BT-Drucksache 16/2677

Ratifizierung des IAO-Übereinkommens über Heimarbeit

Vom 21. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2677
16. Wahlperiode 21. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Barbara Höll,
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Dr. Hakki Keskin,
Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln),
Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine
und der Fraktion DIE LINKE.

Ratifizierung des IAO-Übereinkommens über Heimarbeit

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) hat auf ihrer Konferenz im Jahr
1996 das Übereinkommen 177 über Heimarbeit (Ü 177) beschlossen. Es trat
zum 22. April 2000 in Kraft. Es soll dazu beitragen, dass die in Heimarbeit
Beschäftigten mit den formell Beschäftigten gleichgestellt werden. Es wurde
vor dem Hintergrund eines seit den 80er Jahren zu verzeichnenden, rasanten
globalen Anstiegs nicht registrierter und nicht vertraglich abgesicherter Arbeits-
verhältnisse verabschiedet. Dies betrifft im besonderen Maße die ärmeren
Länder. Eine IAO-Studie aus dem Jahr 2002 kommt zu dem Ergebnis, dass in
vielen Staaten der Dritten Welt die informellen Beschäftigungsverhältnisse
zwischen 50 und 80 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse ausmachen.

Heimarbeit nimmt in dieser Schattenwirtschaft einen herausragenden Platz ein.
Mit Heimarbeit bezeichnet das Ü 177 nicht selbständige Arbeiten gegen Ent-
gelt, die nicht in einer Arbeitsstätte des Arbeitgebers verrichtet wird, wobei
ungeachtet dessen Arbeitsprozess und -ergebnis weiterhin seinen Vorgaben
unterliegen. Im Zuge weltweiter Umstrukturierungsmaßnahmen haben trans-
nationale Konzerne seit den 80er Jahren zunehmend Produktionsbereiche aus-
gegliedert. Sie zielten dabei auf die Etablierung reduzierter Kernbelegschaften
ab, die die Vorprodukte aus einem weltweiten Netz kleinerer Zulieferfirmen
verarbeiten. An den Enden dieses globalen Zulieferernetzes arbeitet, vor allem
in Branchen wie der Textil-, Schuh- und Spielzeugindustrie, häufig eine Viel-
zahl von Heimarbeitern und Heimarbeiterinnen. Nach einer von den Vereinten
Nationen im Jahr 1998 veröffentlichten Studie befinden sich etwa in Botswana
77 Prozent aller „Betriebe“ in Haushalten; in Kenia beläuft sich die ent-
sprechende Zahl auf 32 Prozent, in Malawi auf 54 Prozent, in Simbabwe auf
77 Prozent.
Sobald ein Produktionsablauf aus einer betrieblichen Einrichtung auf die
Wohnstätten von Heimarbeitern ausgelagert wird, kommt es in aller Regel auch
zu einer Ausgliederung der Rechte der abhängig Beschäftigten. Sie müssen
selbst für die Produktionsvoraussetzungen sorgen und einen bedeutenden Teil
der Produktionsmittel aus eigener Tasche bezahlen. Sie bestreiten die Produk-
tionskosten für Heizung, Elektrizität und Miete aus ihrem Entgelt. Als verein-
zelte Beschäftigte haben sie wesentlich schlechtere Voraussetzungen, dem

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Arbeitgeber organisiert gegenüberzutreten, um kollektive Verhandlungen zu
führen. Insbesondere entziehen sich die Unternehmen der Verantwortung, ihren
Beitrag für die soziale Absicherung der Beschäftigten zu leisten. Heimarbeiter
und Heimarbeiterinnen haben in aller Regel keinen Anspruch auf Tariflohn
oder bezahlten Urlaub. In den Ländern des Südens existiert häufig überhaupt
keine Sozialversicherung. Schwere Krankheiten oder Unfälle führen zum Aus-
fall des unmittelbaren Einkommens, ebenso momentane Absatzschwierigkeiten
auf einem unsicheren Markt. In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ist
der Lohn im günstigsten Fall gerade so hoch, dass die in Heimarbeit Beschäf-
tigten davon existieren können. Zumeist verdienen sie trotz langer Arbeitszei-
ten aber nur ein Zubrot zum Familieneinkommen.

