BT-Drucksache 16/3908

Verdeckte Armut bekämpfen - Rechte wahrnehmen, unabhängige Sozialberatung ausweiten und Selbsthilfeinitiativen unterstützen

Vom 18. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3908
16. Wahlperiode 18. 12. 2006

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Verdeckte Armut bekämpfen – Rechte wahrnehmen, unabhängige Sozialberatung
ausweiten und Selbsthilfeinitiativen unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mit der Einführung von Hartz IV – der Grundsicherung für Arbeitsuchende
im SGB II – sind die Rechtspositionen der Leistungsberechtigten verschlechtert
worden. Die Reform hat im Sinne des stärkeren Forderns die Anforderungen an
die Hilfesuchenden angehoben und die Sanktionsmöglichkeiten der Behörden
gestärkt. Auf eine Ausweitung einklagbarer Rechte – das Fördern – wird dage-
gen verzichtet. Der Bedarf an Beratung, Unterstützung und Hilfe für Hilfe-
suchende ist gestiegen, ein entsprechendes Dienstleistungsangebot wird aber
nicht vorgehalten.

2. Unverändert gibt es zahlreiche Leistungsberechtigte, die ihre Ansprüche nicht
in Anspruch nehmen. Die gesetzlichen Änderungen seit Inkrafttreten des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) sind nicht geeignet, das hohe Ausmaß der
Nichtinanspruchnahme von berechtigten Leistungen zu reduzieren. Im Gegenteil
erhöhen die jüngsten Neuerungen – insbesondere die Sanktionsausweitungen
und die geplante Ausweitung des Einsatzes von Außendienstmitarbeiterinnen/
-mitarbeitern („Sozialdetektive“) – die Stigmatisierung der Leistungsberechtig-
ten. Das Angebot von Sofortmaßnahmen – wie z. B. Ein-Euro-Jobs – dient häufig
nicht der Eingliederung in den Arbeitsmarkt, sondern der Abschreckung von
potenziellen Antragstellerinnen/Antragstellern.

3. Eine Beratung der Antragsteller ausschließlich durch die zuständige Behörde
ist problematisch, da diese als Kostenstelle keine Anreize für eine möglicher-
weise kostenträchtige Rechtsberatung hat. Die Beratungsleistungen stehen häu-
fig unter dem Druck Haushaltsmittel einzusparen. Der jeweils zuständige „Case-
Manager“ kann mit seiner Anweisungs- und Sanktionsmacht gegenüber dem
Hilfebedürftigen keine Basis für eine unabhängige und vertrauensvolle soziale
Beratung aufbauen.
4. Die unzureichende Beratung über Rechte und Pflichten von Antragstellerin-
nen/Antragstellern führt zu einer zunehmenden Zahl von Widersprüchen und
Klagen vor den Sozialgerichten. Die Organisation und Finanzierung einer von
den Behörden unabhängigen Beratung sorgt ebenso wie die Unterstützung von
Selbsthilfeinitiativen von Betroffenen für eine höhere Rechtssicherheit und
einen erhöhten Rechtsschutz für die Betroffenen.

Drucksache 16/3908 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

1. eine Studie zu verdeckter Armut im SGB II in Auftrag zu geben, um das tat-
sächliche Ausmaß der Nichtinanspruchnahme von Leistungsansprüchen aufzu-
decken;

2. eine Politik der Entstigmatisierung von SGB-II-Leistungsbezug zu verfolgen.
Dazu zählt sowohl die Verpflichtung aller zuständigen Leistungsstellen Unter-
stützung suchende Personen sachgerecht über ihre Rechte aufzuklären (§§ 14
und 17 SGB I) sowie die Unterlassung sämtlicher Maßnahmen, deren Ziel oder
unbeabsichtigter Effekt eine Abschreckung von Leistungsberechtigten ist. Die
Zielvereinbarungen zwischen BMAS und Bundesagentur für Agentur sind ent-
sprechend zu überarbeiten und um das Ziel einer effektiven Realisierung aller
Leistungsansprüche zu ergänzen;

3. die Rechtspositionen von Antragstellenden in Bezug auf Beratung zu stärken.
Die §§ 14 und 17 SGB I sind zu einem Rechtsanspruch auf ergänzende Bera-
tung, persönliche Hilfe und Unterstützung bei einer unabhängigen geeigneten
Stelle, Einrichtung der freien Wohlfahrtspflege oder bei Beratungsstellen von
berufsständischen Vereinigungen und Verbänden auf dem Gebiet des Sozial-
rechts, insbesondere auch von Vereinigungen der Sozialleistungsbeziehenden zu
erweitern. Entsprechende Regelungen sind zur Klarstellung auch in das SGB II
und XII einzufügen;

4. den Aufbau und Erhalt der notwendigen Infrastruktur für unabhängige Bera-
tung und Unterstützung organisatorisch und finanziell zu unterstützen. Das Ziel
ist der flächendeckende Aufbau einer von den Kostenträgern unabhängigen Be-
ratungsinfrastruktur zur Ergänzung, Erweiterung, Entlastung und Kontrolle der
Beratungsleistungen der amtlichen Leistungsstellen;

