BT-Drucksache 16/4428

EU-Frühjahrsgipfel nutzen - Klimawandel bremsen und Energiewende vorantreiben

Vom 28. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4428
16. Wahlperiode 28. 02. 2007

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, Hans-Josef Fell,
Dr. Reinhard Loske, Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

EU-Frühjahrsgipfel nutzen – Klimawandel bremsen und Energiewende
vorantreiben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 8. und 9. März 2007 findet der alljährliche EU-Frühjahrsgipfel zur Lissa-
bon-Strategie statt. Mit der Lissabon-Strategie hat sich die Europäische Union
das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Nach der
enttäuschenden Halbzeitbilanz wurde auf dem EU-Frühjahrsgipfel 2005 eine
Neubelebung der Strategie beschlossen. Um ein drohendes Scheitern der Strate-
gie zu verhindern, wurde diese gestrafft und neu fokussiert. Der Europäische Rat
hat im März 2006 eine Schwerpunktsetzung hinsichtlich des Lissabon-Prozesses
vorgenommen. Als eine der vorrangigen Maßnahmen hat der Rat eine „Energie-
politik für Europa“ identifiziert.

Als Ratspräsidentin steht die Bundesregierung in besonderer Verantwortung in
der Europäischen Union; insbesondere auch für die Weiterentwicklung des Lis-
sabon-Prozesses. Die Bundesrepublik Deutschland muss deshalb beim Lissa-
bon-Prozess eine Vorbildrolle anstreben und ein klares Konzept präsentieren,
mit dem sie die Lissabon-Ziele erreichen will. Besonders gilt dies bei der Ener-
gie- und Klimapolitik. Denn der neue Bericht der UNO-Klimaexperten (IPCC-
Bericht), der milde Winter und die heftigen Stürme im Januar sind aktuelle,
deutliche Warnungen an uns alle, dass der Klimawandel nicht mehr auf sich war-
ten lässt, sondern längst Realität geworden ist und sich schneller vollzieht als
bisher vermutet. Der Klimawandel ist eine Folge nicht nachhaltiger Entwick-
lung. Dass wir dies dringend ändern müssen, ist inzwischen allen zumindest
theoretisch klar. Es mangelt aber gravierend an der praktischen Umsetzung. So
wird die nicht nachhaltige Entwicklung noch verstärkt, indem die erneuerte
Lissabon-Strategie primär auf die Pfeiler Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum
konzentriert und die Nachhaltigkeit dabei ausgehebelt wird. Dabei ist die Nach-

haltigkeit seit dem Gipfel von Göteborg von 2001 die dritte gleichberechtigte
Säule der Lissabon-Strategie.

Die EU ist im Energiebereich noch weit von ihrem Ziel der wettbewerbsfähigs-
ten und nachhaltigsten Region der Welt entfernt. Im Gegenteil, nach wie vor gilt
der Energiesektor in vielen Mitgliedstaaten als nationale Schlüsselindustrie, die
es sowohl vor nationalem wie auch vor europäischem Wettbewerb zu schützen
gilt. Außerdem beruht der Löwenanteil der EU-Energieversorgung noch immer

Drucksache 16/4428 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

auf umwelt- und klimaschädlichen fossilen und atomaren Energien, die gleich-
zeitig aufgrund der hohen Importabhängigkeit die Energieversorgungssicherheit
gefährden.

