BT-Drucksache 16/4218

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD -16/3100, 16/4200- Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG)

Vom 31. Januar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4218
16. Wahlperiode 31. 01. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, Kerstin Andreae,
Dr. Thea Dückert, Anja Hajduk, Christine Scheel, Dr. Gerhard Schick
Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD
– Drucksachen 16/3100, 16/4200 –

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In ihrer Koalitionsvereinbarung haben CDU, CSU und SPD angekündigt, ein
Konzept für eine nachhaltige und gerechte Finanzierung des Gesundheitswesens
zu entwickeln, innerhalb des Gesundheitssystems den Wettbewerb um Qualität
und Wirtschaftlichkeit zu intensivieren und die Lohnnebenkosten dauerhaft
unter 40 Prozent zu senken.

Der vorliegende Gesetzentwurf setzt keine dieser Ankündigungen um. Die
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird weder gerech-
ter noch nachhaltiger. Stattdessen kommt es lediglich zu einer ebenso aufwän-
digen wie nutzlosen Veränderung der Finanzierungsströme. Der unzureichende
Wettbewerb um Qualität und Wirtschaftlichkeit wird durch die Pläne der
Koalition nicht stärker, sondern schwächer werden. Und statt zu einer Senkung
kommt es zu einer deutlichen Anhebung der Beitragslasten. Weitere Beitrags-
satzsteigerungen in den nächsten Jahren sind aufgrund des Reformversagens der
Koalition bereits vorprogrammiert.

Im Einzelnen:

1. Bei den Finanzierungsgrundlagen der GKV bleibt fast alles beim Alten. Die
Krankenversicherungsbeiträge sind auch weiterhin einseitig an die Arbeits-

einkommen aus abhängiger Beschäftigung angebunden. Besserverdienende,
Beamte und Selbstständige müssen sich nicht am Solidarausgleich beteiligen.
Vermögenseinkommen werden nicht in die Beitragsbemessung einbezogen.
Die Steuerzuschüsse an die GKV werden gegenüber dem in 2006 erreichten
Stand sogar reduziert. Für die ab 2009 angekündigte Anhebung des Bundes-
zuschusses gibt es weder konkrete Zahlen noch eine Gegenfinanzierung. Der
vorgesehene Gesundheitsfonds wird zu zusätzlichem Bürokratieaufwand

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führen, die Akteure des Gesundheitswesens mit seiner Vorbereitung über
Jahre hinweg beschäftigen, sowie der Politik eine ständige Debatte abver-
langen. Damit geht wertvolle Zeit verloren, die für eine wirklich nachhaltige
Reform des Gesundheitswesens gebraucht würde.

2. Der vorgesehene Zusatzbeitrag, den die Krankenkassen erheben sollen, die
mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommen, wird zu
deutlich höheren Belastungen für die Versicherten führen. Vorgesehen ist,
dass ab 2010 bis zu 5 Prozent der Leistungsausgaben der GKV über diese
„kleine Kopfpauschale“ finanziert werden. Dies würde – nach dem heutigen
Ausgabenniveau – einer Zusatzbelastung der Versicherten von rund 7,5 Mrd.
Euro entsprechen. Zudem ist damit zu rechnen, dass bei jedem Anstieg der
Krankenversicherungsausgaben die Forderung laut wird, den Finanzierungs-
anteil der Zusatzbeiträge an den Gesamtausgaben der GKV weiter anzu-
heben. Darüber hinaus wird der Zusatzbeitrag auch zu erheblichen Wett-
bewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen führen. Die Koalitions-
parteien haben vereinbart, dass der Zusatzbeitrag nicht mehr als 1 Prozent
des beitragspflichtigen Einkommens des Versicherten betragen darf. An diese
Grenze werden Versicherte mit geringem Einkommen sehr schnell stoßen. So
haben Studien des AOK-Bundesverbandes ergeben, dass bereits bei einem
Zusatzbeitrag in Höhe von monatlich 10 Euro ca. 60 v. H. aller AOK-Mitglie-
der von der Härtefallregelung betroffen wären. Für Krankenkassen mit vielen
gering verdienenden Versicherten heißt das: Sie müssen weit überdurch-
schnittliche Zusatzbeiträge erheben, um die infolge der Belastungsober-
grenze entstehenden Beitragsausfälle durch die Belastung ihrer gut verdie-
nenden Mitglieder auszugleichen. Die Höhe des Zusatzbeitrages wird damit
nicht von der Wirtschaftlichkeit einer Krankenkasse, sondern von ihrer Mit-
gliederstruktur abhängig sein. Dies führt zu eklatanten Wettbewerbsverzer-
rungen zwischen den Krankenkassen. Darüber hinaus wird aber auch die Ab-
wanderung freiwillig gesetzlich Krankenversicherter in die private Kranken-
versicherung (PKV) deutlich zunehmen. Zu den rund 300 000 Personen, die
heute jährlich die gesetzlichen Kassen in Richtung PKV verlassen, wird eine
unübersehbare Zahl hinzukommen.

