BT-Drucksache 16/4171

Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der EU im 21. Jahrhundert

Vom 31. Januar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4171
16. Wahlperiode 31. 01. 2007

Antrag
der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour,
Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy,
Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Claudia Roth (Augsburg) und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Berliner Erklärung – Werte und Aufgaben der EU im 21. Jahrhundert

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europäische Union (EU) feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Mit ihr
feiert eine weltweit einzigartige Erfolgsgeschichte Geburtstag, die für Frieden,
Sicherheit und Wohlstand steht. Sie hat ihre Mitgliedstaaten von der Bedrohung
durch Krieg befreit, die sie Jahrhunderte lang überschattete. Sie ermöglicht eine
neuartige Zusammenarbeit in immer mehr Politikbereichen innerhalb der EU
und mit ihren Nachbarn. Sie hat althergebrachte Grenzen überwunden und eine
neue Mobilität ermöglicht. Mit ihr wurde ein einzigartiger Raum des Friedens,
der Demokratie und der Menschenrechte geschaffen.

Ihr jüngster Erfolg ist ein weiterer Schritt zur Überwindung der Teilung Euro-
pas in Ost und West: Mit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien in diesem
Jahr wurde die so genannte Osterweiterung um insgesamt zwölf mittel- und
südosteuropäische Staaten vollendet. Dies ist ein bedeutender Beitrag in Rich-
tung einer gesamteuropäischen Union, die ihrem Namen auch gerecht wird.

Für viele sind diese Erfolge der Europäischen Union glücklicherweise selbst-
verständlich geworden. Aber die EU hat nicht nur in der Vergangenheit wich-
tige Herausforderungen gemeistert, sie ist auch zentral für die Gestaltung der
Zukunft. Internationale Herausforderungen wie eine sozial gerechte und nach-
haltige Gestaltung der Globalisierung, die Bekämpfung des Klimawandels und
des Terrorismus können nur noch gemeinsam gemeistert werden. Die europäi-
schen Staaten können zusammen mit einer weitaus stärkeren Stimme in der
Welt sprechen, als sie dies alleine könnten. Im Rahmen der EU kann die Gestal-
tungskraft für eine solidarischere, nachhaltigere, friedlichere und stabilere Welt
entwickelt werden. Die EU kann durch ihre Verfasstheit zu einem Vorbild für
diejenigen werden, die eine Alternative zu einer ausschließlich finanzmarktori-
entierten Globalisierung suchen.
Ob die EU aber diesen Herausforderungen gerecht werden kann, hängt vor
allem vom politischen Willen der Mitgliedstaaten und von den dringend not-
wendigen Reformen am Gefüge der EU ab. Absolut entscheidend für die
Handlungsfähigkeit der EU im Innern und nach außen sind die Einführung von
Entscheidungen per Mehrheit im Rat, die Stärkung der parlamentarischen Legi-
timation und der dadurch reduzierte Gebrauch nationaler Vetos.

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Der derzeit gültige Vertrag von Nizza bereitet die EU nur unzureichend auf die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vor. Der Vertrag über eine Verfassung
für Europa bietet eine gute Grundlage für diese Reformen und für die Stärkung
und Entwicklung des Integrationsprozesses. Denn er birgt ein gemeinsames
Wertefundament, das die Ziele und Grundwerte der Union beschreibt und auf
dem sich die EU als politisches Subjekt bilden kann. Er schreibt einen Katalog
der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger fest. Er stärkt die Parlamente und
die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Unionsbürgerinnen und
Unionsbürger. Und er enthält auch eine Reform der Institutionen und Politiken
der EU, die sie entscheidungs- und handlungsfähig erhält und verhindert, dass
aus dem Prozess der Erweiterung eine innere Lähmung der Gemeinschaft ent-
steht.

Nach dem Nein der Franzosen und der Niederländer zum EU-Verfassungsver-
trag darf es keine Renationalisierung des politischen Denkens in der EU geben.
War doch das Nein nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung der euro-
päischen Integration, sondern beruhte auf einem Bündel an Motiven. Es misch-
ten sich Sorgen um die eigene soziale und ökonomische Situation, Gobali-
sierungsängste, Kritik an einzelnen Vorhaben der EU, Furcht vor einer
Erweiterung, Abstrafung nationaler Regierungen sowie die Aufforderung, über
die Inhalte des Verfassungsvertrages weiter nachzudenken.

