BT-Drucksache 16/3547

Fahrplan zur Wiederbelebung des Friedensprozesses im Nahen Osten nach der Resolution 1701 (2006) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 11. August 2006

Vom 22. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3547
16. Wahlperiode 22. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Fritz Kuhn,
Jürgen Trittin, Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Ute Koczy,
Winfried Nachtwei, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Fahrplan zur Wiederbelebung des Friedensprozesses im Nahen Osten
nach der Resolution 1701 (2006) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
vom 11. August 2006

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Gewalt und Gegengewalt erschüttern den Nahen Osten nun schon seit Jahren.
Seit der Ermordung von Jitzchak Rabin und dem Scheitern von Camp David
scheint die Situation immer aussichtsloser zu werden. Dabei ist zumindest die
Antwort auf die Zukunft des palästinensischen und des jüdischen Volkes klar:
Es muss zwei Staaten geben, die lebensfähig sind und sich gegenseitig aner-
kennen. Eine solche Lösung könnte den Weg bereiten für weitere Schritte der
Befriedung in der Region.

Mit dem UNIFIL-Mandat nach dem Krieg zwischen der Hisbollah und Israel
ergibt sich eine neue Chance auf notwendige Verständigungen in der Region.
Die internationale Gemeinschaft darf deswegen nicht bei militärischen Maß-
nahmen stehen bleiben, sondern sollte sehr entschieden zu neuen politischen
Initiativen finden.

2. Grundbedingung für einen Erfolg der UNIFIL-Mission im Libanon, an der
die Bundesregierung mit Seestreitkräften beteiligt ist, ist ein inklusiver poli-
tischer Prozess im Nahen Osten und die Ingangsetzung eines umfassenden
Friedensprozesses. Dazu gehören aktive und rasche Schritte zur Stabili-
sierung im Libanon sowie ein realistischer Fahrplan für Fortschritte zur
Lösung der Konflikte in der Region. Das Fenster für entsprechende Maßnah-
men ist nach dem jüngsten Krieg auch nach Einschätzung der Akteure in der
Region selbst aufgrund der instabilen Situation eng und zeitlich begrenzt.
Dies zeigt sich aktuell in der Destabilisierung der libanesischen Regierung
durch den Rückzug der schiitischen Minister von Amal und der Hisbollah.
Gleichzeitig hat sich die Hisbollah nach eigenen Angaben wieder aufge-

rüstet. Die Fragilität der aktuellen Situation unterstreichen aber auch die
andauernden Verletzungen der UN-Resolution 1701 durch Israel. Dessen
Überflüge über libanesischem Hoheitsgebiet haben sich gegenüber der Vor-
kriegszeit sogar gesteigert. Durch die Teilnahme an UNIFIL zur Sicherung
der Waffenruhe und Stabilisierung des Libanon liegt es in europäischer und
deutscher Mitverantwortung, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen

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und aktiv den politischen Fahrplan zu gestalten. Dies ist auch eine Schlüssel-
frage für die Sicherheit der eingesetzten UNIFIL-Soldaten.

3. Die bisherigen Instrumente und Pläne zur Lösung des zentralen Konfliktes
zwischen Israel und den Palästinensern sowie zur Beilegung regionaler Ge-
gensätze müssen wieder belebt und entscheidend ergänzt werden. Das bishe-
rige Nahostquartett muss noch in diesem Jahr reaktiviert werden. Es sollte
auch den Dialog mit für den Friedensprozess zentralen arabischen Staaten
(Ägypten als Friedensvertragspartner seit 1978, Saudi-Arabien als Autor der
arabischen Initiative von 2002) bzw. der Arabischen Liga vertiefen. Das
Quartett muss dann einen konkreten Fahrplan erarbeiten und die Feder-
führung bei der Umsetzung übernehmen.