5. Organisationen und Vereinigungen von Betroffenen anzuerkennen und einen
bundesweiten gesetzlichen Rahmen für die finanzielle und organisatorische För-
derung von Selbsthilfeaktivitäten in den Bereichen SGB II und SGB XII vorzu-
legen;

6. auf alle Maßnahmen zu verzichten, die die Gewährleistung und faktische Ein-
klagbarkeit von sozialen Rechten weiter einschränkt; insbesondere die Bundes-
ratsinitiative zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes mit der Einführung von
Gebühren ist mit Nachdruck abzulehnen;

7. die Kontrollkompetenzen von Vereinigungen von Sozialleistungsbeziehenden
durch die Einbeziehung in die Verwaltungsstrukturen auf den verschiedenen ad-
ministrativen Ebenen zu nutzen;

8. sozialpolitischen Verbänden und Organisationen von Betroffenen ein autono-
mes Klagerecht einzuräumen, um Rechtstreitigkeiten zu klären.

Berlin, den 18. Dezember 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

1. Entgegen der, auch von der Bundesregierung vielfach verbreiteten, Ansicht
liegt ein großes Problem in der Praxis der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nicht in dem Missbrauch von Sozialleistungen (siehe Bundesagentur für Arbeit:

Arbeitmarkt 2005, Nürnberg 2006), sondern in der unzureichenden Realisierung
von Sozialleistungsansprüchen. Irene Becker und Richard Hauser haben bereits

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3908

2005 in einer Studie herausgearbeitet, dass in der alten Sozialhilfe (Hilfe zum
Lebensunterhalt) eine Dunkelziffer von 0,6 bis 1,0 zu schätzen ist, d. h. auf jede/n
Leistungsbeziehenden kommt ca. ein/e Anspruchsberechtigte/r, deren Ansprü-
che nicht realisiert werden (Becker/Hauser (2005): Dunkelziffer der Armut.
Ausmaß und Ursachen der Nichtinanspruchnahme zustehender Sozialhilfeleis-
tungen. Berlin). Eine jüngere Studie von Irene Becker (Armut in Deutschland:
Bevölkerungsgruppen unterhalb der Alg-II-Grenze) bestätigt ein hohes Ausmaß
nicht realisierter Ansprüche, insbesondere unter Erwerbstätigen („Working
poor“) und Alleinerziehenden. Nach den Kalkulationen der Wissenschaftlerin
beziehen statt ca. 5 Millionen berechtigter Bedarfsgemeinschaften im Mai 2006
lediglich 4,1 Millionen Bedarfsgemeinschaften Leistungen nach dem SGB II.
Die Bundesregierung bezweifelt zwar die konkreten Zahlen der Studie, akzep-
tiert aber, dass die in der Studie „aufgezeigten Tendenzen grundsätzlich zutref-
fen“. Eine gewisse verdeckte Armut – so die Bundesregierung weiter – „lässt
sich schon deshalb nicht vermeiden, weil es in Deutschland viele Bürger gibt,
die einen Bezug von Sozialleistungen vermeiden wollen und dafür auch gerin-
gere Einkommen aus Erwerbstätigkeit sowie aus vorrangigen öffentlichen und
privaten Transfers für sich und ihre Familie akzeptieren.“ (Bundestagsdruck-
sache 16/3274). Die Bundesregierung sieht daher auch keinen Handlungsbedarf.
Die Bundesregierung ist daher gefordert, den Sachverhalt der verdeckten Armut
und deren Gründe konkreter analysieren zu lassen, um Zweifel an den bestehen-
den Schätzungen auszuräumen.

2. Während der Bundesregierung sicherlich zugestimmt werden kann, dass die
meisten Menschen einen Bezug von Sozialleistungen vermeiden möchten, in-
dem sie Arbeiten mit Existenz sichernden Entgelten ausüben, widerspricht die
Aussage, dass die Menschen freiwillig auf ihnen zustehenden Leistungen ver-
zichten, den Ergebnissen der zitierten Studie. Nach Aussagen von Irene Becker
sind die beiden wesentlichen Faktoren, die eine Nichtinanspruchnahme von
Leistungen erklären, Stigmatisierung des Leistungsbezugs als auch mangelnde
Kenntnisse der Rechtslage. An beiden Punkten muss eine Politik ansetzen, die
verdeckte Armut bekämpfen will.

