentiert.

Wir brauchen eine weiterbildungsaktive Gesellschaft, in der alle mehr als bisher
an Weiterbildung partizipieren. Die Förderung Lebenslangen Lernens muss sich
dabei an einem Dreiklang von guter Beratung, Zeit für Weiterbildung und klu-
gen Finanzierungsinstrumenten orientieren.

Vom heutigen Niveau aus gesehen müssen alle Akteure – Unternehmen, Indivi-
duen und der Staat – mehr als bisher in Weiterbildung investieren. Die Unterneh-
men sind voll und ganz für betriebliche Weiterbildung zuständig. Die Individuen
müssen Zeit einbringen und bei zunehmendem privaten Interesse auch entspre-
chend höhere Eigenbeiträge leisten. Der Staat wiederum muss förderliche Rah-
menbedingungen für Lebenslanges Lernen setzen, die auch einen Mentalitäts-

wandel befördern, und diejenigen besonders unterstützen, die einen Schul-

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abschluss oder eine berufliche Erstausbildung nachholen. Eine besondere
Verantwortung haben die Bundesländer. Sie sind dafür zuständig, dass Schul-
abgängerinnen und -abgänger einen qualifizierten Abschluss erhalten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Strukturen für Lebenslanges Lernen zu stärken und dabei insbesondere

– Zielmarken für die Weiterbildungsbeteiligung auf skandinavischem Niveau
festzulegen, um die Bedeutung des Lebenslangen Lernens zu untermauern
und einen Maßstab für das eigene politische Handeln festzulegen. Dies würde
nach Eurostat-Kriterien bedeuten, sich eine Beteiligung von 70 Prozent bis
2020 zum Ziel zu machen;

– in einem Modellprojekt zu prüfen, wie eine umfassende, regional verankerte,
unabhängige Bildungsberatung bei den Verbraucherzentralen angesiedelt
werden kann;

– die im Innovationskreis für Berufliche Bildung diskutierte Strukturreform
der Berufsausbildung voranzubringen. Denn eine Ausbildung, die nach einer
Phase der Grundqualifikation in Modulen strukturiert ist, wird auf diese
Weise auch anschlussfähiger zur Weiterbildung;

– die Weiterbildungsförderung durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) neu
auszurichten. Dabei sollte vor allem die Teilnahme an Kursen bzw. Maßnah-
men finanziert werden, die unmittelbar oder perspektivisch (Module) zu
einem anerkannten Abschluss führen. Außerdem müssen Geringqualifizierte
stärker gefördert werden. Für sie sollte mindestens die Hälfte der Förder-
angebote vorgehalten werden. Des Weiteren muss die Beratung darüber, wie
man Bildungsgutscheine einsetzt, für bildungsferne BA-Kunden verbessert
und das Instrument der Job Rotation insbesondere bei den Unternehmen bes-
ser bekannt gemacht und beworben werden;

– Arbeitszeit- und Lernkonten insolvenzrechtlich zu schützen und transferier-
bar zu machen;

– die Weiterbildungsberatung speziell für Kleine und Mittlere Unternehmen in
einem Projekt zu erproben, das ähnlich wie die Small Firm Development
Accounts in Großbritannien auf den einzelnen Betrieb und seine Personalent-
wicklungs- und Zeitbedarfe zugeschnitten ist;

– eine bundesweite Weiterbildungskampagne zu starten, um den Menschen die
gestiegene Bedeutung von Lebenslangem Lernen bewusster zu machen. Eine
solche Kampagne sollte bestehende Förderinstrumente wie z. B. Job Rotation
besser bekannt machen, sich aber auch mit der Veränderung von Lernorten
befassen. Dazu gehören flexible Weiterbildungsangebote mit einer besseren
Kinderbetreuung, um die Zielgruppe der Frauen mit Kindern zu erreichen,
aber auch spezielle Angebote für Ältere. Für eine andere Organisation von
Arbeitsabläufen in Unternehmen nach dem Motto „arbeitsnah lernen, lernnah
arbeiten“ muss genauso geworben werden wie für ein stärkeres Engagement
von Hochschulen im Bereich Weiterbildung;

– die Bildungsforschung im Bereich Lebenslanges Lernen auszubauen, um
vorhandene Datenlücken (z. B. beim Thema informelles Lernen) zu schlie-
ßen und die Vergleichbarkeit von Beteiligungsdaten zu vereinfachen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung zudem auf,

die finanzielle Unterstützung für lebenslanges Lernen zu reformieren und dabei
insbesondere
– das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG, „Meister-BAföG“) zu
einem Erwachsenenbildungsförderungsgesetz auszubauen, damit auch dieje-

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nigen gefördert werden können, die im Erwachsenenalter einen schulischen
oder beruflichen Abschluss nachholen, oder ein berufsbegleitendes Auf-
baustudium machen. Die jetzt schon bestehenden Fördermaßnahmen, z. B.
im Rahmen der Ausbildungsbeihilfen im Sozialgesetzbuch III oder des Bun-
desausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), müssen in ein solches Gesetz
integriert werden;

– die staatliche Unterstützung in Bildungsphasen langfristig so zu reformieren,
dass junge Erwachsene unabhängig von ihren Eltern gefördert werden, d. h.
Kindergeld und Ausbildungsfreibeträge den volljährigen Lernerinnen und
Lernern direkt für ihre Bildungsphasen zur Verfügung stehen;

– Bildungssparen staatlich zu fördern, um die Weiterbildungsbeteiligung zu er-
höhen und den Wert von Bildungsinvestitionen bewusster zu machen. In An-
lehnung an die bisherige Förderung über das Vermögensbildungsgesetz sollte
neben der Altersvorsorge auch Bildungssparen als ein Sparzweck gefördert
werden. Im Gegenzug soll geprüft werden, ob die Wohnungsbauprämie ent-
fällt. Um insbesondere Menschen mit geringem Einkommen das Bildungs-
sparen zu ermöglichen, sollte für diese Gruppe eine höhere staatliche Förde-
rung vorgesehen werden;

– zinsgünstige Bildungsdarlehen über die KfW-Förderbank zur Verfügung zu
stellen, die jeder und jede nach einer dafür obligatorischen Bildungsberatung
in Anspruch nehmen kann;

– die Definition der steuerlich absetzbaren Bildungsaufwendungen so zu ver-
ändern, dass alle zertifizierten Maßnahmen, die zum Erhalt und zur Weiter-
entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit dienen, absetzbar sind;

– zusätzliche finanzielle Anreize für Kleine und Mittlere Unternehmen zu prü-
fen, damit diese die Weiterqualifizierung ihrer Beschäftigten nachhaltig im
Unternehmen verankern.

Berlin, den 21. März 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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