BT-Drucksache 16/3279

REACH - Chance für eine fortschrittliche Chemikalienpolitik nutzen

Vom 7. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3279
16. Wahlperiode 07. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Heidrun Bluhm, Roland Claus,
Katrin Kunert, Michael Leutert, Dorothee Menzner, Dr. Ilja Seifert,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine
und der Fraktion DIE LINKE.

REACH – Chance für eine fortschrittliche Chemikalienpolitik nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Deutsche Abgeordnete der CDU, CSU, SPD und FDP im Europaparlament, die
Bundesregierung sowie EU-Beamte aus der Bundesrepublik Deutschland haben
in der Vergangenheit systematisch versucht, ein fortschrittliches europäisches
Chemikalienrecht zu verhindern. Eine solche Politik ist für ein Land, das sich
gern als Weltmeister im Umweltschutz ausgibt, unverantwortlich.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) hatte im Dezember 2005 ana-
lysiert, wer bei den Abstimmungen zur ersten Lesung im Europaparlament
über die damaligen Änderungen zum Kommissionsvorschlag für eine Chemi-
kalienverordnung REACH (Verordnung zur Einführung eines Rechtsrahmens
für chemische Stoffe) die Interessen der Chemiekonzerne gegen den Verbrau-
cherschutz vertrat. Danach hatten die deutschen Abgeordneten der CDU/
CSU, SPD und FDP im Europaparlament – im Gegensatz zu denen der Die
Linkspartei. PDS und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bei allen Änderungs-
anträgen mehrheitlich für einen Abbau des Gesundheits- und Umweltschutzes
gestimmt. Im Falle der SPD und FDP geschah dies sogar regelmäßig gegen
die Abstimmungsempfehlung der jeweils eigenen Europa-Fraktion. Aufgrund
der hohen Abgeordneten-Anzahl tragen deutsche Politiker somit die Haupt-
schuld dafür, dass der ursprüngliche REACH-Kommissionsentwurf zu Lasten
des Gesundheits- und Umweltschutzes grundlegend verschlechtert wurde.

Auch die Vertreter der Bundesregierung und EU-Spitzenbeamte aus Deutsch-
land traten im Rat und in der EU-Kommission als Repräsentanten der heimi-
schen chemischen Industrie auf. Die damalige Kommissions-Vizepräsidentin
Margit Wallström beispielsweise hat öffentlich gegen einen besonders dreisten
Vorstoß des Industriekommissars Günther Verheugen protestiert.
Durch die genannten Aktivitäten waren die REACH-Beratungen bislang ein
trauriges Beispiel dafür, in welch großem Umfang Konzerne über willige Poli-
tiker die Gesetzgebung nach ihren Profitinteressen beeinflussen können. Dabei
wäre eine grundlegende Reform des europäischen Chemikalienrechtes dringend
notwendig:

Bislang wurden nur etwa 4 000 Stoffe darauf geprüft, ob sie Gesundheit oder
Ökosysteme schädigen. Auf dem EU-Markt befinden sich jedoch etwa 100 000

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so genannte Altstoffe, die vor 1981 auf den Markt kamen. Etwa 30 000 davon
werden gegenwärtig mit mehr als einer Tonne Jahresproduktion eingesetzt. Mit
ihnen läuft faktisch ein Großversuch an Mensch und Umwelt. In den letzten
Jahrzehnten haben auch als Folge dieser Politik nachweislich Allergien sowie
Brustkrebs- und Atemwegserkrankungen zugenommen. Giftcocktails lassen
sich selbst noch in der Muttermilch nachweisen.

Die EU-Kommission wollte diesen unhaltbaren Zustand mit ihrem REACH-
Verordnungsentwurf beenden. Doch der vom Europaparlament verwässerte Ent-
wurf mit seinen deutlich abgeschwächten Berichterstattungs-, Prüf- und Regist-
rierungspflichten für die Chemiekonzerne wurde Ende 2005 auch vom Minister-
rat weitgehend bestätigt. Von den 30 000 als relevanten betrachteten Chemi-
kalien müssten nach diesem Entwurf nun nur noch 12 000 gründlich überprüft
werden. Zudem wanderte die Beweislast der Unbedenklichkeit wieder von den
Herstellern zurück zu den Behörden. Genau dies sollte jedoch durch REACH
eigentlich umgekehrt werden.

In der ersten Lesung hatte sich das Europaparlament zumindest noch dafür aus-
gesprochen, gefährliche Chemikalien zu ersetzen, wenn es sicherere Alternati-
ven gäbe. Gäbe es sie nicht, so sollten gefährliche Stoffe für fünf Jahre befristet
zugelassen werden. Danach hätten diese von den Unternehmen ersetzt werden
müssen, sobald unbedenkliche Alternativen existieren. Aber selbst diese einzige
positive Veränderung zum Kommissionsentwurf wurde vom Rat kassiert.