Eine Ursache für die Stigmatisierung des Leistungsbezugs findet sich in Aus-
richtung der aktuellen Arbeitsmarktpolitik auf Ausgabenbegrenzung, die sich in
den jüngsten Änderungen des SGB II (insbesondere das Fortentwicklungsge-
setz) widerspiegeln. Änderungen im Fortentwicklungsgesetz haben offensicht-
lich die Funktion Leistungsberechtigte abzuschrecken; so heißt es beispiels-
weise in der offiziellen Begründung zum SGB-II-Fortentwicklungsgesetz: „Die
frühzeitige Unterbreitung von Eingliederungsangeboten ist ein geeignetes Mit-
tel, Hilfebedürftigkeit zu vermeiden … sowie die Bereitschaft des Hilfesuchen-
den zur Arbeitsaufnahme zu überprüfen.“ (Bundestagsdrucksache 16/1410, Be-
gründung zu Nummer 13). Örtliche Träger des SGB II scheinen in diesem Sinne
unmittelbare Eingliederungsangebote bewusst als Mittel zur Abschreckung
von Hilfeberechtigten einzusetzen. In einem ähnlichen Sinne wirken die von
dem BMAS vorgeschlagenen, aber bis heute nicht kontrahierten Zielvereinba-
rungen: Positiv bewertet wird in den Zielvereinbarungen unter der Überschrift
„Verringerung der Hilfebedürftigkeit“ die Reduktion von passiven Leistungen –
Reduktion von passiven Leistungen lässt sich aber auch durch Abschreckung
erreichen. Ein Handeln der lokalen Behörden in diesen Sinn muss unterbunden
werden. Unter der Überschrift „Sicherung des Lebensunterhalts“ wird nicht auf
Maßnahmen zur Vermeidung von Nichtinanspruchnahme eingegangen, sondern
lediglich auf die rechtlich korrekte und zügige Abwicklung von Anträgen
(Bundesagentur für Arbeit (2006): SGB II – Sozialgesetzbuch Zweites Buch.
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Jahresbericht 2005. Zahlen, Daten, Fakten.
Nürnberg). Die Institutionen und Politiken im Bereich des SGB II sind so um-

zugestalten, dass sie leistungsberechtigte Personen nicht abschrecken; das Ver-
ständnis der Sozialleistung als Bürgerrecht ist zu fördern. Wesentliche Elemente

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einer diskriminierungsfreien Politik gegenüber den betroffenen Menschen fin-
den sich in dem Antrag „Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit – Hartz
IV überwinden (Bundestagsdrucksache 16/997).

3. bis 7. Die Position der Personen, die ihre Leistungsansprüche realisieren wol-
len, müssen gegenüber den zuständigen Leistungsstellen gestärkt werden, damit
die potenziell Berechtigten über ihre Rechte und Pflichten systematisch und
unabhängig informiert werden. Notwendig ist daher ein zu stärkender Rechts-
anspruch auf Beratung gegenüber den Behörden, insbesondere aber die Er-
möglichung unabhängiger Beratung. Die entsprechenden Beratungsstellen sind
organisatorisch wie finanziell ebenso zu fördern wie der weitere Aufbau neuer
Beratungsstellen. Insbesondere sind hier Organisationen und Vereinigungen der
Selbsthilfe zu unterstützen. Die fehlende Bereitstellung unabhängiger Beratung
führt auf Seiten der Betroffenen zu Abschreckung von Leistungsberechtigten so-
wie massiver Rechtsunsicherheit, die häufig in Klagen münden. Allein in den
ersten acht Monaten dieses Jahres wurden insgesamt 60 000 Klagen bei den
Sozialgerichten eingereicht. Insgesamt 65 Revisionen sind derzeit beim Bundes-
sozialgericht anhängig. Der Aufbau von unabhängigen Beratungsstellen fördert
die Realisierung von Rechtsansprüchen und Rechtssicherheit der Betroffenen
und ist daher in der Lage, die Vielzahl von anhängigen Klagen an den Sozialge-
richten zu reduzieren. Auf alle Maßnahmen, die die Rechtsposition oder Klage-
rechte von Leistungsbezieherinnen/Leistungsbeziehern reduzieren, ist zu ver-
zichten. Dies gilt insbesondere für Änderungsvorschläge, die in dem Sozialge-
richtsgesetz eine Gebühr einführen wollen, die auch SGB-II-Bezieherinnen und
-Bezieher zahlen sollen oder eine Einschränkung der Berufungsmöglichkeit vor
Sozialgerichten vorsehen (Bundestagsdrucksache 16/1028, Bundesratsdruck-
sache 34/05 und 684/06).

8. Organisationen und Vereinigungen von Sozialleistungsbezieherinnen/-bezie-
hern verfügen über spezifische Kenntnisse der sozialen Lage der Betroffenen,
die genutzt werden sollten durch die Einbeziehung dieser Gruppen und Organi-
sation in die jeweilige Verwaltungseinheit. Zusätzlich gewährleistet die Ein-
beziehung dieser Gruppen eine effektive Kontrolle des Verwaltungshandelns auf
seine Rechtmäßigkeit.

9. Um die Herstellung von Rechtssicherheit in strittigen Punkten nicht nur ein-
zelnen Betroffen aufzubürden, ist in das Sozialgerichtsgesetz ein Verbandskla-
gerecht für sozialpolitische Organisationen oder Selbsthilfevereinigungen in das
Sozialgerichtsgesetz aufzunehmen.

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