BT-Drucksache 16/2077

Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten - Kinderarmut wirksam bekämpfen

Vom 29. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2077
16. Wahlperiode 29. 06. 2006

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Dr. Barbara Höll, Karin Binder, Klaus Ernst,
Elke Reinke, Jörn Wunderlich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion
DIE LINKE.

Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten – Kinderarmut wirksam bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen zählt zu den zentra-
len gesellschaftlichen Aufgaben der nächsten Jahre. Jedes Kind muss langfristig
einen individualisierten Anspruch auf eine existenz- und teilhabesichernde
Grundsicherung unabhängig vom Status der Eltern haben. Das Kinderhilfswerk
der Vereinten Nationen UNICEF hat ermittelt, dass die Kinderarmut in
Deutschland seit 1990 stärker angestiegen ist als in den meisten anderen Indus-
trienationen. Der dramatische Anstieg der Kinderarmut verlangt nach schneller
Abhilfe. Kurz- und mittelfristig muss mit Hilfe der vorhandenen Instrumente
Kindergeld und Kinderzuschlag der Anspruch auf ein Leben ohne Armut um-
gesetzt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Gewährung des Kinderzuschlags nach
§ 6a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) mit sofortiger Wirkung wie folgt
novelliert:

1. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden in Zukunft nicht mehr als
Teil der für den Bezug von Regelleistungen nach dem Zweiten und Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II und SGB XII) maßgeblichen Bedarfsge-
meinschaften gewertet. Eine eigenständige soziale Sicherung für Kinder von
Eltern mit geringem Einkommen wird geschaffen.

2. Da das Kindergeld nicht ausreicht, um das sozio-kulturelle Existenzmini-
mum von Kindern abzudecken, wird – in einem ersten Schritt – für Kinder
von Eltern mit geringen bzw. keinen Einkommen der Kinderzuschlag nach
§ 6a BKGG zu einer ergänzenden Leistung für Kinder ausgebaut. Als sozio-
kulturelles Existenzminimum ist von einem Betrag in Höhe von mindestens
420 Euro auszugehen. Der Kinderzuschlag steht zukünftig auch Kindern von

Empfängerinnen und Empfängern von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe
zur Verfügung. Er ersetzt die kindbezogenen Regelleistungen in den Sozial-
gesetzbüchern II und XII und setzt so erste Akzente in Richtung einer eigen-
ständigen sozialen Sicherung für Kinder. Entsprechend sind die Regelungen
des Bundeskindergeldgesetzes sowie der Sozialgesetzbücher II und XII an-
zupassen.

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3. Die bisher in § 6a BKGG enthaltene Mindesteinkommensgrenze, die die
Abgrenzung zum Leistungsbezug nach SGB II ermöglichen sollte, entfällt.

4. Bei der Prüfung des Anspruchs auf Kinderzuschlag und der Ermittlung sei-
ner individuellen Höhe ist zukünftig ausschließlich eine Obergrenze in Form
eines pauschalierten Höchsteinkommens der Eltern zu berücksichtigen. Das
pauschalierte Höchsteinkommen entspricht dem soziokulturellen Existenz-
minimum der Familie. Dieses besteht mindestens aus der Summe der pau-
schalierten Leistungen zum Lebensunterhalt sowie der angemessenen Kos-
ten für Unterkunft und Heizung, den Erwerbstätigenfreibeträgen des SGB II
und den zur Erzielung des Einkommens notwendigen Aufwendungen und
dem Existenzminimum des Kindes.

5. Die Befristung der möglichen Bezugsdauer des Kinderzuschlags auf 36 Mo-
nate ist aufzuheben.

Berlin, den 28. Juni 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die Einkommensarmut von Kindern hat in der Bundesrepublik Deutschland ei-
nen historischen Höchststand und eine neue Qualität erreicht. In 2005 erhielten
rund 1,6 Millionen Kinder unter 15 Jahren Sozialgeld nach dem SGB II bzw.
Sozialhilfe, während noch im Jahr 2004 knapp eine Million Kinder auf die
Sozialhilfe angewiesen waren. In den alten Bundesländern beträgt der Anteil
der einkommensarmen Kinder mehr als 11 Prozent, in den neuen Bundeslän-
dern mehr als 24 Prozent. Bundesweit lebt jedes 7. Kind in Armut.

Wesentliches, selbst gesetztes Ziel der rot-grünen Bundesregierung war es,
Kinder und Familien vor Armutsrisiken zu schützen und sie vor dem Bezug
von Arbeitslosengeld II zu bewahren. Aus diesem Grund führte sie einen Kin-
derzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz ein. Seit Januar 2005 können
Eltern, die ihren eigenen Bedarf durch Einkommen aus Erwerbsarbeit, Vermö-
gen oder Renten, nicht aber den zusätzlichen Bedarf ihrer Kinder in ausreichen-
der Höhe decken können, den Kinderzuschlag in Höhe von maximal 140 Euro
für eine Zeitdauer von bis zu 36 Monaten erhalten. Eine Umfrage der Bundes-
regierung im Jahr 2005 ergab, dass die überwiegende Mehrheit der Empfangen-
den des Kinderzuschlages bei einer freien Wahl zwischen Arbeitslosengeld II
und Kinderzuschlag letzteren bevorzugen würden, mit der Begründung, nicht
von staatlichen Leistungen abhängig sein zu wollen. Dies bestätigt den Ansatz,
zur Verhinderung von familienbezogener Abhängigkeit von Sozialtransfers
eine Leistung für Kinder mit Existenz sicherndem Niveau zu schaffen.