Schutzbedürftig sind vor allem Frauen, denn Heimarbeit ist zumeist Frauen-
arbeit. In europäischen Ländern wie Deutschland, Griechenland oder Italien
sind gemäß Schätzungen 90 Prozent der in Heimarbeit Beschäftigten weiblich.
Entsprechendes gilt für die Schwellen- und Entwicklungsländer. In Indien
werden beispielsweise die als Bidi bekannten kleinen Zigarren in Heimarbeit
zu 90 Prozent von Frauen hergestellt. In den informellen Arbeitsverhältnissen
genießen die Frauen aber keinerlei Mutterschutz. Deshalb führt die nahende
Geburt eines Kindes in Ländern ohne besondere Schutzgesetzgebung für Heim-
arbeiterinnen nahezu automatisch zum Verlust der eigenen Existenzgrundlage.

Die IAO ist mit dem Ü 177 einem dringenden Handlungsbedarf nachgekom-
men. Es garantiert in Artikel 4 die Anwendung von Kernarbeitsnormen und
anderen Standards für Millionen von Heimarbeitern und Heimarbeiterinnen
insbesondere im Hinblick auf das Recht der Interessenverbandsbildung, den
Schutz vor Diskriminierung, den Arbeitsschutz, das Entgelt, den Schutz durch
gesetzliche Systeme der sozialen Sicherheit, den Zugang zu Ausbildung, das
Mindestalter für die Zulassung zu Beschäftigung und den Mutterschutz. Das
Ü 177 verlangt auch die Einbeziehung der Heimarbeit in die Arbeitsstatistiken,
um den Zustand der gesellschaftlichen „Unsichtbarkeit“ dieser Tätigkeiten zu
beenden. Die systematische Erhebung von Daten zur Heimarbeit ist die Voraus-
setzung, um gezielt gesetzliche Maßnahmen im Interesse der Heimarbeiter und
Heimarbeiterinnen verabschieden zu können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein Gesetz zur Ratifizierung des am 22. April 2000 in Kraft getretenen Über-
einkommens der Internationalen Arbeitsorganisation über Heimarbeit (Ü 177)
vorzulegen;

2. sich im Rahmen von bilateralen Regierungsverhandlungen als auch im
Rahmen multilateraler Körperschaften wie den Vereinten Nationen oder der
WTO für die Ratifizierung des Übereinkommens über Heimarbeit (Ü 177)
durch weitere Staaten einzusetzen und die Umsetzung der von der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation geforderten Maßnahmen zur Förderung der
Gleichbehandlung von in Heimarbeit abhängig Beschäftigten mit anderen
Arbeitnehmern zügig einzuleiten.

Berlin, den 20. September 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2677

Begründung

In Deutschland gehen die Regelungen zur Heimarbeit, insbesondere die Be-
stimmungen in dem 1964 eingeführten Heimarbeitsgesetz, zum großen Teil
über die von der IAO beschlossenen Standards hinaus. Dennoch ist es wichtig,
dass der Deutsche Bundestag das Ü 177 ratifiziert.

Die IAO-Verfassung sieht in Artikel 19 Satz 8 vor, dass weitergehende natio-
nale Gesetze durch die Ratifizierung eines Übereinkommens nicht außer Kraft
gesetzt werden. Bessere nationale Gesetzgebung ist kein Ausschlussgrund für
die Ratifizierung internationaler Übereinkommen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist seit 1951 Mitglied in der IAO. Die Glaub-
würdigkeit gebietet es, dass die Bundesrepublik die international eingegange-
nen Verpflichtungen auch national umsetzt. Im Falle des Ü 177 hätte dies eine
Signalwirkung und trüge somit zur Setzung globaler Mindeststandards bei.
Heimarbeit gehört zu den ungeschütztesten Bereichen in den Entwicklungs-
ländern. Die Ratifizierung des Ü 177 durch ein wichtiges Geberland in der
internationalen Entwicklungszusammenarbeit übt Druck auf jene Partnerländer
des Südens aus, in denen elementare Grundrechte der Heimarbeiterinnen nicht
gewährleistet sind. Dies nützt auch den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen
in Deutschland, denn die globale Ratifizierung des Ü 177 würde ein völker-
rechtliches Bezugssystem eröffnen, das der internationalen Abwärtsspirale bei
den Arbeitsstandards entgegensteht.

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