3. Die Beitragssätze der Kassen explodieren. Schon zum Jahresanfang ist der
durchschnittliche Beitragssatz um 0,6 Prozentpunkte gestiegen. Im Jahres-
verlauf ist mit einem Anstieg um mindestens weitere 0,1 Prozentpunkte zu
rechnen. Diese Anhebungen hat die Bundesregierung mit ihrer Steuerpolitik
weitgehend selbst verursacht. Durch die Kürzung des erst mit der letzten Ge-
sundheitsreform eingeführten Bundeszuschusses für Leistungen bei Schwan-
gerschaft und Mutterschaft sowie die steigenden Arznei- und Hilfsmittelkos-
ten infolge der Mehrwertsteueranhebung werden die Krankenkassen erheb-
lich belastet. Und auch in den kommenden Jahren werden die Beiträge weiter
steigen, da die große Koalition keine wirksamen Reformmaßnahmen vor-
sieht, um die wachsenden Einnahmenprobleme der GKV zu beheben. So ist
allein bis 2009 ein Anstieg des Krankenversicherungsbeitrags auf bis zu
16 Prozent zu erwarten.

4. Durch die Reform entsteht nicht mehr, sondern weniger Wettbewerb im Ge-
sundheitswesen. Um die Belastungen der Versicherten und Patienten infolge
des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts begrenzen
zu können, ist mehr Wettbewerb erforderlich. Krankenkassen, Ärzte, Apothe-
ken und Krankenhäuser müssen untereinander um mehr Qualität und Wirt-
schaftlichkeit konkurrieren können. Doch dafür finden sich im GKV-WSG
allenfalls zaghafte Ansätze. Auch weiterhin wird der Regelfall so aussehen,
dass Kartelle auf Kassen- und auf Anbieterseite miteinander Kollektiv-
verträge aushandeln, die der einzelnen Kasse und dem einzelnen Arzt kaum

Anreize für mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit bieten. Und auch an den
zunftartigen Strukturen im Apothekenwesen soll sich nach den Plänen der

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Koalition nichts ändern. Geplant ist weiter die Ablösung der heutigen kassen-
individuellen Beitragssätze durch einen staatlich festgelegten Einheitsbei-
trag. Damit wird der Preiswettbewerb zwischen den Krankenkassen künftig
nur noch über die Zusatzbeiträge ausgetragen werden. Da deren Höhe aber
maßgeblich von den durchschnittlichen Einkommen der jeweiligen Kassen-
mitglieder abhängig ist, wird von einem fairen Preiswettbewerb weniger
denn je die Rede sein können.

