BT-Drucksache 16/3288

Mehr Freiheit wagen

Vom 8. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3288
16. Wahlperiode 08. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Uwe
Barth, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Jörg van Essen,
Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Miriam Gruß, Dr. Christel
Happach-Kasan, Elke Hoff, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch,
Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald
Leibrecht, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Markus Löning, Horst
Meierhofer, Patrick Meinhardt, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Detlef Parr,
Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele,
Florian Toncar, Dr. Claudia Winterstein, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Mehr Freiheit wagen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Politik der schwarz-roten Bundesregierung zeigt keine eindeutige Zielrich-
tung, es fehlen konzeptionelle Klarheit und programmatische Geschlossenheit.
In vielen Bereichen wirken die vereinbarten Initiativen der Regierung nicht von
sachpolitischer Vernunft geleitet, sondern von der Suche nach Kompromissen
gezeichnet. Insbesondere in den Kernbereichen wirkt die Regierungspolitik
mutlos und antriebsarm.

Am 30. November 2005 gab die neu gewählte Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel im Deutschen Bundestag ihre erste Regierungserklärung ab, in der sie
die Grundzüge der Politik darstellte, die die Menschen in Deutschland von der
so genannten großen Koalition aus CDU, CSU und SPD von da an zu erwarten
haben sollten.

In keinem der Bereiche, die die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung
Ende November 2005 als die wichtigsten genannt hat – Föderalismusreform,
Arbeitsmarktreform, Schul- und Hochschulpolitik, Bändigung der Verschul-
dung, Reform der Gesundheits-, Renten- und Pflegesysteme – ist die schwarz-
rote Bundesregierung zu überzeugenden Lösungen gekommen:

– Die dringend erforderlichen grundlegenden Reformen im Arbeitsrecht sieht

der Koalitionsvertrag nicht vor. Das gilt insbesondere für den Kündigungs-
schutz und das Tarifvertragsrecht. Von der Verständigung im Koalitions-
vertrag zur Verlängerung der Wartezeit im Kündigungsschutzgesetz und
Streichung der sachgrundlosen Befristung hat sich die große Koalition bereits
wieder verabschiedet. Für den Arbeitsmarkt ist es fatal, dass die große Koa-
lition sich hier nicht an Reformen herantraut. Zu Hartz IV wurde eine Vielzahl

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der im Koalitionsvertrag angeführten Nachbesserungen im Rahmen von mitt-
lerweile drei Nachbesserungsgesetzen beschlossen. Von einer Optimierung
der Hartz-Reform kann jedoch keine Rede sein. Über die Notwendigkeit einer
Generalrevision streitet die große Koalition nach wie vor. Auch von einer
Lösung der Arbeitsmarktprobleme im Niedriglohnbereich ist die große
Koalition noch weit entfernt. Die SPD setzt auf die Einführung von Mindest-
löhnen, die Union dagegen spricht sich für Kombilöhne aus.

– In den Koalitionsverhandlungen wurde eine „Bund-Länder-Initiative zur
Sicherung der Qualität und der Bewältigung der steigenden Studierendenzah-
len“ vereinbart. Erst im Mai 2006 gelang es, die Länder zu einer grundsätz-
lichen Zustimmung zur Aufnahme von Verhandlungen zu bewegen. Bis
heute ist es nicht gelungen, konkrete Vereinbarungen abzuschließen. Mit dem
Jobstarter-Programm hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) im Bereich der beruflichen Bildung die Politik des Ausbaus von
Warteschleifen von Rot-Grün fortgesetzt. Kurzfristig hat das Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales (BMA) weitere Mittel für die Einstiegsquali-
fizierungen bereitgestellt. Dies ist grundsätzlich positiv. An die Ursachen
hingegen ist die Koalition nicht gegangen. Die Weiterbildung soll laut Regie-
rungserklärung und Koalitionsvereinbarung zur vierten Säule des Bildungs-
systems ausgebaut werden. Von den angekündigten Vorhaben ist noch nichts
verwirklicht.

– Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Forschung in Deutsch-
land stärker als bisher zu fördern und bis zum Jahr 2009 6 Mrd. Euro mehr
für Forschung und Entwicklung zu investieren. Eine einseitige Orientierung
der Forschung auf die Entwicklung neuer Produktideen und Produkte wird
aber keine wirklichen Innovationen hervorbringen. Innovationen benötigen
ein gesellschaftliches Umfeld, welches sie nicht nur fördert, sondern zugleich
auch akzeptiert.

