BT-Drucksache 16/447

für die fortdauernde Unterstützung des Stabilisierungs- und Demokratisierungsprozesses in Afghanistan

Vom 24. Januar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/447
16. Wahlperiode 24. 01. 2006

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Marieluise Beck (Bremen),
Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für die fortdauernde Unterstützung des Stabilisierungs- und Demokratisierungs-
prozesses in Afghanistan

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mit dem Zusammentritt des afghanischen Parlaments am 19. Dezember 2005
kam der von der internationalen Gemeinschaft nach dem Sturz der Taliban-
Gewaltherrschaft begonnene Petersberg-Prozess zum Abschluss. Seit Dezem-
ber 2001 ist in Afghanistan in politischer, wirtschaftlicher und soziokultureller
Hinsicht viel erreicht worden. Das Land ist dabei, sich von über 25 Jahren
Krieg und Bürgerkrieg zu erholen. Um das Erreichte zu sichern, aber auch um
die weitere demokratische Stabilisierung und Entwicklung Afghanistans zu
fördern, ist die fortgesetzte Unterstützung des Landes durch die internationale
Gemeinschaft notwendig.

Die politische Entwicklung der letzten Jahre ist eindrucksvoll. So beteiligten
sich deutlich mehr Bürgerinnen und Bürger als erwartet an den Präsident-
schafts- und Parlamentswahlen. Bei beiden Wahlen lag die Beteiligung über
50 Prozent, darunter jeweils über 40 Prozent Beteiligung der Frauen. Beson-
ders erfreulich ist der Anteil von mehr als 27 Prozent weiblichen Abgeordne-
ten im Unterhaus des neuen Parlaments. Angesichts der Bekämpfung des
Wahlprozesses durch die oppositionellen militanten Kräfte ist dies ein hoff-
nungsvolles Zeichen. Die Wählerinnen und Wähler Afghanistans haben ge-
zeigt, dass sie sich nicht einschüchtern lassen, sondern ihre demokratischen
Rechte wahrnehmen wollen. Gleichzeitig haben sie ihre Unterstützung für
den von der internationalen Gemeinschaft begleiteten Prozess der Stabilisie-
rung und Demokratisierung Afghanistans zum Ausdruck gebracht.

Auch wirtschaftlich hat sich in Afghanistan vieles positiv entwickelt. Das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sich nach Angaben des Internationalen Wäh-
rungsfonds (IWF) von 2001 bis 2005 – ohne die Einbeziehung des Anteils
der illegalen Drogenökonomie – mehr als verdoppelt. Der Aufbau einer
grundlegenden Infrastruktur auch außerhalb von Kabul macht ebenso Fort-
schritte wie die Programme der internationalen Gemeinschaft zur gesicherten

Basisversorgung der Bevölkerung und zur Armutsbekämpfung. Nach der fast
kompletten Zerstörung der wirtschaftlichen Basis des Landes beginnt sich
langsam wieder eine wirtschaftliche Struktur zu entwickeln. Der deutsche
Beitrag konzentriert sich hierbei auf die Stärkung des Mittelstandes und die
Schaffung von Arbeitsplätzen.

In soziokultureller Hinsicht ist der Unterschied zur Taliban-Gewaltherrschaft
besonders auffällig. So hat sich die Anzahl der Schülerinnen und Schüler in

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Grundschulen nach Angaben des United Nations Development Programme
(UNDP) von 2001 bis 2005 von einer Million auf knapp fünf Millionen erhöht.
Gegenüber der weitgehenden Entrechtung der Frauen gab es bedeutende Fort-
schritte. Der Aufbau einer unabhängigen afghanischen Medienlandschaft und
der Ausbau von Bildungsangeboten – besonders für Mädchen – sowie der Auf-
bau von Hochschulen legen wichtige Grundlagen für die Festigung einer
aktiven und demokratischen Zivilgesellschaft. Das kulturelle Leben ist dabei,
sich von der weitgehenden Abschottung und Austrocknung unter der Taliban-
Gewaltherrschaft zu erholen. Für die Identitätsfindung und -stärkung der
afghanischen Gesellschaft ist es wichtig, das kulturelle Erbe zu bewahren und
unter den neuen Bedingungen weiter zu entwickeln. Hierbei leistet die
Bundesrepublik Deutschland u. a. mit Projekten zur Sicherung von Kultur-
denkmälern und zur wissenschaftlichen Kooperation wichtige Beiträge.
Afghanistan ist auf dem Weg von der Diktatur der Fundamentalisten zu einem
freien Staatswesen und einer kulturell gestärkten und offenen Gesellschaft
auch dank dieser kultur- und bildungspolitischen Zusammenarbeit ein gutes
Stück vorangekommen.