5. Statt die wachsenden Lasten auf mehr Schultern zu verteilen, hält die Bun-
desregierung an der Privilegierung von Privatversicherten und Vermögensbe-
sitzern fest. Es bleibt bei der sozial ungerechten und gesamtwirtschaftlich un-
vernünftigen Zweiteilung in gesetzliche und private Krankenvollversiche-
rung. Damit bleiben die Privatversicherten auch weiterhin unter sich und
müssen sich nicht am Solidarausgleich beteiligen. Die für die PKV vorge-
sehenen Solidarelemente sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zwar ist es
begrüßenswert, dass ehemalige Privatversicherte, die ihren Krankenversiche-
rungsschutz verloren haben, über einen gkv-ähnlichen Basistarif in die PKV
zurückkehren zu können. Allerdings ist auf Druck der Union und der unions-
regierten Bundesländer der Zugang zu diesem Schutztarif gegenüber den
ursprünglichen Plänen wieder stark eingeschränkt worden. Jederzeit dem
Basistarif beitreten können, sollen neben den ehemaligen, nicht mehr ver-
sicherten Privatversicherten nur noch Privatversicherte über 55. Dies ent-
spricht aber weitgehend dem bisherigen Rechtsstand. Denn bereits heute
können Privatversicherte über 55 in den Standardtarif wechseln, der in seinen
Konditionen (keine Risikozuschläge, Leistungskatalog angelehnt an die
GKV, Prämie maximal in Höhe des GKV-Höchstbeitrags) weitgehend dem
künftigen Basistarif entspricht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung zurückzuziehen und stattdessen einen Gesetzentwurf vorzulegen,
der folgenden Anforderungen gerecht wird:

1. GKV und PKV werden in einer Bürgerversicherung zusammengeführt.
Dadurch werden alle Bevölkerungsgruppen in den Solidarausgleich ein-
bezogen. Zudem entsteht eine gemeinsame Wettbewerbsordnung für alle
Krankenversicherer.

2. Im Rahmen der Bürgerversicherung werden Beiträge auf alle Einkom-
mensarten erhoben. Durch die Ausweitung der Finanzierungsbasis und
die Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen wird die Finan-
zierung der Krankenversicherung auf eine sichere Basis gestellt.

3. Durch die Weiterentwicklung der Familienmitversicherung werden Ge-
rechtigkeitsdefizite behoben und unnötige Beitragsausfälle vermieden.
Nicht erwerbstätige Ehegattinnen und -gatten, die keine Kinder erziehen
oder Angehörige pflegen, werden in die Beitragspflicht einbezogen.

4. Durch die morbiditätsorientierte Weiterentwicklung des Risikostruktur-
ausgleichs wird gewährleistet, dass der Kassenwettbewerb vor allem den
Kranken zugute kommt und nicht zur Risikoselektion führt. Sachfremde
Regelungen, die die Reichweite und Zielgenauigkeit des morbiditäts-
orientierten Risikostrukturausgleich begrenzen, sind zu vermeiden.

5. In allen Leistungsbereichen werden die Rahmenbedingungen für einen an
Qualität und Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Wettbewerb geschaffen. Zu
diesem Zweck sind Kollektivverträge und Kontrahierungspflichten weit-
gehend durch Einzelverträge und Preisverhandlungen abzulösen. Dabei

müssen für die Krankenkassen und auch für die Anbieter von Gesundheits-
leistungen die Regelungen des Wettbewerbs- und Kartellrechts gelten.

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6. Durch die Zulassung von Gruppenverträgen zwischen Selbsthilfeorga-
nisationen und Krankenkassen wird die Organisation der Gesundheits-
versorgung stärker auf die Bedürfnisse insbesondere chronisch kranker
Patientinnen und Patienten ausgerichtet.

7. In die Arbeit des Gemeinsamen Bundesausschusses sind neben Ärztinnen
und Ärzten auch andere Gesundheitsberufe einzubeziehen.

III. Darüber hinaus fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf,
noch in diesem Jahr den Entwurf für ein Präventionsgesetz vorzulegen.