Allerdings wird die Ausgestaltung des § 6a BKGG diesem Ziel nicht annähernd
gerecht: Um den Kinderzuschlag zu erhalten, müssen Eltern mit ihrem
Erwerbs- bzw. Vermögenseinkommen u. a. eine Mindesteinkommensgrenze er-
reichen. Diese entspricht in der Höhe dem ihnen ohne die Berücksichtigung
ihrer Kinder zustehenden Arbeitslosensgeld II. Liegt das Einkommen der El-
tern nur knapp unter dieser Einkommensgrenze, erhalten sie keinen Kinder-
zuschlag, sondern müssen Arbeitslosengeld II bzw. für ihre Kinder Sozialgeld
beantragen. Eltern werden damit in die Abhängigkeit von Sozialtransfers ge-
drängt. Dies ist aber – nach Aussagen der Bundesagentur für Arbeit – von den

Antragstellerinnen und Antragstellern häufig nicht gewollt. Die geplanten Än-
derungen im Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2077

für Arbeitsuchende sind unzureichend, weil sie im Grundsatz weder etwas an
der komplizierten Berechnung des Kinderzuschlages ändern, noch zu einer
armutsfesten Grundsicherung für Kinder unabhängig von Status der Eltern und
außerhalb von Bedarfsgemeinschaften nach SGB II führen.

Das Existenzminimum von Kindern abzusichern ist eine gesellschaftliche Auf-
gabe. Politisches Ziel der nächsten Jahre muss daher sein, die Existenzsiche-
rung von Kindern unabhängig vom Status der Eltern als Recht des Kindes zu
gewährleisten. Die Berechnung des Kinderzuschlages unter Berücksichtigung
einer Mindest- und Höchsteinkommensgrenze ist nicht nur – nach Aussagen
der Bundesagentur für Arbeit – in der Praxis hoch kompliziert und nicht prakti-
kabel, sondern verknüpft den Leistungsbezug des Kindes unmittelbar mit der
Situation der Eltern. Die Eltern sehen sich häufig mit dem Problem konfron-
tiert, dass schwankende Einkünfte eine monatliche Neuberechnung erfordern
und die Familie zwischen Leistungsbezug nach SGB II und Kinderzuschlag
wechselt. Die komplizierte Berechnung und der schmale Korridor zwischen
Mindest- und Höchsteinkommensgrenzen führen zu Ablehnungsquoten für den
Kinderzuschlag von bis zu 83 Prozent, bei erheblichem Verwaltungsaufwand
für die Berechnung. Auch dies spricht dafür, den Kinderzuschlag zu einer kind-
bezogenen Leistung auszubauen und die Kinder zumindest für die Gewährung
der Regelleistungen aus der Bedarfsgemeinschaft herauszulösen. Aus Gründen
der Verwaltungsvereinfachung bleiben sie für die Berechnung der Leistungen
für Wohnung und Heizung, sowie die Erstausstattungen und Mehrbedarfe des
SGB II und SGB XII allerdings weiter Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft.

Um die Anspruchsberechtigung auch für Kinder von Empfängerinnen und
Empfängern von ALG II oder Sozialhilfe zu erreichen, fällt der untere Grenz-
betrag als Bedingung für die Gewährung des Kinderzuschlages weg. Eltern
steht es damit frei, – neben dem Kinderzuschlag – zur Deckung ihres eigenen
Bedarfes Arbeitslosengeld II bzw. Sozialhilfe zu beantragen. Die Gewährung
des Kinderzuschlages auch für Arbeitslosengeld II- und Sozialhilfebeziehende
löst darüber hinaus deren Kinder aus der Abhängigkeit von Sozialtransfers und
befreit sie von der daraus resultierenden gesellschaftlichen Stigmatisierung.
Das Risiko des „Vererbens“ von Armut der Eltern auf ihre Kinder sinkt. Gleich-
zeitig wird damit deutlich gemacht, dass Kinder ein Recht auf soziale Siche-
rung unabhängig vom Erwerbs- oder Vermögensstatus ihrer Eltern haben.

Aufgabe des Kinderzuschlages soll es sein, Kinder aus Einkommensarmut und
Abhängigkeit von sozialen Transfers zu lösen. Dazu ist es allerdings notwen-
dig, das soziokulturelle Existenzminimum der Kinder abzudecken. Aktuell be-
trägt der Kinderzuschlag maximal 140 Euro. Gemeinsam mit dem Kindergeld
erhalten Eltern mit niedrigen Einkommen damit nach aktuellem Stand 294 Euro.
Diese Summe reicht jedoch nicht aus, um das Existenzminimum von Kindern
abzudecken.

Die Reform des Kinderzuschlages eröffnet kurzfristig die Chance, Kinder aus
dem familienbedingten Armutsrisiko zu befreien. Gleichzeitig stellt sie einen
Schritt in Richtung einer Grundsicherung für Kinder dar. Diese stellt sicher,
dass alle Kinder, unabhängig vom sozialen Status ihrer Eltern, gleiche Entwick-
lungschancen erhalten.

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