2. So begrüßenswert diese Entwicklungen auch sind: Afghanistan ist nach wie
vor weit entfernt von demokratischer Stabilität. Die Sicherheitslage ist wei-
terhin nicht stabil, Rechtsstaatlichkeit noch nicht verankert und die nachhal-
tige Entwicklung nicht gewährleistet. Taliban- und Guerrillakräfte gefährden
in einzelnen Regionen die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung und der
internationalen Helfer. Talibanvertreter haben wiederholt Gesprächs- und
Versöhnungsangebote von Präsident Hamid Karzai zurückgewiesen und an-
gekündigt, weiter gewaltsam gegen die legitime Regierung und die Präsenz
der internationalen Gemeinschaft kämpfen zu wollen. Dabei ist eine Ände-
rung der Strategie der oppositionellen militanten Kräfte festzustellen. Zuneh-
mend werden Zivilisten und unbewaffnete internationale Helfer angegriffen.
Daneben nimmt die Gewaltkriminalität im Kontext der illegalen Drogen-
ökonomie zu.

Auch nach Abschluss des Demilitarisierungs-, Demobilisierungs- und Re-
integrationsprozesses im Juli 2005 verunsichern nach Angaben der United
Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) mehr als 80 000 Be-
waffnete das Land. Trotz deutlicher Fortschritte beim Aufbau der Afghani-
schen Nationalarmee und der Aufstellung und Ausrüstung der Polizeikräfte
sind die afghanischen Sicherheitsorgane noch nicht in der Lage, landesweit
für Ordnung zu sorgen. Die Stärkung des Sicherheitssektors und der Aufbau
von funktionierenden gesamtstaatlichen Strukturen sind deshalb auch künftig
von herausragender Bedeutung. Der Entwaffnungsprozess und der Aufbau
funktionsfähiger und gesamtstaatlicher Sicherheitsstrukturen muss konse-
quent fortgeführt werden. Dabei wird es in Zukunft darauf ankommen, den
zivilen Beitrag zum Friedensprozess in Afghanistan auszubauen und die
Eigenverantwortung der Afghanen zu stärken.

Die menschenrechtliche Lage ist nach wie vor problematisch. Obwohl die ge-
gen Frauen gerichteten Verbote der Taliban formal aufgehoben sind, verbes-
sert sich ihre Lage nur langsam. Zwangsverheiratungen von Mädchen bereits
im Kindesalter und häusliche Gewalt gegen Frauen sind weit verbreitet.
Rückkehrer stoßen auf größte Schwierigkeiten, wenn sie außerhalb des Fami-
lienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten
Ausland zurückkehren. Ihnen fehlen häufig das für das Überleben notwen-
dige soziale oder familiäre Netzwerk, eine Unterkunft und die notwendigen
Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund ist eine
zwangsweise Rückführung afghanischer Staatsbürger – insbesondere für
Frauen – aus der Bundesrepublik Deutschland unverantwortlich.

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Auf dem Weg in die Zukunft bleibt die Aufklärung und Aufarbeitung von
Menschenrechtsverletzungen der letzten 25 Jahre eine wichtige Aufgabe.
Das afghanische Parlament hat im Dezember 2005 den von der unabhängigen
afghanischen Menschenrechtskommission vorgelegten „Transitional Justice
Action Plan“ fast unverändert angenommen. Der Aktionsplan sieht auch eine
strafrechtliche Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen vor. Die inter-
nationale Gemeinschaft bleibt aufgerufen, den nationalen Aufarbeitungs-
prozess weiterhin aufmerksam zu begleiten und zu unterstützen. Nur auf der
Grundlage einer glaubwürdigen und rechtsstaatlichen Aufklärung, Verfol-
gung und Ahndung von Verbrechen wird die afghanische Bevölkerung
Vertrauen zu den staatlichen Institutionen fassen können.