4. Der israelisch-palästinensische Kernkonflikt schadet nachhaltig dem Ge-
samtklima in der Region, behindert Wege zu einer regionalen Friedenslösung
und ist Hemmschuh für Reformen. Direkte Verhandlungen zwischen den
Konfliktparteien und Umsetzung von Prinzipien der Roadmap sind dringend
notwendig. Dazu zählen eine Lösung der Geisel- und Gefangenenfragen, die
konsequente Durchsetzung einer Waffenruhe auf beiden Seiten, ein Ende
terroristischer Gewalt gegen Israel, wie einer unverhältnismäßigen Kriegs-
führung letztlich zu Lasten der palästinensischen Zivilbevölkerung, die
Anerkennung des Existenzrechtes des Staates Israel und ein beiderseitiges
Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Regelung; sowie ein sofortiger Siedlungsstopp,
eine Wiederaufnahme der Zahlungen der von Israel einbehaltenen Steuerein-
nahmen wie der internationalen Hilfen etwa der EU an eine zukünftige, den
internationalen Abkommen verpflichteten Regierung der nationalen Einheit
und die Gewährleistung von Zugang und Bewegungsfreiheit in Gaza und
Westbank. Letztlich muss in Verhandlungen der israelische Rückzug aus dem
Westjordanland inklusive eines möglichen Gebietsaustausches geregelt
werden.

5. Ein Schlüsselstaat im regionalen Prozess ist Syrien. Die bisherige Isolations-
politik konnte keine konstruktivere Politik Syriens erzwingen, die syrische
Führung hat im Gegenteil das Bündnis mit Iran vertieft. Ebenso hat die
bisherige Isolation Syriens nicht zu einem Aufbrechen des diktatorischen
politischen Systems, zur Umsetzung innerer Reformen und einem Ende der
Unterstützung radikaler Kräfte (z. B. radikaler Hamasflügel in Damaskus,
militanter Arm Hisbollahs) geführt. Deshalb besteht die Notwendigkeit eines
neuen Ansatzes von direkten Gesprächen. Dazu bedarf es einer Konsens-
bildung innerhalb der EU und des Nahostquartetts sowie der Überzeugung
der israelischen Regierung vom Nutzen dieser Strategie. Dies hat zur Voraus-
setzung, dass Syrien in diesem Prozess konstruktiv agiert und die libane-
sische Unabhängigkeit respektiert.

6. Der Konflikt um das iranische Atomprogramm sowie die Unterstützung von
Kräften wie die Hisbollah durch den Iran erschweren eine Lösung. Eine
militärische Motivation des iranischen Atomprogramms kann bisher nicht
ausgeschlossen werden. Eine iranische Atombombe hätte einen regionalen
Rüstungswettlauf zur Folge und wäre ein Albtraum nicht nur für die regio-
nale Sicherheit. Die internationale Gemeinschaft muss auf dem Verhand-
lungsweg größte Anstrengungen unternehmen, damit Iran sein Atom-
programm unter internationale Kontrolle stellt. Dafür müssen Iran im Gegen-
zug weitreichende Kooperationsangebote gemacht werden. Eine konstruk-
tive Rolle Irans – etwa bei der Stabilisierung des durch die US-Intervention
mehr und mehr zerfallenden Iraks – hätte aufgrund der zunehmenden regio-
nalen Bedeutung das Potential, zu regionaler Stabilität und Deeskalation ent-
scheidend beizutragen. Die schweren Menschenrechtsverletzungen im Iran

und die Vernichtungsdrohungen gegen Israel müssen beendet werden.

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7. Entschlossene und multilaterale Diplomatie sind die Grundbedingung für
regionale Perspektiven. Der internationalen Gemeinschaft kommt hohe Ver-
antwortung bei der Verrauensbildung in der Region und der Überzeugung
aller Akteure vom Nutzen einer umfassenden Friedenslösung zu. Das betrifft
die EU und besonders die Bundesregierung, die bei allen Konfliktparteien in
der Region hohes Ansehen genießt. Es gilt nun, endgültig die verfehlte
Politik der Isolation im Nahen Osten zu beenden und Verhandlungsmechanis-
men und direkte Gespräche zwischen den Konfliktparteien in Gang zu setzen.