Anstatt uns davor wegzuducken und in Würdigung der übergroßen Mehrheit
der Mitgliedstaaten, die Ja zum Verfassungsvertrag gesagt haben – zum Teil
ebenfalls in Volksabstimmungen – bedarf es eines neuen Anlaufs für einen
neuen Vertrag. Eine wichtige Weichenstellung hierzu wird die Berliner Erklä-
rung der EU-Staats- und Regierungschefs sein, die am 25. März 2007 feierlich
in Berlin proklamiert werden wird.

Mehr Demokratie und Transparenz in der Europäischen Union

Die europäische Integration wurde bisher sehr stark von den politischen Eliten
in Form reiner Regierungszusammenarbeit vorangetrieben. Daher ist die kon-
krete Ausgestaltung der europäischen Zusammenarbeit für viele Bürgerinnen
und Bürger oft schwer durchschaubar. Es ist notwendig, die politischen Pro-
zesse auf europäischer Ebene öffentlich sichtbar und transparent zu machen.
Den nationalen Parlamenten kommt hier eine wichtige Funktion zu. Nachvoll-
ziehbarkeit und Berechenbarkeit der Verfahren sowie Verantwortlichkeit für
Entscheidungen sind fundamentale Elemente jeder Demokratie. Die Bürgerin-
nen und Bürger wollen schlicht wissen, wer für welche Entscheidung verant-
wortlich ist. Zudem wird eine europäische Öffentlichkeit nur dann geschaffen
werden können, wenn öffentliche Debatten über Alternativen stattfinden und
sich die Bürgerinnen und Bürger über ein Bürgerbegehren direkt an europäi-
scher Politik beteiligen oder mit ihrer Stimme europäische Politik sanktionieren
können.

Es ist kontraproduktiv, dass die Bundesregierung als Ratspräsidentin die in-
transparente Politik vergangener Zeiten wiederholt. So werden weder das Euro-
päische Parlament noch die nationalen Parlamente als Vertreterinnen und Ver-
treter der Bürgerinnen und Bürger in die Erarbeitung der Berliner Erklärung zu
den Werten und Zielen der EU einbezogen.

Wenn also die Bundesregierung den Deutschen Bundestag und insbesondere
seinen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union über den
Verlauf der Konsultationen über die Berliner Erklärung lediglich „unterrichten“
und „informieren“ möchte, verstößt sie damit nicht nur gegen die Aufforderung
der XXXVI. Konferenz der Europaausschüsse (COSAC) vom 19. bis 21. No-
vember 2006, Stellungnahmen der nationalen Parlamente und des Europäi-

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schen Parlaments für die Erarbeitung der Berliner Deklaration einzuholen. Sie
verstößt auch gegen den ursprünglichen Sinn einer solchen Erklärung.

Dasselbe gilt für den Prozess der Erarbeitung eines neuen Verfassungsver-
trages, der zunächst in Regierungshinterzimmern vorbesprochen und anschlie-
ßend in einer genauso undurchsichtigen und wenig Erfolg versprechenden
Regierungskonferenz abgeschlossen werden soll.

Gerade die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich doch vorgenommen, das Ver-
trauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU zu stärken. Eine zentrale Lehre
aus den gescheiterten Verfassungsreferenden ist aber, dass ein Scheitern vor-
programmiert ist, wenn solche zentralen Beschlüsse nur zwischen Regierungs-
chefs ausgehandelt und die Menschen vor vollendete Tatsachen gestellt wer-
den.

Eine solidarische und nachhaltige Europäische Union

Das europäische Gesellschaftsmodell zu sichern und nachhaltig zu modernisie-
ren, ist eine der zentralen Herausforderungen, um das Vertrauen in die Pro-
blemlösungsfähigkeit der EU, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in
die europäische Integration wieder zu stärken. Das europäische Gesellschafts-
modell muss eine Alternative zur ungezügelten Globalisierung aufzeigen.
Deren sozial und ökologisch verheerenden Auswirkungen brauchen politische
Leitplanken. Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss als obligatorische Leitlinie
für eine gemeinsame Sozial- und Wirtschaftspolitik weiter ausgebaut werden.

Die EU muss eine Lebensweise unterstützen, die die Umwelt achtet und das
Bewusstsein fördert, dass Umwelt und Mensch voneinander abhängig sind.
Folgende Prioritäten müssen hierfür gesetzt werden: Versorgung mit Waren und
öffentlichen Dienstleistungen mit hoher Qualität und zu erschwinglichen Prei-
sen, eine nachhaltige europäische Energie- und Klimapolitik, Sicherstellung der
Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Schaffung europäischer Rechte
der Beschäftigten und Förderung transnationaler Tarifverhandlungen.