Statt den Vorschlägen des Halbzeitberichtes zur Lissabon-Strategie von Wim
Kok zu folgen, nach denen der Ausbau der europäischen Stärken für Umwelt-
schutztechniken und erneuerbaren Energien forciert werden soll, beharren die
meisten EU-Mitgliedstaaten auf ihren nationalen Energieszenarien, bei denen
die erneuerbaren Energien oft nur eine Feigenblattfunktion übernehmen. Da-
neben gibt es immense Spielräume bei der Energieeffizienz und bei der Energie-
einsparung, welche noch lange nicht ausgeschöpft sind und deren Erschließung
nicht zuletzt aus klimapolitischen Gründen dringend vorangetrieben werden
muss. Atomkraft entfällt dagegen als Lösungsweg. Sie ist gefährlich, teuer und
unbeherrschbar – vor allem in Zeiten globaler Terrorgefahren. Die meisten EU-
Mitgliedstaaten konzentrieren sich zudem darauf, wettbewerbswidrige Schutz-
zäune für die Energiekonzerne zu bauen. Europa braucht aber keine nationalen
oder europäischen Champions, sondern einen funktionierenden Wettbewerb im
Energiesektor. Dies gilt innerhalb der EU, aber auch innerhalb Deutschlands.
Fehlender Wettbewerb beschert den vier Oligopolisten in Deutschland beispiels-
weise milliardenschwere Gewinne und den Bürgerinnen und Bürgern sowie den
Unternehmen überhöhte Strompreise. Die EU hat den Wettbewerb auf dem
Energiesektor durch zwei Liberalisierungsrichtlinien maßgeblich vorangetrie-
ben. Trotzdem gibt es in vielen EU-Ländern noch erhebliche Möglichkeiten,
neuen Wettbewerbern den Marktzutritt zu erschweren. Hier ist die EU gefor-
dert, auch gegen den Widerstand einzelner Mitglieder für faire und einheitliche
Regeln einzutreten.

Die Klimaexperten gehen davon aus, dass die Folgen des Klimawandels be-
herrschbar sind, wenn die Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur auf
maximal 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt wer-
den kann. Dazu müssen die Treibhausgasemissionen deutlich reduziert werden,
d. h. dass die Verbrennung fossiler Energieträger nicht mehr länger die zentrale
Säule der europäischen Energiewirtschaft bleiben kann. In der Stromerzeugung
sowie im Verkehrsbereich ist ein Strategiewechsel dringend erforderlich. Insge-
samt ist es notwendig, dass die EU weg vom Erdöl, Erdgas und der Kohle, also
weg von einer kohlenstoffbasierten Wirtschaft gelangt.

Die EU-Kommission hat in ihrem am 10. Januar 2007 vorgelegten Energiepaket,
das Grundlage der Diskussionen auf dem EU-Frühjahrsgipfel sein wird, das Ziel
der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 2 Grad Celsius gegenüber vorindus-
triellen Werten erneut bestätigt. Sie will die EU zu einer Vorreiterin im Klima-
schutz entwickeln und in internationalen Verpflichtungen erreichen, dass sich
die Industriestaaten auf eine Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen gegen-
über 1990 um 30 Prozent bis 2020 und um 60 bis 80 Prozent bis 2050 verstän-
digen. Darüber hinaus will sie Vorbild dafür sein, dass die wirtschaftliche Ent-
wicklung von Emissionssteigerungen abkoppelt werden kann.

Der Deutsche Bundestag begrüßt die grundsätzliche Bereitschaft der Kommis-
sion, die europäische Energiepolitik den Notwendigkeiten anzupassen, die sich
aus dem Klimawandel ergeben. Allerdings ist das vorgeschlagene, unkonditio-
nierte EU-Reduktionsziel von mindestens 20 Prozent unzureichend, um eine
überzeugende Vorreiterrolle einzunehmen. Hierfür muss sich die EU ohne wei-
tere Bedingungen zur Übernahme einer Reduktionsverpflichtung von mindes-
tens 30 Prozent bis 2020 gegenüber 1990 bereit erklären, wie dies die Bundes-
regierung in ihrem Programm zur Ratspräsidentschaft selbst gefordert hat, damit
das 2-Grad-Ziel erreicht wird. Mit einer Reduzierung um lediglich 20 Prozent
der Triebhausgasemissionen wird dieses Ziel krachend verfehlt. Da die Räte sich

nicht auf nationale Reduktionsziele einigen konnten, ist davon auszugehen, dass
selbst die völlig unzureichende Reduzierung um 20 Prozent unerreichbar bleibt.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4428

Somit haben die Räte dafür gesorgt, dass Europa seine Rolle als Vorreiter nicht
wahrnimmt.