8. Eine neue umfassende Roadmap (comprehensive roadmap) für eine regio-
nale Friedenslösung im Nahen Osten sollte folgende Schritte beinhalten:

● konsequente Stabilisierung des Libanon und Unterstützung des innerliba-
nesischen Dialogs, um den Erfolg von Resolution 1701 und von UNIFIL
zu sichern. Hier ist die Transformation der unter iranischem Einfluss ste-
henden Hisbollah zu einer rein libanesischen und rein politischen Kraft
zentrales Projekt. Für die Entwaffnung der Hisbollah ist der nationale
Dialog der libanesischen Parteien von zentraler Bedeutung. Er muss dar-
über hinaus zur grundlegenden Reform und Stabilisierung des politischen
Systems führen. Bis dahin müssen die libanesische Regierung und die
libanesischen Sicherheitskräfte durch die internationale Gemeinschaft
gestärkt werden. Die anhaltenden Verletzungen des Waffenstillstands-
abkommens destabilisieren die libanesische Regierung. Sie müssen umge-
hend beendet werden. Die libanesische Regierung und die libanesischen
Sicherheitskräfte müssen durch die internationale Gemeinschaft gestärkt
werden, effizient die Grenze zu Syrien zu überwachen. Das Problem der
Shebaa-Farmen kann gelöst werden. In einer ersten Stufe sollte das Gebiet
unter VN-Kontrolle gestellt werden, zu Beginn eines israelisch-syrisch-
libanesischen Ausgleichs muss Syrien die bereits mündlich erklärte liba-
nesische Hoheit über die Shebaa-Farmen formal anerkennen und Israel
einer Übergabe an die libanesische Regierung zustimmen;

● Fortschritte auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung Israel und Palästina
durch Umsetzung von Elementen der (alten) Roadmap. Unabhängig von
innenpolitischen Entwicklungen in Israel und Palästina sollte das Quartett
darauf drängen, dass auf beiden Seiten die notwendigen Anforderungen
eingelöst werden. Versäumnisse der Gegenseite dürfen nicht als Ausrede
gelten, auf eigene Schritte zu verzichten. Direkte Gespräche politischer
Führer müssen auch gegen eventuellen Widerstand radikaler Kräfte statt-
finden. Ein verlässlicher und beidseitiger Waffenstillstand muss durchge-
setzt werden. Eine internationale Präsenz zur Beobachtung oder Friedens-
sicherung ist dabei eine mögliche Option zur Deeskalation, die mit den
Konfliktparteien erörtert werden sollte. Raketenangriffe und Terrorakte
gegen Israel müssen verhindert werden, Interventionen in die palästinen-
sischen Gebiete unterbleiben. Die derzeitige schwierige humanitäre und
ökonomische Lage der Palästinenser muss dringend verbessert, der Zerfall
der Institutionen gestoppt werden. Dies liegt auch im Interesse dauerhafter
israelischer Sicherheit, die nur durch Stabilität gewährleistet werden kann;

● den Versuch der Einbindung Syriens in einen politischen Prozess um einen
Ausgleich zwischen Israel und Syrien sowie mit dem Libanon zu ermög-
lichen und das destabilisierende Hegemoniestreben Irans einzudämmen.
Dieser Ausgleich ist denkbar, da alle Akteure pragmatische Interessen an
einem Friedensschluss haben. Dazu muss Syrien Anreize erhalten und die
bisherige kontraproduktive Isolationspolitik durch die EU beendet wer-
den. Syrien hat ein Interesse an der Wiedergewinnung der von Israel 1967
besetzten und 1981 annektierten Golanhöhen und an einer Ratifizierung

des EU-Nachbarschaftsabkommens. Syrien ist dagegen aufgefordert mit
der VN-Kommission zur Untersuchung des Hariri-Mords zu kooperieren,

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die libanesische Souveränität anzuerkennen, den Waffenschmuggel an die
Hisbollah und das destruktive Agieren des in Damaskus residierenden
Hamas Politbürochefs Khaled Meshal zu unterbinden;

● in einem so zu erreichenden syrischen und/oder libanesischen Friedens-
abkommen mit Israel müssen sich die Vertragsparteien verpflichten, in
einem festgesetzten Zeitrahmen zu einer endgültige Zweistaaten-Rege-
lung Israel/Palästina und einer Lösung des palästinensischen Flüchtlings-
problems beizutragen. Ein Teil-Friedensschluss darf nicht die Rechte und
alleinige politische Verantwortung der Palästinenser in den Verhandlun-
gen über eine endgültige Friedensregelung mit Israel beeinträchtigen;

