BT-Drucksache 16/4221

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD -16/3100, 16/4200- Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG)

Vom 1. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4221
16. Wahlperiode 01. 02. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze,
Katja Kipping, Monika Knoche, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Dr. Ilja Seifert, Jörn Wunderlich, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
– Drucksachen 16/3100, 16/4200 –

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung“ (GKV-WSG) ist nicht geeignet, die bestehenden Probleme im Ge-
sundheitswesen zu lösen. Die Bundesregierung ist an der Aufgabe gescheitert,
eine nachhaltige Reform des Gesundheitssystems in die Wege zu leiten. Das
Gesetz bringt keine Verbreiterung der Einnahmebasis und beinhaltet auch keine
geeigneten Maßnahmen, die Ausgabenentwicklung zu verbessern. Die vorgese-
henen Strukturveränderungen führen nicht zu einer qualitativen Verbesserung
der Krankenversorgung.

Der bereits mit dem GMG 2004 eingeleitete Prozess der Entsolidarisierung und
Privatisierung im Gesundheitswesen wird mit diesem Gesetz konsequent fort-
gesetzt. Durch die Einführung der Kopfpauschale werden ausschließlich Ver-
sicherte belastet, durch die Einführung der Teilkasko für Gesunde die Kranken.
Bisher gut funktionierende Versorgungsstrukturen werden bei der Umsetzung
des GKV-WSG gefährdet. Leidtragende sind die Patientinnen und Patienten, die
Versicherten, die im Gesundheitsbereich Tätigen, die Krankenhäuser und die
Versorgerkassen. Die von den Krankenhäusern eingeforderte Einsparsumme in
Höhe von 380 Mio. Euro führt zu einer Verschlechterung der Qualität und der
wohnortnahen Versorgung. Durch diese Maßnahme wird der Privatisierung
deutscher Krankenhäuser weiter Vorschub geleistet.
Durch den Pseudowettbewerb unter den Hilfsmittelanbietern werden die mittel-
ständischen Handwerksunternehmen vom Markt verdrängt und durch Groß-
anbieter und monopolartige Strukturen ersetzt. Trotz der jetzt zurückgestellten
doch weiterhin beabsichtigten Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen und Auf-
hebung der Verbandshaftung können viele der Versorgerkassen in den Konkurs

Drucksache 16/4221 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

getrieben und abhängige Leistungserbringer mit in den Strudel gerissen werden,
was zum Zusammenbruch ganzer Versorgungsstrukturen führen kann.

Durch die verfehlte Politik der Bundesregierung steigen die Kosten im Gesund-
heitswesen weiter: Allein die Erhöhung der Mehrwertsteuer belastet die Kassen
mit knapp 1 Mrd. Euro, der reduzierte Bundeszuschuss schlägt mit einem Ein-
nahmeverlust von 1,7 Mrd. Euro zu Buche. Hinzu kommen die Verpflichtungen
der Kassen, sich in der Regel bis Ende 2007 zu entschulden, wofür weitere 2 bis
4 Mrd. Euro benötigt werden. Der überwiegende Teil der Krankenkassen hat
deshalb zum 1. Januar 2007 die Beiträge stark anheben müssen, teilweise auf
über 16 Prozentpunkte. Sollten sich europarechtliche Bedenken bestätigen, wür-
de der Sonderstatus der öffentlich-rechtlichen Krankenversicherung gefährdet
und die Krankenkassen nach den EU-Regelungen zu Unternehmen im Wettbe-
werb werden. Durch die in diesem Fall erfolgende Anwendung des Kartellrechts
sowie die Streichung von bislang gewährten Vorteilen beim Beitragseinzug und
der Steuerbefreiung kämen auf die Krankenkassen zusätzliche Mehrausgaben in
zweistelliger Milliardenhöhe zu.

Das GKV-WSG löst nicht eines der im Koalitionsvertrag genannten Ziele und
trägt nicht dazu bei, eine solide und nachhaltige Reform des Gesundheitssystems
herzustellen. Für eine umfassende und sozial gerechte Gesundheitsversorgung
bedarf es eines Neuanfangs. Allerdings birgt die mit den Privatisierungstenden-
zen eingeleitete Transformation der gesetzlichen Krankenkassen zu dem Wett-
bewerbsrecht unterliegenden Unternehmen die Gefahr einer durch das Europa-
recht bedingten unumkehrbaren Aufhebung des Sonderstatus als Körperschaf-
ten öffentlichen Rechts. Die spätere Einführung einer solidarischen Bürge-
rinnen- und Bürgerversicherung stünde dann vor unüberwindbaren Hürden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. durch die Einführung einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversiche-
rung die Grundlage für eine solide und nachhaltige Finanzierung der gesetz-
lichen Krankenversicherung zu schaffen,

2. Krankenversicherungspflicht für alle in Deutschland lebenden Menschen
einzuführen,

3. die Beitragsbemessungsgrenze schnellstmöglich in einem ersten Schritt auf
das Niveau in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben,

4. die Finanzierungsgrundlage der GKV mittelfristig durch eine komplette
Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze zu stärken und eine gerechte
Bemessung der Beitragszahlung entsprechend der finanziellen Leistungs-
fähigkeit aller Versicherten herzustellen,

5. Regelungen vorzubereiten, mit denen sämtliche Einkommen für die Bei-
tragserhebung herangezogen werden können,

6. den privaten Krankenversicherungsschutz nur noch für Zusatzleistungen
vorzusehen,

7. eine paritätische Finanzierung der GKV-Ausgaben wieder herzustellen und
zu gewährleisten,