Die Kommission schlägt zudem in den Bereichen Energieeffizienz, Ausbau der
erneuerbaren Energien und Reduzierung der Emissionen im Verkehrsbereich
unambitionierte Ziele vor und versäumt es, diese mit konkreten Maßnahmen zu
unterlegen. Insgesamt ist das Energiepaket der Kommission noch der bisherigen
Energieerzeugung aus Kohle, Erdgas, Erdöl und Uran verhaftet. Angesichts der
Auseinandersetzungen um die Autoemissionen, den Emissionshandel oder die
Entflechtung der Energieversorgung ist zu befürchten, dass es zu einer weiteren
Abschwächung des Klimaschutzes kommt. Der letzte Energierat hat leider die
Chance vertan, ambitionierte Ziele und konkrete Maßnahmen einzufordern, wie
dies nötig wäre, um das 2-Grad-Ziel einzuhalten. So konnte sich der Rat bei-
spielsweise beim Ausbau der erneuerbaren Energien nicht auf verbindliche Ziele
für jeden Mitgliedstaat einigen. Nur so kann jedoch sichergestellt werden, dass
der geplante Anteil der erneuerbaren Energien von 20 Prozent am Energiemix
auch wirklich erreicht wird.

Energiesicherheit gibt es nicht unilateral, sondern nur multilateral. Die Kommis-
sion hat dies in ihrem Energiepaket richtig aufgeführt. Es ist zentral, dass die EU
und ihre Mitgliedstaaten auch bei Energiefragen mit einer Stimme sprechen, ef-
fiziente Partnerschaften schmieden und hieraus eine zielorientierte Außenpolitik
gestalten. Die EU muss wirksame energiepolitische Beziehungen mit all ihren
internationalen Partnern aufbauen. Dabei dürfen energiepolitische Interessen je-
doch nicht vor Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit treten.

Die Bundesregierung steht während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in
der Verantwortung, den Klimaschutz und die Energiewende voranzutreiben.
Dazu müssen die erneuerbaren Energien ausgebaut, die effiziente Nutzung von
Energie erhöht und ihre Einsparung verstärkt werden. Der Ausstoß an Treib-
hausgasen muss drastisch reduziert werden. Der Frühjahrsgipfel muss sich zu
klaren Zielen und verbindlichen Maßnahmen bekennen und den Kampf gegen
den Klimawandel zum zentralen Schwerpunkt der gesamten EU-Politik machen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung in der Zeit ihrer Rats-
präsidentschaft auf,

1. bis 2020 eine neue Energiekultur in Europa zu entwickeln mit dem Ziel, Eu-
ropa zur energieeffizientesten Region der Welt zu machen und die Umstel-
lung auf erneuerbare Energien auf den Weg zu bringen;

2. trotz der notwendigen Fokussierung des Lissabon-Prozesses nicht die EU-
Nachhaltigkeitsstrategie sowie die soziale Dimension Europas zu vernachläs-
sigen. Der Deutsche Bundestag widerspricht ausdrücklich der These, wonach
die Entwicklung der sozialen und ökologischen Dimension Europas das Er-
reichen der Lissabon-Ziele gefährde. Nur eine nachhaltige Entwicklung führt
dauerhaft zu qualitativ besseren Lebensverhältnissen in Europa;

3. sich dafür einzusetzen, dass sich die EU verbindlich zu einer Reduktion der
Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um mindestens 30 Prozent bis 2020
und um mindestens 80 Prozent bis 2050 verpflichtet. Deutschland muss sich,
um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, zu einer Reduzierung um min-
destens 40 Prozent bis 2020 verpflichten;

4. sich dafür einzusetzen, dass durch verbindliche und konkrete Maßnahmen
die Energieeffizienz gesteigert wird, um das Ziel zu erreichen, den Primär-
energieverbrauch bis 2020 um 20 Prozent zu senken;

5. sich dafür einzusetzen, den europäischen Emissionshandel über 2012 hinaus

ambitioniert und klimapolitisch wirkungsvoll weiterzuentwickeln. Dazu ge-
hören eine vollständige Versteigerung der Emissionsrechte und die Auf-
nahme weiterer Treibhausgase und Bereiche;

Drucksache 16/4428 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

6. sich dafür einzusetzen, dass für den CO2-Ausstoß von PKW ab 2012 eine
gesetzliche Obergrenze von 120g CO2/km verbindlich festgelegt wird. Die-
ser Grenzwert muss ohne additive Maßnahmen gelten, d. h. nur durch effi-
zientere Motoren erreicht werden. Ab 2020 muss diese Obergrenze auf 80 g
CO2/km gesenkt werden;