Berlin, den 31. Januar 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Zu Abschnitt II

Zu Nummer 1

Durch die Zweiteilung des deutschen Krankenversicherungssystems in GKV
und PKV werden ausgerechnet die wirtschaftlich leistungsfähigsten und im
Durchschnitt auch gesündesten Bevölkerungsgruppen nicht am Solidaraus-
gleich beteiligt. Darüber hinaus ist die Teilung des Krankenversicherungsmarkts
auch aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive verfehlt. Inzwischen vertre-
ten neben vielen namhaften Gesundheitsökonomen auch die Sachverständigen-
räte der Bundesregierung für Gesundheit und Wirtschaft die Auffassung, dass
durch die Trennung von GKV und PKV falsche Anreize für die Krankenver-
sicherer gesetzt und ihr Wettbewerb untereinander behindert wird. Außerdem
werden so die Wahlmöglichkeiten der Krankenversicherten beschränkt. Durch
die Zusammenführung von GKV und PKV in einer Bürgerversicherung würden
diese Gerechtigkeitsdefizite behoben und eine gemeinsame Wettbewerbsord-
nung für alle Krankenversicherer geschaffen.

Zu Nummer 2

Die GKV hat eine strukturelle Einnahmeschwäche. Die Einkünfte aus sozial-
versicherungspflichtiger Beschäftigung machen aus arbeitsmarktbezogenen und
demografischen Gründen einen immer geringeren Anteil des gesellschaftlichen
Einkommens aus. Die Beitragssatzsteigerungen der letzten 15 Jahre sind maß-
geblich durch diese Entwicklung verursacht. Weitere Beitragssatzsteigerungen
sind vorprogrammiert, wenn sich an dieser Art der Beitragsbemessung nichts
ändert. Für eine Stabilisierung der Beiträge – und damit auch der Arbeitskosten –
ist daher eine Ausweitung der Beitragsbemessungsbasis auf alle Einkunftsarten
des Einkommenssteuerrechts erforderlich. Damit würden auch Gerechtigkeits-
defizite der heutigen Beitragsbemessung beseitigt. Bisher ist die Beitragsbelas-
tung eines Versicherten nicht nur von der Höhe seines Einkommens, sondern
auch von der Art und Zusammensetzung seiner Einkommensquellen abhängig.
Bezieherinnen und Bezieher von Vermögenseinkommen werden gegenüber
„nur“ Lohnabhängigen begünstigt. Darüber hinaus erbringt die GKV eine Viel-
zahl von versicherungsfremden Leistungen. Diese sind durch Steuermittel zu
finanzieren. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde mit der Gesundheits-

reform 2004 beschlossen und umgesetzt. Die im GKV-WSG vorgesehenen
Regelungen fallen deutlich hinter den bereits erreichten Stand zurück. Im

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/4218

Zusammenspiel mit dem bereits verabschiedeten Haushaltsbegleitgesetz wird
der Steuerzuschuss an die GKV von 4,2 Mrd. Euro im Jahr 2006, auf 2,5 Mrd.
Euro in diesem und im kommenden Jahr abgesenkt. Zwar soll der Bundeszu-
schuss ab 2009 jährlich um 1,5 Mrd. Euro steigen. Doch gibt es dafür keinerlei
Gegenfinanzierung.

Zu Nummer 3

Für die Beitragsfreiheit nicht erwerbstätiger Ehegatten, die keine Kinder er-
ziehen oder Angehörige pflegen, gibt es keinen überzeugenden gesellschafts-
politischen Grund. Ihre Einbeziehung in die Beitragspflicht ist deshalb geboten.
Durch eine angemessene Ausgestaltung – z. B. in Form eines negativen Ehe-
gattensplittings – ist zu gewährleisten, dass keine hohen Zusatzbelastungen für
Haushalte mit geringen oder durchschnittlichen Einkommen entstehen.