8. die unsozialen Zuzahlungsregelungen zu beenden und Leistungsausgren-
zungen zurückzunehmen,

9. keinen Zusatzbeitrag (Kopfpauschale) für die Versicherten einzuführen,

10. die finanzielle Besserstellung von gesunden gegenüber kranken Versicher-
ten zu verhindern und keine diskriminierenden Wahltarife einzuführen,
11. den Bundeszuschuss (aus der Tabaksteuer) in Höhe von 4,2 Mrd. Euro bei-
zubehalten,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4221

12. die Krankenkassenbeiträge für ALG-II-Empfänger und Mini-Jobber aus
dem Bundeshaushalt auf ein kostendeckendes Niveau zu erhöhen,

13. die Verbandshaftung der Kassen beizubehalten,

14. einen umfassenden morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich ein-
zuführen,

15. an der dualen Krankenhausfinanzierung festzuhalten und den Abbau des
Investitionsstaus zu bewirken sowie

16. eine Positivliste der verschreibungsfähigen Arzneimittel zu erstellen.

Berlin, den 31. Januar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Noch verfügt dieses Land über ein umfassendes Gesundheitssystem, das allen
Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung weitgehenden Schutz im
Krankheitsfall gewährleistet. Dieses System muss erhalten, ausgebaut sowie
solidarisch und gerecht gestaltet werden. Die Bundesbürger sind nach Umfragen
mehrheitlich für eine Zusammenlegung von privater und gesetzlicher Kranken-
versicherung in einer solidarischen Bürgerversicherung.

Im Vordergrund jeder Reformanstrengung müssen die Versicherten stehen. Für
sie ist der Erhalt des Versicherungsschutzes im Krankheitsfall wesentlicher
Bestandteil des Sozialstaates. Der Sozialabbau, der bereits mit Hartz IV und der
Rente ab 67 um sich greift, muss im Gesundheitsbereich gestoppt werden. Dazu
gehört, dass sich Arbeitgeber, Privatversicherte und der Staat in angemessener
Art und Weise an den entstehenden Kosten beteiligen. Deshalb müssen die
Arbeitgeber auch weiterhin paritätisch zur Finanzierung der Versicherungs-
beiträge herangezogen werden. Private Krankenversicherungen werden mittel-
fristig auf die Möglichkeit, Zusatzversicherungen anzubieten, beschränkt. Pri-
vatversicherte müssen sofort die Möglichkeit erhalten, unter Mitnahme ihrer
Altersrückstellungen in die GKV zurückzukehren. Der Staat schließlich muss
die Krankenkassen entlasten, indem er die Kosten für so genannte versiche-
rungsfremde Leistungen übernimmt und kostendeckende Beiträge für Beziehe-
rinnen und Bezieher von Transferleistungen abführt.

Mit dem „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung“ werden die hier skizzierten Ziele nicht annähernd erreicht. Stattdes-
sen betreiben die Koalitionäre den Beginn der Abwicklung der gesetzlichen
Krankenversicherung. Deshalb sollen die Kassen insolvenzfähig gemacht wer-
den. Zusatz- oder Sondertarife stellen Elemente der Privatwirtschaft dar. Aber
statt zu einer Kostensenkung führen sie zur Entsolidarisierung der Versicherten-
gemeinschaft. Durch die Einführung des Schuldprinzips werden Kosten auf die
Kranken abgewälzt. Funktionierende wohnortnahe Versorgungsnetze werden
zerschlagen. Letztendlich entlässt die Bundesregierung wie auch ihre Vorgänge-
rin die Arbeitgeber aus ihrer Beteiligung an der Kostenentwicklung in der GKV.
Mit dem GKV-WSG vollzieht die Bundesregierung die Entsolidarisierung und
Privatisierung im Gesundheitssystem. Indizien dafür sind das Einfrieren der
Arbeitgeberanteile, der Einführung von Kopfpauschalen und Elementen der
Privaten Krankenversicherung in die GKV.

Drucksache 16/4221 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Es gäbe durchaus Gründe, einen Fonds im Rahmen einer Bürgerversicherung
einzuführen, dann müssten allerdings auch weitere Elemente einfließen: Eine
Festlegung auf einen umfassenden krankheitsorientierten Risikostrukturaus-
gleich (morbiRSA), die Einbeziehung der Privatversicherten, Kontrahierungs-
zwang für alle Kassen, Beitragserhebung auf alle Einkommen und eine anteilige
Steuerfinanzierung für die so genannten versicherungsfremden Leistungen.

All diese Punkte sind im „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetz-
lichen Krankenversicherung“ nicht zu finden. So wird der Fonds lediglich dazu
dienen, die staatliche Einflussnahme zu erhöhen, die Selbstverwaltung zu be-
schneiden und die Insolvenzfähigkeit von Krankenkassen zu ermöglichen. Ohne
Risikostrukturausgleich ist an einen fairen Wettbewerb nicht zu denken; viele
Kassen werden deshalb in die Pleite getrieben. Für die Versicherten bedeutet es
wieder einmal, höhere Beiträge zu zahlen, für die sie dann weniger Leistungen
erhalten. Bereits heute zahlen die Versicherten rund 60 Prozent aller Kosten im
Gesundheitswesen, die Arbeitgeber, eigentlich paritätischer Partner, zahlen
knapp 40 Prozent. Durch den Fonds kann der Arbeitgeberanteil beliebig fest-
geschrieben werden, für die zusätzlichen Kosten werden ausschließlich die Ver-
sicherten zur Kasse gebeten.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.