7. sich dafür einzusetzen, dass mit der Umsetzung der Ökodesign-Richtlinie
ambitionierte Mindeststandards für den Energieverbrauch von Elektrogerä-
ten EU-weit vorgeschrieben werden, der Top-Runner-Ansatz verstärkt zum
Zuge kommt und nur noch effiziente Stand-by-Schaltungen (Stromver-
brauch weniger als 1 Watt) zugelassen werden;

8. sich dafür einzusetzen, dass der Stromverbrauch von Elektrogeräten und der
CO2-Ausstoß von PKW klar gekennzeichnet und regelmäßig aktualisiert
wird;

9. sich dafür einzusetzen, dass die EU eine Kerosinsteuer einführt und alle
Subventionen für den Flugverkehr abgeschafft werden;

10. sich dafür einzusetzen, dass der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission
zur Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel klimapolitisch
verbessert wird. Dazu gehören die vollständige Auktionierung der Emis-
sionsrechte und die Einbeziehung sämtlicher Flüge, die auf EU-Flughäfen
starten oder landen;

11. sich dafür einzusetzen, dass durch konkrete Maßnahmen, wie die Förderung
des schienengebundenen Personen- und Güterverkehres, Strategien zur Ver-
kehrsvermeidung und zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs, die Emissio-
nen im Verkehrsbereich deutlich gesenkt werden und technologische Ent-
wicklungen für Nullemissionsverkehr, wie ökostrombetriebene Fahrzeuge,
angestoßen werden;

12. sich dafür einzusetzen, dass die für die Energieerzeugung benötigte Bio-
masse nachhaltig und klimaneutral, unter Wahrung der Menschenrechte und
der Artenvielfalt, sozialverträglich, naturschutzgerecht und unter Beach-
tung des Vorrangs des Nahrungsmittelanbaus produziert werden;

13. sich dafür einzusetzen, dass bis zum Jahr 2020 25 Prozent des Energiebe-
darfs aus erneuerbaren Energien erzeugt werden;

14. sich dafür einzusetzen, dass europaweite Maßnahmen für den schnellen
Ausbau der erneuerbaren Energien durchgesetzt werden; dazu gehören ins-
besondere die Durchsetzung von Einspeisevergütungen für erneuerbaren
Strom in allen Mitgliedstaaten, eine Wärmerichtlinie, eine europäische
Biogasstrategie, eine Biokraftstoffrichtlinie, die auf nachhaltige Erzeugung
Wert legt, eine europaweite Strategie für nachwachsende Rohstoffe in der
Chemie, eine Stärkung der Forschungsmittel für erneuerbare Energien über
die Ansätze des 7. FRP hinaus, sowie ein Europäischer Vertrag Erneuerbare
Energien (EURENEW) unter Vermeidung der Demokratiedefizite, wie sie
der EURATOM-Vertrag hat;

15. sich dafür einzusetzen, dass ein realer Energiebinnenmarkt geschaffen wird,
der neuen Marktteilnehmerinnen und Markteilnehmern und neuen Techno-
logien einen fairen und diskriminierungsfreien Marktzutritt ermöglicht;

16. anzuerkennen, dass die Atomenergie kein geeignetes Mittel gegen den Kli-
mawandel darstellt, klarzustellen, dass dies eine teure, risikoreiche Techno-
logie ist, die nur einen geringen Beitrag zur Primärenergieversorgung leistet,
und sich folgerichtig gegen die weitere Nutzung der Atomenergie auszu-
sprechen. Dies bedeutet auch eine Beendigung des EURATOM-Vertrages;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/4428

17. sich im Rahmen des neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens
mit Russland, im Rahmen der Beziehungen zu den Staaten Zentralasiens so-
wie im Rahmen der Nachbarschaftspolitik für eine nachhaltige Energiepoli-
tik einzusetzen;

18. sich dafür einzusetzen, dass die Strom- und Gasnetze auf Übertragungs-
netzebene eigentumsrechtlich entflechtet werden und dass der grenzüber-
schreitende Ausbau der Energienetze nicht behindert wird, sondern auch für
den internationalen Transport von erneuerbaren Energien z. B. aus Nord-
afrika ertüchtigt werden.

Berlin, den 28. Februar 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.