Denk- und Forschungsverbote haben in einer liberalen Wissenschafts- und
Forschungspolitik keinen Platz. Die Bundesregierung hat bis heute keine ent-
scheidenden Signale auf so wichtigen Forschungsfeldern wie der roten und
der grünen Biotechnologie gegeben.

– Die Bundesregierung verfolgt nach eigener Aussage das Ziel, die öffent-
lichen Haushalte zu konsolidieren und die Wachstumskräfte in Deutschland
zu stärken, oder, wie es die Bundeskanzlerin ausdrückt, die Verschuldung zu
bändigen. Dabei hat sich bisher gezeigt, dass die Politik der Koalition über
alle Maßen inkonsistent ist. Ein in sich schlüssiges finanzpolitisches Paket
zur Konsolidierung der Staatsfinanzen, das gleichzeitig beherzt Strukturre-
formen angeht, ist nicht zu erkennen. Statt den Staatshaushalt konsequent
durch Einsparungen bei Subventionen, Staatskonsum und Leistungen zu sa-
nieren, geht die Bundesregierung den konjunkturpolitisch schädlichen Weg
über Steuererhöhungen. Der Koalition fehlt eine glaubwürdige budgetpoli-
tische Strategie. Zudem dokumentiert die mittelfristige Finanzplanung deut-
liche Fehlentwicklungen im Haushalt. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und
eine Vielzahl weiterer steuerpolitischer Maßnahmen werden den Konsum
und die Investitionen dämpfen und sich negativ auf die dank günstiger welt-
wirtschaftlicher Einflüsse angesprungene Konjunktur und letztendlich auf
die Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte auswirken. Die angekün-
digte Unternehmensteuerreform verdient den Namen Reform nicht, da sie
durch neue Ausnahmen das Steuerrecht noch weiter verkompliziert. Es gibt
keinen Ansatz für eine Strukturreform, ein steuerliches Gesamtkonzept fehlt.
Die Union kann oder will ihre durchaus vorhandenen Steuerpläne gegenüber
der SPD nicht durchsetzen. Die Vorschläge zur Unternehmensbesteuerung

verdienen den Namen Reform nicht. Die beschlossene Steuerentlastung von
bis zu 5 Mrd. Euro ist seit langem überfällig, reicht aber zur Unterstützung

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eines nachhaltigen Wachstums nicht aus. Die Einführung einer Abgeltung-
steuer und die Abschaffung der Kontenabfragen sind zu begrüßen, das In-
krafttreten steht aber mit dem 1. Januar 2009 noch in weiter Ferne. Die not-
wendige Systematisierung und Vereinfachung finden nicht statt. Im Gegen-
teil: Durch neue Ausnahmen wird das Steuerrecht noch komplizierter. Eine
europarechtskonforme Konzernbesteuerung wird gar nicht erst versucht. Die
Besteuerung von Zinsen ist ein solcher Fremdkörper im Steuersystem, dass
selbst die Verhandlungsführer Peer Steinbrück und Roland Koch die ver-
schiedensten Freigrenzen, Freibeträge und Ausnahmeregelungen vorsehen
mussten, um überhaupt zu einem Abschluss zu kommen. Und nach ihren
Aussagen bleibt es überhaupt abzuwarten, welche der wenigen positiven Ele-
mente es tatsächlich in das Bundesgesetzblatt schaffen.

– Die Koalition hat eine nachhaltige Energiepolitik angekündigt, die auf der
Grundlage eines international abgestimmten langfristigen Energieprogramms
erfolgen soll. Dabei hat sie jedoch weder eine klare Aussage zur friedlichen
Nutzung der Kernenergie gemacht, noch hat sie ein klares Konzept zur För-
derung der erneuerbaren Energien und zur Energieeffizienzsteigerung ent-
wickelt. Stattdessen hat die Bundesregierung Energiegipfelgespräche begon-
nen, die zu keinen konkreten Ergebnissen geführt haben. Auch liegt das an-
gekündigte Energieprogramm nicht vor, das insbesondere im Hinblick auf die
anstehende EU-Ratspräsidentschaft und den Vorsitz in der G8-Gruppe weg-
weisend sein könnte.