Insgesamt stellte sich damit die Frage, ob ein solches Chemikalienrecht nicht
hinter dem bisherigen zurückfallen würde. Schließlich würden die niedrigen Re-
gistrierungs- und Zulassungskriterien nun ebenfalls für die Neustoffe gelten,
welche gegenwärtig noch einem vorbildlichen Registrierungsverfahren unterlie-
gen.

Nunmehr hat der Umweltausschuss des Europaparlaments am 10. Oktober 2006
einen wichtigen Schritt für den besseren Schutz von Umwelt und Gesundheit vor
gefährlichen Chemikalien getan: Er sprach sich mit großer Mehrheit dafür aus,
dass Chemieunternehmen gefährliche Chemikalien ersetzen müssen, wenn
sichere Alternativen zur Verfügung stehen. Damit stellt sich der Umweltaus-
schuss gegen den Beschluss des Ministerrats.

Zudem hat sich der Umweltausschuss für die Aufnahme einer allgemeinen Sorg-
faltspflicht in den Verordnungsentwurf entschieden. Danach würden die
Chemieproduzenten für die Sicherheit all ihrer Produkte – unabhängig von der
jährlich hergestellten Menge – verantwortlich gemacht. Verbraucher sollen
zudem mehr Informationen über jene Chemikalien bekommen, die in den von
ihnen erworbenen Alltagsgegenständen enthalten sind.

Insgesamt wurde mit den Veränderungen zwar im Bereich der Testanforde-
rungen nicht das ursprüngliche Schutzniveau des Kommissionsentwurfs er-
reicht. REACH wurde aber in wichtigen Teilen verbessert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Votum des Umweltausschusses des Europaparlaments zu akzeptieren und
im EU-Wettbewerbsministerrat ihren Widerstand gegen die Substitution ge-
fährlicher Stoffe aufzugeben;

2. bei der Beratung der REACH-Verordnung der Einführung der „allgemeinen
Sorgfaltspflicht“ zuzustimmen, welche die Unternehmen verpflichtet, auch
für die sichere Verwendung von Stoffen Sorge zu tragen, die in weniger als
einer Tonne pro Jahr hergestellt werden;

3. bei der Beratung der REACH-Verordnung dahin zu wirken, dass Verbraucher

auf Nachfrage alle gesundheits- und umweltrelevanten Daten über Stoffe

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vom herstellenden Unternehmen erhalten, die in Konsumprodukten einge-
setzt werden;

4. im EU-Wettbewerbsministerrat darauf hinzuarbeiten, damit die umwelt- und
gesundheitsfreundlichen Positionen des Umweltausschusses des Europapar-
laments vom EU-Wettbewerbsministerrat übernommen werden und es dies-
bezüglich möglichst schon vor der zweiten Lesung im Europaparlament zur
Einigung zwischen Rat und Parlament kommt.

Berlin, den 7. November 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat sich mit großer Mehr-
heit von 41 zu 17 Stimmen für umwelt- und gesundheitsfreundliche Positionen
bei der Substituierung von gefährlichen Stoffen entschieden. Die weitere
Verwendung von gefährlichen Chemikalien darf nur dann genehmigt werden
(Zulassung), wenn es keine sichereren Alternativen gibt, die Verwendung der
Substanz für die Gesellschaft von essentieller Bedeutung ist und das Risiko aus-
reichend kontrolliert wird. Die Zulassung wird auf maximal fünf Jahre begrenzt,
so dass Innovationen und die Entwicklung sichererer Alternativen vorange-
trieben werden. Der Zulassungsantrag beinhaltet nach dem Willen des Umwelt-
ausschusses eine Aufstellung der Alternativen sowie konkrete Pläne zur Sub-
stitution der Chemikalie. In ihnen verpflichtet sich der Hersteller dazu, nach
Alternativen zu forschen, beziehungsweise je nach spezieller Verwendung be-
reits vorhandene Alternativen zur Marktreife zu bringen. Alternativen können
den Behörden auch von unabhängigen Dritten mitgeteilt werden. Diese Position
des Umweltausschusses stellt sich gegen die Absicht des EU-Wettbewerbs-
ministerrates im „Gemeinsamen Standpunkt“, der „besonders Besorgnis erre-
gend“ definierte Stoffe standardmäßig zulassen will, sobald ein Unternehmen
erklärt, die Substanz „angemessen“ kontrollieren zu können. Somit hätte der
Hersteller, selbst wenn für das jeweilige Einsatzgebiet bereits unbedenklichere
Alternativen verfügbar wären, einen Rechtsanspruch auf Zulassung und damit
weitere Verwendung. Ausgenommen werden sollen von dieser Regelung ledig-
lich besonders langlebige Stoffe, die sich in der Nahrungskette anreichern, und
Stoffe, für die sich keine Wirkungsschwelle feststellen lässt. Diese müssen auch
nach Auffassung des Rates ersetzt werden, wenn Alternativen vorhanden sind.
Trotzdem fällt dessen Position aus Sicht der Verbraucher und der Umwelt deut-
lich hinter der des Umweltausschusses zurück.