Das zweifache Nein zur EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden
hat gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur Angst um ihre soziale
und wirtschaftliche Situation haben, sondern dass ihr Vertrauen in die Gestal-
tungskraft der nationalen sowie der europäischen Ebene erschüttert ist. Dieser
Gemengelage müssen wir ein reformiertes europäisches Gesellschaftsmodell
entgegensetzen.

Dabei ist die Frage, ob es in der EU ein, vier oder 27 Gesellschaftsmodelle gibt,
unwichtig. Wichtig ist, dass alle EU-Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene den-
selben Grundbestand an gemeinsamen Werten verfolgen. Diese Werte gilt es,
zu erhalten.

Verantwortungsvolle Partnerin gegenüber den Nachbarstaaten

Durch die Erweiterung dürfen keine neuen eisernen Vorhänge zwischen Europa
und seiner Peripherie entstehen. Denn zum einen stellen einige an die EU gren-
zende Regionen Krisen- und Konfliktherde dar, die unmittelbare Auswirkungen
auf die EU haben können und denen sich die EU nicht durch Abschottung wird
entziehen können. Zum anderen existieren zwischen neuen Mitgliedstaaten und
deren Nachbarn besondere historisch gewachsene Beziehungen. Die Erweite-
rung sollte als Chance erkannt werden, die Nachbarschaftsbeziehungen zu ver-
bessern. Sie darf auf keinen Fall gegen die Vertiefung ausgespielt werden.
Denn Erweiterung und Vertiefung der EU sind keine Alternativen, sondern ge-
hen Hand in Hand.
Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarländern der
EU sollten daher intensiviert werden, verbunden mit der Förderung von Demo-

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kratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in den Regionen. Ebenso
sollte die EU eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung von Fluchtursachen
annehmen sowie verstärkte bildungs- und entwicklungspolitische Anstrengun-
gen in den Nachbarregionen unternehmen. Denn nur eine solche Politik wird
auf lange Sicht die Konfliktpotenziale beseitigen. Eine europäische Perspektive
hat in vielen Ländern dazu geführt, den inneren Demokratisierungsprozess zu
stabilisieren und gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Eine langfristige
Stabilisierung der Nachbarregionen wird ohne nachhaltige Unterstützung der
Zivilgesellschaften nicht möglich sein. Die EU-Politiken müssen auf die Schaf-
fung weiterer regionaler Integrationsräume und interregionale Kooperationen
in den Nachbarregionen ausgerichtet sein. Dies wird zu Frieden und Stabilität
in diesen wichtigen Räumen beitragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung als Ratspräsidentin auf,

1. das Europäische Parlament sowie die nationalen Parlamente wie von der
COSAC gefordert in die Erarbeitung der Berliner Erklärung sowie in die Er-
arbeitung eines neuen Vertragstextes aktiv einzubeziehen,

2. sich bei den anstehenden Verhandlungen über den Verfassungsvertrag für
die Beibehaltung der wesentlichen Neuerungen einzusetzen: Grund-
rechtecharta, Ausweitung der Mehrheitsabstimmungen, Mitentscheidungs-
verfahren als ordentliches Gesetzgebungsverfahren, Unionsbürgerinitiative,
Einführung eines Europäischen Außenministers, Öffentlichkeit der Gesetz-
gebung, klare Kompetenzordnung, Vereinfachung der Rechtsinstrumente
und Verfahren,

3. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass das europäische Gesellschafts-
modell im Rahmen der Lissabon-Strategie, der europäischen Beschäfti-
gungsstrategie, der Methode der offenen Koordinierung, der europäischen
Sozialfonds sowie des Sozialen Dialogs gesichert und nachhaltig moderni-
siert wird,

4. sich für eine nachhaltige europäische Energie- und Klimapolitik mit ver-
bindlichen Ausbauzielen für erneuerbare Energien und die Einsparung der
Treibhausgase um 30 Prozent bis zum Jahr 2020 einzusetzen,

5. sicherzustellen, dass auf EU-Ebene das Prinzip der nachhaltigen Entwick-
lung zur obligatorischen Leitlinie aller EU-Politiken gemacht wird,

6. sich für eine Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehun-
gen zu den EU-Nachbarstaaten einzusetzen und dabei die Zivilgesellschaft
zu unterstützen und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu
fördern,

7. regionale Kooperationsräume in den Nachbarstaaten zu fördern,

8. sich für eine verantwortungsvolle europäische Migrations- und Asylpolitik
einzusetzen.

Berlin, den 31. Januar 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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