● ein Friedensschluss zwischen Syrien und/oder Libanon und Israel hätte
ohne Zweifel grundlegend positive Wirkung auf das Gesamtklima in der
Region. Erst danach sollte die Gründung einer bereits diskutierten
„KSZE-Struktur“ für den Nahen und Mittleren Osten (KSZNMO) in An-
griff genommen werden. Zunächst sollten ihr Staaten angehören, die den
Staat Israel anerkannt haben oder bereit sind, dies im Rahmen der Sicher-
heitsstruktur zu gewährleisten. Gemeinsam mit dem Quartett sollten diese
Staaten die Konfliktparteien bei der Lösung des israelisch-palästinen-
sischen Konflikts unterstützen. Wie im historischen Vorbild der KSZE
muss die Achtung der Menschenrechte eine tragende Säule einer
KSZNMO sein. Perspektivisch können nur demokratische Staaten und die
Achtung der Menschenrechte in der gesamten Region eine dauerhafte
Friedensordnung garantieren;

● die stufenweise Umsetzung dieses Fahrplans sollte von einem wirtschaft-
lichen Entwicklungsplan für die teilnehmenden Staaten der Region beglei-
tet werden, um zusätzliche Anreize zu schaffen und den politischen
Prozess zu unterstützen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● aufgrund der Teilnahme im Rahmen des UNIFIL-Mandats eine rasche inter-
nationale Abstimmung über Möglichkeiten zur Wiederbelebung des Nahost-
friedensprozesses anzustoßen,

● schon auf dem Dezemberrat der EU sich dafür einzusetzen, dass aus dem
Vorschlag Frankreichs, Spaniens und Italiens eine europäische Initiative für
eine Lösung des Nahostkonflikts wird,

● sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und G8-Präsidentschaft
schnellstmöglich für die Wiederbelebung des Nahostquartetts einzusetzen,
um mit der Entwicklung und Umsetzung eines politischen Fahrplans für den
Friedensprozess in der Region zu beginnen,

● sich im Rahmen dieses Fahrplans für Fortschritte auf dem Weg zu einer
Zweistaatenlösung Israel und Palästina einzusetzen,

● eine Einbindung Syriens unter der Bedingung der konstruktiven syrischen
Beteiligung aktiv voranzutreiben, die Ratifizierung des EU-Assoziations-
abkommens mit Syrien in Aussicht zu stellen und sich insbesondere bei den
amerikanischen Partnern für ein Ende der Isolationspolitik einzusetzen,

● eine Wiederaufnahme der syrisch-israelischen Verhandlungen zu unterstüt-
zen, deren Ziel die Rückgabe des Golans und Sicherheit für Israel sind,

● einen Ausgleich zwischen Israel, Syrien und Libanon und Lösungsansätze
für die trilateralen Streitfragen zu suchen,

● sich bei den amerikanischen und israelischen Partnern für die Notwendigkeit

zur Aufnahme von politischen Verhandlungen und Dialog auch mit schwie-

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rigen politischen Akteuren in der Region einzusetzen, solange diese keine
terroristischen Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele anwenden,

● mit weiteren Maßnahmen zur Stabilisierung des Libanon, und des inner-
libanesischen Ausgleichs, sowie zur Beseitigung der Kriegsfolgen, insbeson-
dere der Streubomben und der Umweltschäden beizutragen, und dabei insbe-
sondere einen politischen Prozess zu unterstüzten, der zu einer Entwaffnung
der Hisbollah führt,

● die wirtschaftliche Entwicklung in der Region im Rahmen des Fahrplans für
den Friedensprozess zu fördern,

● sich gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen auszusprechen und
demokratische zivilgesellschaftliche Kräfte und Oppositionelle bei ihrem
Bestreben nach demokratischer Transformation autoritärer Regime zu unter-
stützen,

● den neuen Generalsekretär der Vereinten Nationen bei seinen Bemühungen
zur Umsetzung der maßgeblichen VN-Resolutionen und Wiederbelebung
eines regionalen Friedensprozesses nach Kräften zu unterstützen.

Berlin, den 22. November 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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