– In der Gesundheitspolitik ist die Koalition mit dem Anspruch angetreten, die
dauerhafte Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens durch stabile Finanz-
strukturen zu sichern und eine dauerhafte Grundlage für ein leistungsfähiges,
solidarisches und demografiefestes Gesundheitswesen zu schaffen. Sie wollte
sich für den Erhalt eines Pluralen Systems und für Kassenvielfalt einsetzen
und einen fairen Wettbewerb zwischen gesetzlicher Krankenversicherung
(GKV) und privater Krankenversicherung (PKV) ermöglichen. Der Weg über
wettbewerbliche Anreize sollte weiter beschritten werden und dabei als Vor-
aussetzung der Risikostrukturausgleich vereinfacht und im Sinne einer höhe-
ren Zielgenauigkeit und besseren Abbildung der Morbiditätsrisiken weiter-
entwickelt werden. Ziel ist insgesamt: Eine konsequente wettbewerbliche
Ausrichtung durch Schaffung flexibler Rahmenbedingungen.

Diesen Zielen wird das so genannte Reformwerk, das die Koalition mit dem
„GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vorlegt“, in keiner Weise gerecht. Be-
schritten wird der Weg in eine staatliche, zentralistische Einheitskrankenver-
sicherung mit zentral vorgegebener Staatsmedizin. Rationierung, Verlust von
Therapiefreiheit, freier Arztwahl und Freiberuflichkeit sind die Folge. Die
PKV wird de facto abgeschafft, nicht auf einen Schlag, aber schleichend. Die
Bedingungen, unter denen die private Krankenversicherung arbeiten muss,
werden so verschärft, dass die Tarife uninteressant werden. Mit diesem Ge-
setzesvorhaben wird die heutige Organisation der Krankenversicherung und
der Gesundheitsversorgung in größte Gefahr gebracht, ohne dass man die
Probleme, die es zu lösen gilt, auch nur ansatzweise angehen würde. Weder
wird die Finanzierung der GKV auf eine sichere, nachhaltige Grundlage ge-
stellt, noch folgt die so dringend notwendige Entkoppelung von Gesundheits-
ausgaben und Lohnkosten. Die Worte „Wettbewerb und Eigenverantwor-
tung“, „Wahlfreiheit und Gestaltungsmöglichkeiten“ finden sich zwar im
Gesetz, werden jedoch nicht mit Leben erfüllt und teilweise sogar ins Gegen-
teil verkehrt.

– Das Hauptreformprojekt der Koalition – Mehrwertsteuererhöhung zur Finan-
zierung der sozialen Sicherungssysteme und gleichzeitige Senkung der

Lohnnebenkosten – ist gescheitert. Die Lohnnebenkosten werden entgegen

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der Ankündigungen der Koalition auch 2007 deutlich über 40 Prozent verhar-
ren.

– Auch in der Rentenversicherung, dem Zweig der sozialen Sicherung mit den
höchsten Ausgaben und einem hohen laufenden Defizit, traut sich die Koali-
tion an Reformen nicht heran. Seit dem Regierungsantritt sind hier keine Re-
formen beschlossen worden, die der Rentenkasse kurzfristig Entlastung auf
der Ausgabenseite verschaffen könnten. Die angekündigten Maßnahmen
(Rente mit 67, Nachholfaktor) entfalten ihre Wirkung erst nach Ende der lau-
fenden Legislaturperiode. Das Entlastungsvolumen aus der Anhebung des
gesetzlichen Renteneintrittsalters wird durch weit reichende Ausnahmen
deutlich herabgesetzt.

Keines der Vorhaben in der Pflege wurde durch die große Koalition umge-
setzt. Die Reform der seit Jahren defizitären gesetzlichen Pflegeversicherung
wurde wegen massiver Schwierigkeiten bei der Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung wieder einmal auf die lange Bank geschoben. Das wei-
tere Verschieben einer grundlegenden Reform ist unverantwortlich. Seit Jah-
ren fährt die gesetzliche Pflegeversicherung ein Defizit nach dem anderen
ein, der Realwertverlust ihrer nominal fixierten Leistungen setzt sich fort.
Bleibt es beim Umlageverfahren, werden die jüngeren Generationen die
Zeche zahlen müssen, denn die Folgen einer älter werdenden Gesellschaft
werden in der Pflegeversicherung besonders stark zu spüren sein. Steigende
Beiträge und Leistungskürzungen wären die unausweichlichen Folgen.