3. Die internationale Staatengemeinschaft muss weiterhin ein fundamentales
Interesse daran haben, Afghanistan auf seinem Weg in eine selbstbestimmte
und friedliche Zukunft nach Kräften zu unterstützen. Der Deutsche Bundes-
tag begrüßt deshalb, dass am 31. Januar/1. Februar 2006 in London eine in-
ternationale Afghanistan-Konferenz zum Post-Bonn-Prozess stattfindet.
Kernelemente dieses Prozesses sind die weitere Präsenz internationaler Si-
cherheitskräfte, die Unterstützung beim Aufbau grundlegender Staatsfunk-
tionen, dauerhafter Institutionen und die weitere Begleitung des politischen
Prozesses sowie das Engagement beim wirtschaftlichen Wiederaufbau.
Dabei kommt den Provincial Reconstruction Teams (PRTs) eine wichtige
Rolle zu.

Wichtigste Aufgabe der Konferenz ist die Verabschiedung des „Afghanistan
Compact“, in dem die Grundlagen für die Entwicklung in den Jahren 2006 bis
2010 gelegt werden. Dabei soll die Verantwortung für die weitere Stabilisie-
rung und Demokratisierung Afghanistans zunehmend in afghanische Hände
übergehen. Die zentralen Handlungsfelder des „Afghanistan Compact“ sind
die Verbesserung der Staatsfunktionen in den Bereichen Sicherheit, Aufbau
von Rechtsstaatlichkeit, Beachtung der Menschenrechte und nachhaltige
Entwicklung. Als Querschnittsaufgabe, die alle Sektoren der afghanischen
Gesellschaft und Politik berührt, kommt die Bekämpfung der Drogenökono-
mie hinzu.

4. Die Drogenökonomie hat sich zu einem großen Hindernis für die Stabili-
sierung und Entwicklung Afghanistans entwickelt. Die Bekämpfung des
Drogenanbaus muss konsequent in den Kontext der Armutsbekämpfung, des
Aufbaus von Rechtsstaatlichkeit und der Verbesserung der Sicherheitslage
integriert werden. Drogenökonomie geht einher mit der Etablierung von
Strukturen organisierter Kriminalität. Die jüngsten Meldungen des United
Nations Office on Drugs and Crime (UNODC), wonach die Anbaufläche für
Schlafmohn 2005 um über 20 Prozent zurückgegangen sei, sind ein positives
Zeichen, aber kein Grund zur Entwarnung. Die Opiumproduktion ging im
gleichen Zeitraum nur um knapp 2,5 Prozent zurück. Der Ausstieg aus der
Opiumproduktion war da am erfolgreichsten, wo Drogenbekämpfung und
Anreize zu legalen, wenn auch weniger lukrativen Einkommensmöglichkei-
ten Hand in Hand gingen.

Die Sicherheitslage leidet zunehmend unter der Ausbreitung von kriminellen
Strukturen. Umso wichtiger ist der Beitrag, den Deutschland als Führungs-
nation beim Wiederaufbau der afghanischen Polizei und Grenzpolizei leistet.
Dem Aufbau von multiethnischen und verlässlich rechtsstaatlich handelnden
afghanischen Polizeikräften kommt eine Schlüsselrolle bei der Wiederher-
stellung der inneren Sicherheit Afghanistans zu. Notwendig bleibt auch die
Entwicklung von verlässlichen alternativen Einkommensmöglichkeiten für
die Opiumbauern.

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5. Mit der UN-mandatierten International Security Assistance Force (ISAF) hat
die internationale Gemeinschaft die Verpflichtung übernommen, Afghanis-
tan dabei zu helfen, wieder zu einem geachteten Mitglied der Staatenwelt zu
werden. Der mit dem Petersberg-Prozess gewählte breite politische, wirt-
schaftliche und soziokulturelle Ansatz zur Friedenskonsolidierung kann als
vorbildlich gelten. Unabdingbar für den Erfolg des internationalen zivilen
und militärischen Einsatzes in Afghanistan ist jedoch nach wie vor die
erkennbare Bereitschaft zum langfristigen Engagement. Die Aufgabe, in
Afghanistan ein funktionierendes demokratisches Staatswesen zu etablieren,
wird noch lange auf der internationalen Tagesordnung stehen. Es wäre ein
falsches Signal, wenn angesichts anderer internationaler Krisen die Aufmerk-
samkeit für die Entwicklung in Afghanistan nachlassen würde.