Zu Nummer 4

Die bereits von der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2001 beschlossene
Berücksichtigung des tatsächlichen Gesundheitszustandes aller Versicherten in-
nerhalb des Risikostrukturausgleichs ist bislang rechtswidrig von der Koalition
nicht umgesetzt worden. Inzwischen scheinen aber auch die Spitzen der CDU
eingesehen zu haben, dass sie mit ihrer Blockade gegenüber dem morbiditäts-
orientierten Risikostrukturausgleich den Kassenwettbewerb in eine gesamtwirt-
schaftlich und gesundheitspolitisch falsche Richtung lenken. Allerdings sind im
GKV-WSG verschiedene Regelungen vorgesehen, die die Reichweite des
„Morbi-RSA“ deutlich begrenzen und zu einem erheblichen Verwaltungsauf-
wand führen werden. Diese Regelungen sind in der Sache nicht zu begründen
und dienen ausschließlich der Gesichtswahrung von CDU und CSU.

So ist die vorgesehene Begrenzung des „Morbi-RSA“ auf 50 bis 80 Krankheiten
verfehlt. Durch die notwendige Festlegung der zu berücksichtigenden Krankhei-
ten wird der administrative Aufwand deutlich steigen. Vor allem aber wird damit
zwischen chronischen Krankheiten erster und zweiter Klasse unterschieden.
Auch die ergänzende Regelung, dass nur solche Krankheiten berücksichtigt
werden, deren Kosten mindestens 50 Prozent oberhalb der Durchschnittausga-
ben je Versichertem liegen, ist abzulehnen. Sie benachteiligt vor allem mehrfach
erkrankte (multimorbide) Patientinnen und Patienten. Deren verschiedene Er-
krankungen entfalten ihre besonderen Belastungswirkungen durch ihr gemein-
sames Auftreten. Die Leistungsausgaben der einzelnen Krankheiten können
aber jeweils für sich unter dem vorgesehenen 50-Prozent-Schwellenwert liegen.
Benachteiligt werden ferner jüngere Patientinnen und Patienten. Denn auch bei
chronisch Kranken ist die Höhe der Leistungsausgaben stark vom Lebensalter
der Betroffenen abhängig. Werden die vorgesehenen Begrenzungen und
Schwellenwerte tatsächlich beschlossen, werden die Kassen auch weiterhin
massive Anreize zur Risikoselektion haben.

Darüber hinaus ist die auf Druck unionsregierter Länder zustande gekommene
Konvergenzklausel, nach der die Gesamtbelastung der in einem Bundesland tä-
tigen Kassen infolge des neuen RSA jährlich um nicht mehr als 100 Mio. Euro
steigen darf, weder zielführend noch umsetzbar. Sie missachtet das BVerfG-
Urteil von 2004, dass den Charakter der GKV als bundesweiter Solidargemein-
schaft hervorkehrt und deshalb eine Regionalisierung des RSA ausschließt.
Außerdem ist sie auch nicht praktikabel. So müssten der alte und der neue RSA
parallel berechnet werden, um regionale Ent- und Belastungseffekte zuverlässig
ermitteln zu können. Dies würde nicht nur zu einem eklatanten bürokratischen
Aufwand führen, sondern wäre auch nicht möglich, da aufgrund der Änderung
des RSA und der für bundesweite Kassen nicht vorliegenden Regionaldaten, die

notwendigen Datengrundlagen für die Berechnung des „Alt-RSA“ fehlen wür-
den.

Drucksache 16/4218 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Zu Nummer 5

Die im Gesetzesentwurf vorgesehene Ausweitung von Wahlmöglichkeiten zwi-
schen verschiedenen Tarifen auch auf Pflichtversicherte ist grundsätzlich zu
begrüßen. Insbesondere der auf Anstoß von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ins
Gesetz aufgenommene Wahltarif für solche anthroposophischen, homöopathi-
schen und pflanzlichen Arzneimittel, die bisher nicht zum Leistungskatalog der
GKV gehören, wird den Bedürfnissen vieler Versicherten entgegenkommen und
den Krankenkassen ein zusätzliches Wettbewerbsinstrument bieten.

Allerdings sind in einem System mit solidarischer Finanzierung, das für jeden
den Zugang zur medizinisch notwendigen Gesundheitsversorgung sicherstellen
soll, Differenzierungsmöglichkeiten beim Umfang des Leistungsangebots nur
sehr eingeschränkt möglich. Dreh- und Angelpunkt eines intensiven Kassen-
wettbewerbs muss daher neben der „Kundenorientierung“ und der Beitragshöhe
die Art der Versorgungsangebote sein. Hier haben die Krankenkassen aber bis-
her viel zu wenig Handlungsspielräume.