– Die Vereinbarungen zur Föderalismusreform sind in erster Linie durch Mut-
losigkeit geprägt. Es kommt zu keiner entscheidenden Entflechtung der
Kompetenzen, eine deutliche Reduzierung der zustimmungsbedürftigen
Gesetze wird durch diese Reform nicht erreicht werden. Die Gesetze zur
Föderalismusreform enthalten stattdessen Regelungen, die sich geradezu als
„Einfallstor“ neuer Zustimmungserfordernisse erweisen können (z. B. Arti-
kel 104a Abs. 4 des Grundgesetzes – GG). Unter anderem fehlt die Einfüh-
rung eines echten Konnexitätsprinzips für die Kommunen, und auch die Zu-
sammenarbeit im Hochschulbereich ist durch die Ausdehnung des schon in
der Vergangenheit von der FDP scharf kritisierten Einstimmigkeitsprinzips
der Kultusministerkonferenz (KMK) vollkommen ungenügend geregelt. Ent-
scheidend aber ist, dass die Föderalismusreform ohne Reform der Finanzver-
fassung ein Torso bleibt.

– Die Familienpolitik der großen Koalition verfehlt die anvisierten Ziele und
die Bedürfnisse der Familien. Hierzu gehören der Ausbau der Kinderbe-
treuung, die Schaffung eines qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Bil-
dungs- und Betreuungsangebots, die Reduzierung der Kinderarmut sowie die
Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern. Anstatt die Vielzahl von Leis-
tungen zunächst auf den Prüfstand zu stellen, wird das Elterngeld eingeführt,
ohne eine Anschlussbetreuung ab dem vollendeten ersten Lebensjahr des
Kindes gemeinsam mit den Ländern und Kommunen zu organisieren und zu
finanzieren.

Die Zahl der armen Kinder in Deutschland hat sich seit 2004 mehr als ver-
doppelt. Auch auf dieses Problem lässt die Bundesregierung eine klare Ant-
wort vermissen. Das verwirrte und unkoordinierte Reagieren auf die zahlrei-
chen Fälle von vernachlässigten Kindern zeigt deutlich, dass die große
Koalition keine Lösung anzubieten hat, wie Kinder vor Misshandlung und
Verwahrlosung geschützt werden können. Es fehlt an einer eigenständigen
Kinder- und Jugendpolitik, die sich gezielt für die Belange der jungen Men-
schen in Deutschland einsetzt.

Ein zentraler Politikbereich in der Gesellschaftspolitik, die Integration von

Menschen, die zu uns kommen, wird von der Bundesregierung nur unzurei-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/3288

chend behandelt, obwohl es als ein Schwerpunkt der Regierung bezeichnet
wird.

Die Regierung springt medienwirksam von Gipfel zu Gipfel und drückt sich
damit um konkrete Schritte, die jetzt nötig sind. Die Defizite in den Integra-
tionskursen werden nicht behoben, eine weitere Förderung der Sprachkom-
petenzen von Migrantinnen und Migranten unterbleibt. In der Bekämpfung
der Zwangsheirat gibt es keine Fortschritte.

– Die bisherige Agrar- und Verbraucherpolitik sind gekennzeichnet von ergeb-
nislosen Ankündigungen, Aktions- und Sorfortprogrammen. Insbesondere
die drei Lebensmittelskandale in Bayern haben diese Symbolpolitik als
Populismus offenbart. Parallel dazu wurden ordnungspolitische Grundsätze
missachtet, die versprochene 1:1-Umsetzung von EU-Recht nicht durchge-
setzt, in der Agrarsozialpolitik die notwendigen Reformen nicht angestoßen.
Die Einführung der Biokraftstoffbesteuerung hat zu Vertrauensverlusten in
der mittelständischen Wirtschaft geführt. Die angekündigte zügige Novellie-
rung des Gentechnikgesetzes ist noch immer nicht auf den Weg gebracht.
Wichtige Zukunftspotentiale für wissensbasierte neue Arbeitsplätze bleiben
dadurch ungenutzt, die Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen ver-
schlechtern sich. In der Verbraucherpolitik fehlt ein klares Konzept, das den
Verbraucher als Marktteilnehmer stärkt und die Verbraucherpolitik als Wirt-
schaftspolitik von der Nachfrageseite betrachtet.