6. Deutschland hat in den vergangenen Jahren hervorragende diplomatische,
militärische, polizeiliche und entwicklungspolitische Beiträge zum Friedens-
prozess in Afghanistan geleistet. Mit dem Bonner Petersberg-Prozess, der
Federführung beim Polizeiaufbau oder der Weiterentwicklung des PRT-Kon-
zeptes hat Deutschland in den vergangenen Jahren wichtige Impulse gegeben.
Der Deutsche Bundestag dankt allen daran Beteiligten für den Beitrag, den
sie im Auftrag der Bundesregierung, des Parlaments oder freiwillig im Rah-
men zahlreicher Nichtregierungsorganisationen zum Wiederaufbau Afghanis-
tans geleistet haben. Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt, dass
die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag den Prozess der Stabilisierung,
des „nation building“ und des Wiederaufbaus mit einem umfassenden Ansatz
politischer, wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer und militärischer Mittel
fortsetzen möchte.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich weiterhin konsequent für die demokratische Stabilisierung und nachhal-
tige Entwicklung Afghanistans einzusetzen;

2. bei der Auftaktkonferenz zum Post-Bonn-Prozess in London am 31. Januar/
1. Februar 2006 der afghanischen Regierung erneut ihre Unterstützung zuzu-
sagen;

3. den Wiederaufbau Afghanistans weiterhin großzügig und mit ausgewogenen
zivilen, polizeilichen und militärischen Mitteln zu unterstützen und dabei be-
sonderes Augenmerk auf die Umsetzung der bei der Londoner Afghanistan-
Konferenz zu präsentierenden Afghan National Development Strategy zu
legen sowie eng mit dem neuen Sonderbeauftragten der UN für Afghanistan
und Leiter von UNAMA, Tom Koenigs, zusammenzuarbeiten;

4. den Ländern gegenüber darauf hinzuwirken, zwangsweise Rückführungen
afghanischer Staatbürger so lange auszusetzen, bis sich die Sicherheitslage
sowie die Menschenrechtssituation in Afghanistan entscheidend verbessert
haben;

5. gegenüber den anderen an ISAF sowie der Operation Enduring Freedom
(OEF) beteiligten Staaten und den afghanischen Sicherheitskräften darauf zu
bestehen, dass beim Kampf gegen Taliban- und Guerillakräfte sämtliche ein-
schlägigen völkerrechtlichen Verträge und Konventionen eingehalten werden;

6. die deutsche Beteiligung an der Verbesserung der Sicherheitslage in Afgha-
nistan gemäß internationalen Vereinbarungen aufrecht zu erhalten und in
diesem Zusammenhang darauf zu bestehen, dass OEF und ISAF nicht zusam-
mengelegt werden;

7. sich bei der afghanischen Regierung und den regionalen Autoritäten dafür
einzusetzen, dass diese entschlossen gegen Drogenanbau und Drogenkrimi-

nalität vorgehen, Anreize zur Umwidmung der Nutzungsflächen ausgebaut

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werden und der Kampf gegen die Profiteure der Drogenökonomie verstärkt
fortgesetzt wird;

8. die Arbeit der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission zur
rechtsstaatlichen Aufklärung und Aufarbeitung von Menschenrechtsverlet-
zungen sowie die vielfältigen Bemühungen um eine Kultur der Toleranz und
Versöhnungsbereitschaft in der afghanischen Gesellschaft weiter zu fördern;

9. dem Deutschen Bundestag zügig das angekündigte Gesamtkonzept vorzule-
gen, aus dem der umfassende Ansatz politischer, wirtschaftlicher, entwick-
lungspolitischer und militärischer Mittel sowie die zwischen den beteiligten
Ressorts eng koordinierten politischen Konzepte hervorgehen, der den Aus-
landseinsatz der Bundeswehr flankiert.

Berlin, den 24. Januar 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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