Für Chemikalien ab einer Tonne Jahresproduktion pro Hersteller hat der Um-
weltausschuss im Europaparlament die Verpflichtung zur Erstellung eines Che-
mikaliensicherheitsberichts eingeführt. Hier müssen von den Herstellern eigene
Einschätzungen darüber vorgenommen werden, welches Risiko von der betref-
fenden Substanz ausgeht und welche konkreten Maßnahmen zur Risikomin-
derung vorgeschlagen werden. Das gilt für nachgeschaltete Anwender solcher
Stoffe auch dann, wenn die Substanz in der jeweiligen Anwendung mit weniger
als einer Tonne pro Jahr eingesetzt wird. Nach Einschätzung des Bundes für
Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sind diese Regelungen im Sinne
des Umwelt- und Verbraucherschutzes, denn ohne solche Maßnahmen würden
die Sicherheitsinformationen in der Praxis keinerlei Verbesserungen nach sich

ziehen. In seiner Analyse schätzt der Verband allerdings ein, dass die Informa-

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tionspflichten dennoch mangelhaft bleiben: Bereits in erster Lesung habe das
Europaparlament beschlossen, dass die ursprünglich für alle Chemikalien vorge-
sehenen Tests nur noch unter bestimmten Bedingungen vorzulegen sind. Dies
gelte insbesondere für Chemikalien mit 1 bis 10 Tonnen Jahresproduktion. Der
Umweltausschuss habe hier nur insoweit Änderungen vorgenommen, als nach
seinem Votum nicht nur Stoffe, die in Konsumprodukten eingesetzt werden, un-
ter bestimmten Bedingungen ein relativ ausführliches Testprogramm durchlau-
fen müssen, sondern auch solche, die gewerblich verwendet werden. Auch im
Bereich über 10 Tonnen Jahresproduktion gebe es weiterhin viele Ausnahme-
regelungen. Wichtige Langzeittests zur Ermittlung chronischer Effekte, z. B. auf
Schädigung der Fortpflanzungsfähigkeit, könnten ausgelassen werden. Insofern
bleibe der REACH-Verordnungsentwurf dem vorsorgenden Gesundheitsschutz
einige wichtige konsequente Reglungen schuldig, so der BUND.

Der Umweltausschuss des Europaparlament hat die Notwendigkeit einer recht-
lich verbindlichen Sorgfaltspflicht auch für Stoffe beschlossen, die unter einer
Tonne pro Jahr hergestellt werden. Der eingeführte Artikel würde bereits exis-
tierende freiwillige Verpflichtungen verbindlich machen. Somit muss die chemi-
sche Industrie die Verantwortung für die Sicherheit ihrer Produkte übernehmen.
Hersteller und Importeure müssen garantieren, dass ihre Produkte der mensch-
lichen Gesundheit und der Umwelt nicht schaden. Nach dem Votum des Minis-
terrates gäbe es hingegen in REACH keine rechtlich verbindliche Pflicht der
Hersteller, für die Folgen von Stoffen Sorge zu tragen, die sie in Mengen von
weniger als einer Tonne pro Jahr herstellen. Diese Einschränkung ist nicht nach-
zuvollziehen. Schließlich werden eine Reihe von Stoffen, die direkt mit dem
Menschen in Berührung kommen (beispielsweise in der Kosmetikbranche) viel-
fach nur in Kleinstmengen hergestellt.

Die Parlamentarier im EU-Umweltausschuss haben dafür gestimmt, dass Infor-
mationen über Chemikalien in Produkten in der Warenkette bis zum Händler
und zum Verbraucher weitergegeben werden müssen. So können diese Infor-
mationen auf allen Ebenen bei Kaufentscheidungen herangezogen werden;
Händler und Verbraucher können sich über gefährliche Chemikalien in Alltags-
produkten informieren und das jeweils unschädlichste Produkt auswählen.
Demgegenüber erlaubt der EU-Wettbewerbsrat im „Gemeinsamen Standpunkt“
den Unternehmen, eine Reihe von Informationen geheim zu halten. Sogar Zu-
sammenfassungen der toxikologischen Studien, Informationen über die insge-
samt hergestellten oder eingeführten Mengen oder die Verunreinigung mit
gefährlichen Substanzen müssten nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ge-
macht werden, wenn ein Unternehmen aus Wettbewerbsgründen diese nicht
bekannt geben möchte. Ein solcher Ansatz widerspricht jedoch dem Geist der
Aarhus-Konvention, die unter anderem Vorgaben über den Zugang der Öffent-
lichkeit zu Umweltinformationen gemacht hat. Danach sind alle Informationen,
die relevant für die menschliche Gesundheit und die Umwelt sind, der Öffent-
lichkeit in vollem Umfang zugänglich zu machen. Sie dürfen von Unternehmen
nicht geheim gehalten werden.

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