Die aktuelle Lage erfordert eine mutige und zupackende Politik. Trotz der mo-
mentan positiven wirtschaftlichen Entwicklung und des leichten Rückgangs der
Arbeitslosigkeit wird nach der Welle in diesem Jahr in 2007 die Wachstumsdelle
kommen. Die Prognosen der Volkswirte bewegen sich für 2007 im 1-Prozent-
Bereich. Als Ursachen für diesen Einbruch werden die schwarz-rote Mehrwert-
steuererhöhung und die kleineren Steuererhöhungen (Kürzung der Pendlerpau-
schale usw.) an anderer Stelle genannt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Bereich der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik mit Nachdruck die
notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Möglichkeiten der derzeitigen
konjunkturellen Erholung für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, für eine
tatsächliche und dauerhafte Senkung der immer noch zu hohen Arbeitslosen-
quote in Deutschland und für eine spürbare und andauernde Entlastung der
sozialen Sicherungssysteme zu nutzen. Dazu gehören insbesondere:

– eine an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierte Ordnungspolitik als
Mittel zur Förderung der mittelständischen Wirtschaft zu verfolgen, zu der
explizit auch der Bürokratieabbau und eine steuerliche Entlastung des
Mittelstandes gehören, die nicht durch neue Ausnahmetatbestände und
noch mehr Bürokratie konterkariert werden. Der von der Bundesregierung
geschaffene Normenkontrollrat, der neue Gesetzesinitiativen auf ihre
bürokratischen Lasten für die Unternehmen prüfen soll, ist schon, bevor er
seine Arbeit aufnimmt, zu einem zahnlosen Tiger geworden. So hat die
schwarz-rote Koalition zum einem den Begriff der Bürokratiekosten auf
die „Informationspflichten“ reduziert und zum anderen den Rat soweit be-
schnitten, dass er nur Initiativen des Bundeskabinetts und keine Gesetzes-
vorhaben aus dem Parlament oder aus den Bundesländer prüfen wird.
Damit können Gesetze wie das Antidiskriminierungsgesetz, die die Büro-
kratielasten weiter erhöhen, weiterhin über die Hintertür Bundestag ver-
wirklicht werden;

– eine glaubwürdige budgetpolitische Strategie zu entwerfen, die konse-

quent auf der Ausgabenseite ansetzt, statt mit immer neuen Steuer-
erhöhungen lediglich auf die Einnahmenseite zu setzen, wozu auch ge-

Drucksache 16/3288 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

setzlich verankerte restriktive Haushaltsregeln sowie die Aufnahme der
Maastrichtkriterien in das Grundgesetz gehören;

– eine wirklichen Strukturreform im Rahmen eines steuerlichen Gesamt-
konzepts vorzulegen, das neben dem Abbau steuerlicher Vergünstigungen
ein Absenken der Steuersätze beinhaltet und geeignet ist, wirtschaftliche
Dynamik zu entfalten;

– im Bereich der Energiepolitik die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen,
die die Oligopolstrukturen in der Energiewirtschaft aufbrechen, den Wett-
bewerb stärken, zu einer weiteren Liberalisierung und Deregulierung füh-
ren und durch eine Senkung der Energiepreise zu einer spürbaren Entlas-
tung von Wirtschaft und privaten Verbrauchern führen. Basis des Maß-
nahmenbündels ist die sofortige Vorlage eines Energieprogramms;

– möglichst rasch in die zweite Stufe der Beratungen zur Föderalismusre-
form einzutreten und damit die dringend gebotene Reform der Finanzbe-
ziehungen anzugehen, die unter anderem eine grundlegende Neuordnung
des Steuersystems mit weitgehender Steuerautonomie der Länder, eine
Umwandlung des lähmenden „kooperativen Föderalismus“ in einen mo-
dernen Wettbewerbsföderalismus sowie Begrenzungen von Beistandsga-
rantien und der Neuverschuldung einschließt;

2. im Bereich des Arbeitsrechts und der Arbeitsmarktpolitik die dringend erfor-
derlichen grundlegenden Reformen zur Schaffung von Arbeitsplätzen einzu-
leiten. Das beinhaltet insbesondere:

