BT-Drucksache 16/1879

Für demokratische internationale Entscheidungsprozesse statt G8

Vom 20. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1879
16. Wahlperiode 20. 06. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Heike Hänsel, Hans-Kurt Hill, Dr. Barbara Höll,
Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Eva Bulling-Schröter, Dr. Diether Dehm,
Wolfgang Gehrcke, Lutz Heilmann, Dr. Hakki Keskin, Katrin Kunert, Michael
Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Dr. Kirsten Tackmann,
Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Für demokratische internationale Entscheidungsprozesse statt G8

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vom 15. bis 18. Juli 2006 treffen in St. Petersburg/Russland die Regierungschefs
der so genannten G8-Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien,
Japan, Kanada, Russland, USA) zusammen. Auf den Gipfeltreffen der G8 wer-
den regelmäßig Verabredungen von globaler Tragweite getroffen. Über die all-
jährlichen Gipfeltreffen hinaus koordiniert die G8, zum Beispiel auf der Ebene
informeller Fachministertreffen und in Expertenrunden, die Politik der mäch-
tigsten Staaten in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fragen von globaler
Bedeutung. Dabei hat die G8 ihr Themenspektrum während der letzten Jahre
stetig erweitert. Sie nimmt Einfluss auf die Geschäftspolitik von IWF und Welt-
bank, trifft Absprachen im Kampf gegen den Terrorismus und zur Abwehr von
Flüchtlingen, zu Klimaschutz, Schuldenproblematik, Energiefragen und zur Re-
form der Vereinten Nationen.

An den G8-Treffen nehmen Regierungen von Staaten teil, in denen insgesamt
ein knappes Siebtel der Weltbevölkerung lebt. Es werden in dieser Runde aber
politische und ökonomische Entscheidungen gefällt, die Auswirkungen auf die
gesamte Weltwirtschaft und auf Entwicklungschancen vieler Länder und Regio-
nen haben – insbesondere solcher Länder und Regionen, die auf den G8-Tagun-
gen nicht mit am Tisch sitzen. Gleichzeitig werden mit der Verlagerung von
grundlegenden politischen und ökonomischen Entscheidungen auf die Ebene
von Absprachen zwischen Regierungen, ohne Kontrolle und Gestaltungsmög-
lichkeit der nationalen Parlamente und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die
demokratisch gewählten Parlamente entmachtet. Für die Tragweite der Themen,
über die der G8-Gipfel entscheidet, fehlt ihm die Legitimität.

Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass sich auf den Sozialforen neue demokra-
tische Wege der politischen Auseinandersetzung und Meinungsbildung im inter-

nationalen Maßstab zunehmend erfolgreich erproben und dass dort Alternativen
zur herrschenden neoliberalen Wirtschafts- und Entwicklungsdoktrin erarbeitet
werden. Die Kritik an der Politik der G8 und allgemeiner an der Machtan-
maßung der G8-Regierungen drückt sich außerdem in regelmäßigen massiven
Protesten gegen die G8-Gipfeltreffen aus. Den Gipfel 2005 in der britischen
Ortschaft Gleneagles begleiteten rund 200 000 Demonstrantinnen und Demons-
tranten. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Proteste, die zum G8-Gipfel in

Drucksache 16/1879 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

St. Petersburg angekündigt wurden, und ruft die russische Regierung auf, diese
Proteste nicht zu behindern.

Das neoliberale Wirtschafts- und Entwicklungsmodell, das die G8 repräsentiert,
hat Lebens- und Entwicklungschancen vieler Menschen und Regionen im Süden
und im Norden zerstört und nur wenige am wachsenden Wohlstand beteiligt.
Dass dieses Modell weltweit an Bindungskraft verliert, zeigen beispielsweise
die politischen Veränderungen in Lateinamerika und Europa. In vielen Ländern
werden Vertreterinnen und Vertreter dieses Modells abgewählt und soziale und
demokratische Alternativen diskutiert und eingefordert. Die aktuellen regiona-
len Integrationsbestrebungen in Lateinamerika, die den Versuch unternehmen,
internationale Beziehungen partnerschaftlich zu organisieren, stellen ein Gegen-
modell zu den bisherigen dominanzgeprägten Nord-Süd-Beziehungen dar. Die
erfolgreiche Mobilisierung gegen neoliberale Projekte in Europa (Scheitern des
Verfassungsentwurfs, Protest gegen die Dienstleistungsrichtlinie, erfolgreicher
Widerstand in Frankreich gegen die Arbeitsmarktreform) stellt die Politik der
G8 zusätzlich in Frage.

Der russische Präsident und Gastgeber des diesjährigen G8-Gipfels, Vladimir
Putin, hat angekündigt, die globale Energiesicherheit zu einem zentralen Thema
des Gipfels machen zu wollen. Als Basis hat er einen „Saint-Petersburg Plan of
Action – Global Energy Security“ vorgelegt. Geplant und koordiniert werden
soll nach Vorschlag Russlands die globale Energiepolitik künftig von regelmä-
ßigen jährlichen Treffen der Energieminister der G8 mit den Vorsitzenden der
Internationalen Energieagentur, des Internationalen Energieforums, der OPEC
und der führenden Energieimporteure und -exporteure.