Um dies zu ändern, sind individuelle Vertragsbeziehungen zwischen Kranken-
kassen und Leistungserbringern bzw. Gruppen von Leistungserbringern notwen-
dig. Erste Bewegungsspielräume sind hier mit der Einführung und Weiterent-
wicklung der Integrationsversorgung durch die beiden letzten Gesundheitsrefor-
men entstanden. Allerdings sind die Einzelverträge trotz der hohen Aufmerk-
samkeit, die sie unter den Akteuren des Gesundheitswesens gefunden haben,
auch weiterhin nur eine Randerscheinung. Dieses wird sich auch nicht ändern,
wenn es bei den im GKV-WSG enthaltenen Regelungen bleibt. Da die Kranken-
kassen auch weiterhin Kollektivverträge vereinbaren müssen, werden niederge-
lassene Ärztinnen und Ärzte nur dann zum Abschluss von Einzelverträgen bereit
sein, wenn sie mit zusätzlichen Leistungen bzw. Abrechnungsmöglichkeiten
verbunden sind. So aber werden Einzelverträge statt die Qualität und Wirtschaft-
lichkeit zu fördern, vor allem zu zusätzlichen Ausgaben für die GKV führen. Er-
forderlich ist stattdessen ein umfassendes Konzept für die wettbewerbliche Wei-
terentwicklung der Vertragsbeziehungen in der GKV.

Zu einem solchen Konzept gehört, dass im Bereich der ambulanten ärztlichen
Versorgung die bisherigen zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Ver-
einigungen abgeschlossenen Gesamtverträge flächendeckend durch Einzelver-
träge zwischen Krankenkassen und Ärzten bzw. Gruppen von Ärzten abgelöst
werden. Dieses Ziel hatten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die SPD bereits
mit der Gesundheitsreform 2004 verfolgt. Die ambulante fachärztliche Versor-
gung sollte sukzessive auf ein Einzelvertragssystem umgestellt werden. Dieser
weitgehende Ansatz scheiterte damals am Widerstand der CDU/CSU.

Im Arzneimittelbereich wird deutlich mehr Wettbewerb nur dann entstehen,
wenn die strukturellen Hürden für mehr Preisverhandlungen zwischen Kranken-
kassen und Pharmaindustrie endlich fallen. Bisher müssen die Krankenkassen
alle rezeptpflichtigen Arzneimittel erstatten, wenn sie vom Arzt verschrieben
werden – und zwar auch dann, wenn es ein Arzneimittel mit demselben Wirk-
stoff gibt, das sehr viel preisgünstiger ist. Durch diese Kontrahierungspflicht
sind die Anreize für die Kassen und für die Hersteller, Preisverhandlungen mit-
einander zu führen, sehr begrenzt. Eine Alternative zur Kontrahierungspflicht
könnte darin bestehen, eine verbindliche Wirkstoffliste zu erstellen, für die die
Krankenkassen Arzneimittel bereitstellen müssen. Die Krankenkassen könnten
dann ausschreiben und die für die Versorgung ihrer Mitglieder notwendigen
Arzneimittel bei einzelnen Herstellern einkaufen.

Darüber hinaus müssen endlich die zunftartigen Strukturen im Arzneimittelhan-
del überwunden werden. Bisher dürfen Apothekerinnen und Apotheker neben
ihrer Hauptapotheke nur drei Filialapotheken besitzen. Außerdem ist der Betrieb

von Apotheken nur Apothekern gestattet. Durch diese Wettbewerbsbeschrän-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/4218

kungen werden erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven verschenkt. Wesentliche
Schritte zu wirtschaftlicheren Betriebsstrukturen und auch zu einer besseren
Verhandlungsposition der Apotheken gegenüber den Pharmaunternehmen wer-
den erst durch eine Aufhebung des Mehrbesitz- und des Fremdbesitzverbots ent-
stehen.