– ein zeitgemäßes Kündigungsschutzrecht zu schaffen, das nicht nur dem
Schutz der Beschäftigten dient, sondern auch Arbeitslosen die Chance auf
einen Wiedereinstieg in Beschäftigung einräumt, sowie das Instrument der
sachgrundlosen Befristung im Interesse der Schaffung von Arbeitsplätzen
zu flexibilisieren;

– die dringend notwendigen Reformen des Tarifvertragsrechtes, insbeson-
dere eine gesetzliche Absicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit, vor-
zunehmen, um eine größere Differenzierung nach Sektoren und Regionen
bei Löhnen und Arbeitszeiten, die sich an den betrieblichen Notwendig-
keiten orientiert, zu ermöglichen;

– eine wirkliche Optimierung der Hartz-Reformen anzustreben, die auch die
Notwendigkeit einer Generalrevision einschließt, um die Vielzahl von
Konstruktionsfehlern, die sich in den ausufernden Kosten für das Arbeits-
losengeld II (ALG II) zeigen, zu beheben;

– einen funktionsfähigen Niedriglohnsektor zu schaffen, damit die Auf-
nahme einer auch nur gering entlohnten Beschäftigung gegenüber der al-
leinigen Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen attraktiver wird.
Dabei müssen die bestehenden Regelungen zur sozialen Absicherung ver-
einfacht und unbürokratischer ausgestaltet werden. Hierzu soll auch das
von der FDP entwickelte Bürgergeldkonzept beitragen;

3. bei den Reformen der sozialen Sicherungssysteme die Finanzierung sach-
gerecht zu regeln, die Belastungen der Bürgerinnen und Bürger zu verringern
und die Zukunftsfähigkeit der Gesundheits-, Renten- und Pflegesysteme zu
sichern. Dazu ist insbesondere erforderlich:

– die vorgelegte Gesundheitsreform komplett neu zu erarbeiten und dabei
insbesondere eine Entlastung der Lohnzusatzkosten sowie eine Entkoppe-
lung von Gesundheitsausgaben und Arbeitskosten sowie eine sichere,
nachhaltige Finanzierung sicherzustellen und den Versicherten die Frei-
heit zu geben, ihren Versicherungsschutz weitgehend selbst zu gestalten;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/3288

– im Bereich der Rentenversicherung ein generationengerechtes und nach-
haltiges Konzept zur Finanzierung vorzulegen, das noch in der laufenden
Legislaturperiode die Rentenversicherung entlastet. Dazu gehört der Ab-
bau der Anreize zur Frühverrentung ebenso wie eine umfassende Reform
des Arbeitsmarktes, um die Voraussetzung für einen stärkeren Zuwachs
der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu schaffen. Der er-
kennbaren Versorgungslücke aus der Absenkung des Versorgungsniveaus
der gesetzlichen Rentenversicherung muss durch den Ausbau der privaten
und betrieblichen Säule der Altersvorsorge entgegengewirkt werden. Da-
her darf die Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung nach
2008 nicht auslaufen;

– die Reform der seit Jahren defizitären gesetzlichen Pflegeversicherung
endlich anzugehen und dabei die Entbürokratisierung der Pflege voranzu-
treiben. In einer Finanzreform der gesetzlichen Pflegeversicherung ist der
gleitende Übergang in ein kapitalgedecktes System, verbunden mit dem
Aufbau von Altersrückstellungen, angesichts der absehbaren Auswirkun-
gen des demografischen Wandels die einzige wirklich zukunftsfeste Stra-
tegie;

4. im Bereich der Bildungspolitik mit den geeigneten Maßnahmen dafür zu sor-
gen, dass sowohl bei der Hochschulausbildung als auch bei der beruflichen
Bildung, der Weiterbildung und der frühkindlichen Bildung Deutschland
wieder Anschluss an die sich schneller entwickelnden Länder gewinnt. Dazu
ist unter anderem erforderlich:

– den aufgrund der Vereinbarungen zur Föderalismusreform geäußerten Be-
denken Rechnung zu tragen und die Verhandlungen für eine „Bund-Län-
der-Initiative zur Sicherung der Qualität und Bewältigung der Studieren-
denzahlen“ mit den Bundesländern voranzutreiben sowie bei der im
Rahmen der Föderalismusreform 2 mit zu verhandelnden Hochschul-
finanzierung die Länder bei der Entwicklung eines dem Grundsatz „Geld
folgt Student“ entsprechenden Systems zu unterstützen;

– die Weiterbildung als vierte Säule des Bildungswesens endlich ernst zu
nehmen und eine „Offensive Weiterbildung“ in Zusammenarbeit mit den
Bundesländern zu starten;

– im Bereich der beruflichen Bildung die erforderlichen Maßnahmen zu
ergreifen, zu denen unter anderem mehr Flexibilität bei der Ausbildungs-
vergütung – zur Erleichterung der Einstellungen in wirtschaftsschwachen
Regionen –, die Verlängerung der Probezeit für Lehrlinge zur besseren
Einschätzungsmöglichkeit der Leistungsbereitschaft der Jugendlichen für
die Betriebe, eine Erleichterung der Kündigungsmöglichkeiten bei leis-
tungsunwilligen Auszubildenden auch nach Ende der Probezeit, die An-
passung der Arbeitszeitregelungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes an
die Gegebenheiten im Tourismus, bei Gaststätten und bei den Bäckern und
eine Streichung der Übernahmeverpflichtung für Auszubildendenvertreter
im Betriebsverfassungsgesetz gehören;

5. in der Familienpolitik mit geeigneten Maßnahmen dafür zu sorgen, dass den
Bedürfnissen von Kindern und Eltern entsprechend angemessen gehandelt
wird, und dementsprechend ein umfassendes Konzept zu entwickeln.

Gemeinsam mit den Ländern soll darauf hingewirkt werden,

– die Kinderbetreuungsinfrastruktur quantitativ wie qualitativ auszubauen;

– eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe anzustreben und diese mit so-
wohl finanziellen als auch personellen Ressourcen auszustatten, damit sie

effektiv und verantwortungsvoll arbeiten kann;

Drucksache 16/3288 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
6. in der Integrationspolitik schnellstmöglich zu handeln, um bekannte Miss-
stände zu beseitigen:

– die Integrationskurse hinsichtlich des Kursqualität, der finanziellen Aus-
stattung und der Rahmenbedingungen zu verbessern,

– endlich das Nationale Integrationsprogramm vorzulegen.

Darüber hinaus fordern wir eine Beteiligung des Deutschen Bundestages in
Form einer Enquetekommission zu den Themen Integration und Migration;

7. in der Agrarpolitik ist eine klare marktwirtschaftliche und unternehmerische
Ausrichtung erforderlich, die die Anliegen der Landwirte und Verbraucher
gleichermaßen berücksichtigt, ohne zu einer weiteren Ausweitung staatlicher
Regulierung und Bürokratie zu führen. Dazu ist unter anderem erforderlich:

– das innovationsfeindliche Gentechnikgesetz umgehend zu novellieren,
um Arbeitsplätze in Wirtschaft und Forschung zu sichern und die Basis für
eine erfolgreiche Umsetzung der „High-Rech-Strategie“ zu schaffen; – die
Rahmenbedingungen für die heimische Land- und Ernährungswirtschaft
durch marktwirtschaftliche Reformen zu verbessern. Dazu gehört ein
Auslaufen der Milchquotenregelung spätestens im Jahr 2015. Werbever-
bote für Tabak, Alkohol und bestimmte Nahrungsmittel sind wegen ihrer
schädlichen Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsplätze abzulehnen;

8. in der Verbraucherpolitik muss das Leitbild des mündigen Bürgers im Vor-
dergrund stehen. Den besten Verbraucherschutz bieten echter Wettbewerb,
informierte Verbraucher und Transparenz der Märkte. Dazu ist insbesondere
erforderlich:

– Verbraucherschutz als integralen Bestandteil der Marktwirtschaft zu be-
handeln und einen fairen Interessenausgleich zwischen Wirtschaft und
Verbrauchern umzusetzen,

– die Verbraucherbildung und -aufklärung zu verbessern und zu verstärken,
da aufgeklärte und mündige Bürger durch kluge Kaufentscheidungen den
effektivsten Verbraucherschutz selbst und eigenverantwortlich voranbrin-
gen können,

– das Verbraucherinformationsgesetz umfassend nachzubessern, damit
einerseits Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse geschützt werden, anderer-
seits aber eine zügige und umfassende Verbraucherinformation gewähr-
leistet ist.

Berlin, den 8. November 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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