Damit sich der Wettbewerb entfalten kann und keine neuen Oligopole auf Kas-
sen- und Anbieterseite entstehen, sind die Regelungen des Kartell- und Wettbe-
werbsrechts anzuwenden. Damit wird auch die Wettbewerbsposition kleiner und
mittlerer Kassen und Anbieter geschützt. Zudem ist der an verschiedenen Stellen
des SGB V verankerte Grundsatz aufzuheben, wonach in Vertragsbeziehungen
alle Kassen „einheitlich und gemeinsam“ zu handeln haben. Verträge sollen
künftig auf Kassen- und auf Anbieterseite individuell abgeschlossen werden.

Zu Nummer 6

Durch die Gesundheitsreform 2004 wurden die Beteiligungsmöglichkeiten von
Selbsthilfeorganisationen und Patientenverbänden an der Steuerung des Ge-
sundheitswesens wesentlich verbessert. Diese Beteiligungsmöglichkeiten müs-
sen weiterentwickelt und vor allem auf Länderebene weiter konkretisiert wer-
den. Dazu kommen muss aber auch, dass Selbsthilfezusammenschlüssen ermög-
licht wird, mit den Krankenkassen Gruppenverträge mit speziellen – auf ihre
jeweilige Krankheit ausgerichteten – Versorgungsprogrammen zu vereinbaren,
die sie ihren Mitgliedern anbieten können. Durch solche Gruppenverträge wür-
den mehr Wettbewerb und mehr Patientenorientierung miteinander verbunden.
Außerdem würde die Betroffenenkompetenz der Selbsthilfezusammenschlüsse
für die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen genutzt. Damit solch ein
innovatives Vertragsinstrument von den Krankenkassen aber auch angenommen
wird, ist die Einführung eines „Morbi-RSA“ unerlässlich. Andernfalls müssten
die Kassen befürchten, mit solchen Verträgen „schlechte Risiken“ anzulocken,
die zu hohen Leistungsausgaben führen, ohne dass es dafür einen Ausgleich
gibt.

Zu Nummer 7

Die demografische Entwicklung und die damit verbundene Veränderung des
Krankheitspanoramas haben dazu geführt, dass viele Gesundheitsberufe ihr Tä-
tigkeitsprofil erweitert und z. T. durch eine Akademisierung der Ausbildung ver-
tieft haben. Für sachgerechte und legitimierte Entscheidungen im Gemeinsamen
Bundesausschuss ist die Einbringung der Sachkompetenz dieser Gesundheitsbe-
rufe über das bisher praktizierte Anhörungsverfahren hinaus notwendig. Neben
einer sektorübergreifenden Ausrichtung sollte der Gemeinsame Bundesaus-
schuss konsequent den Gesichtspunkt der Multidisziplinarität berücksichtigen,
um somit zum einen die Legitimation der Entscheidungen zu stärken und zum
anderen die Bedingungen des Transfers der Entscheidungen in die Praxis zu ver-
bessern.

Zu Abschnitt III

Im Zuge des demografischen Wandels nimmt der Anteil chronisch-degenerati-
ver Erkrankungen ständig zu. Bereits heute verursachen diese mehr als zwei
Drittel der Ausgaben der Krankenversorgung. Diese Erkrankungen sind aber in
erheblichen Umfang vermeidbar. Fachleute gehen davon aus, dass durch bloße
Verhaltensänderungen mittelfristig etwa ein Viertel der chronisch-degenerativen
Krankheiten vermieden werden könnten. Gesundheitsförderliche Veränderun-
gen in den Lebenswelten der besonders Gefährdeten könnten diesen Anteil noch
weit höher ausfallen lassen. Investitionen in die Prävention und die Gesund-

heitsförderung sind eine notwendige Vorraussetzung dafür, dass unser Gesund-
heitswesen die künftigen Herausforderungen bewältigen kann.

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