Kernstück soll die Liberalisierung der globalen Energiemärkte sein. Der freie
Markt für Konzerne im Energiesektor soll ausgebaut, politische und administra-
tive Hindernisse sollen beseitigt, letztlich soll die Möglichkeit einer nachhal-
tigen staatlichen Energiepolitik zugunsten des freien Marktes aufgegeben werden.
Die hohen Investitionen der Unternehmen für die Rohstoffgewinnung sollen
durch langfristige Lieferverträge abgesichert werden. Damit wird einerseits die
Ausbeutung von Rohstoffen in Entwicklungsländern durch Konzerne aus den
Industrieländern forciert. Ihr „natürlicher Reichtum“, oftmals der einzige, den
sie haben, wird auf diese Weise in die Industrieländer transferiert. Anderseits
wird die nationale Gestaltungsfreiheit in der Energiepolitik durch die langfris-
tige Bindung an Produzenten zumindest stark eingeschränkt. Durch den Saint-
Petersburg Plan of Action würde das schon heute beträchtliche Erpressungs-
potenzial der Energiekonzerne weltweit gestärkt werden.

Der Zugriff auf Energierohstoffe war schon immer ein wichtiger Grund für krie-
gerische Handlungen. Bei knapper werdenden Ressourcen steigt damit auch die
Kriegsgefahr. In der G8 sind Länder versammelt, die sich auch in der Vergan-
genheit nicht gescheut haben, gewaltsame Aktivitäten von der Unterstützung
von Umstürzen bis hin zu Kriegen für ihre Rohstoffinteressen zu unternehmen.
Deshalb darf die globale Energiepolitik nicht allein diesen mächtigsten Indus-
trienationen überlassen werden.

Energiepolitisch setzt der „Saint-Petersburg Plan of Action – Global Energy
Security“ weiterhin auf die hohe Abhängigkeit von fossilen und nuklearen
Energieträgern und will deren Produktion steigern. Die Nutzung regenerativer
Energieträger wird zwar ebenfalls erwähnt, auffällig ist jedoch das Fehlen jeg-
licher Zielvorgaben für den Ausbau erneuerbarer Energien. Auf dem vorbereiten-
den G8-Ministertreffen am 16. März 2006 in Moskau warb die russische Regie-
rung für den Ausbau der Atomkraft und insbesondere für Programme zur Ver-
sorgung von Entwicklungsländern mit Atomenergie.

Vehikel für den weltweiten Ausbau der Atomenergienutzung soll die Einrich-

tung von Internationalen Brennstoffzentren unter Aufsicht der Internationalen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1879

Atomenergiebehörde (IAEA) sein. In diesen „Dienstleistungszentren“ sollen die
kompletten Arbeiten der Brennstoffketten stattfinden, inklusive Urananreiche-
rung und Atommülllagerung. Den Entwicklungs- oder Schwellenländern wer-
den Atomkraftwerke inklusive den fertigen Brennstoffen verkauft, finanziert
von den Regionalen Entwicklungsbanken unter der Ägide der Weltbank. Die
Tatsache, dass in der Weltbank tatsächlich über den Einstieg in die Förderung
von Atomenergie im Rahmen von Entwicklungskrediten nachgedacht wird, ver-
leiht den russischen Vorschlägen eine beträchtliche Brisanz.

Von der Bundesregierung werden gegenwärtig unterschiedliche Signale zu die-
sem Thema ausgesandt. Während die Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, erklärt (vgl.
Interview in der „Frankfurter Rundschau“ vom 2. Mai 2006), gegen die Finan-
zierung der Atomenergie durch die Weltbank Front zu machen, verwies Bundes-
kanzlerin Angela Merkel zu den Vorschlägen Vladimir Putins lediglich auf die
Atomausstiegspläne in Deutschland, verlautbarte aber keine Kritik an der
Haltung des russischen Präsidenten.

Eine langfristige Weichenstellung für die Intensivierung der Ausbeutung der
konventionellen Energieträger ist der falsche Weg und zementiert die derzeitige
umwelt- und klimaschädliche Energieversorgung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert ungeachtet der grundsätzlichen Kritik an
der G8 die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass

1. der „Saint-Petersburg Plan of Action – Global Energy Security“ zurück-
gewiesen wird. Die Bundesregierung muss sich für eine international ge-
rechte und ökologisch verträgliche Energiepolitik einsetzen, bei der die un-
terschiedlichen Akteure mit ihren unterschiedlichen Interessen gleichberech-
tigt agieren können;

2. staatliche Gestaltungsmöglichkeiten auf dem Energiesektor nicht einge-
schränkt werden. Im Gegenteil sollen solche Bemühungen unterstützt wer-
den, die – wie in Bolivien – darauf abzielen, die Verfügung über die Energie-
quellen, Energieerzeugung und -distribution wieder stärker unter demokra-
tische Kontrolle zu stellen. Versorgungssicherheit für alle zu sozial verträg-
lichen Preisen muss Vorrang vor den Profitinteressen der Konzerne haben;

3. es keinen Einstieg der Weltbank in die Finanzierung von Atomenergie gibt
und dass davon Abstand genommen wird, den Bau von Atomkraftwerken in
Ländern der Dritten Welt mit Entwicklungskrediten zu fördern. Die Bundes-
regierung darf keine Festlegungen treffen, die den Ausbau der Atomenergie-
nutzung befördern, sondern muss sich gerade auch vor dem Hintergrund der
Erfahrungen von Tschernobyl international für einen Ausstieg aus der Atom-
energienutzung einsetzen;

4. der Ausbau der erneuerbaren Energien und eine effiziente Nutzung von
Energie als Kernbeiträge für eine nachhaltige Energieversorgung in den Mit-
telpunkt einer internationalen Energiepolitik gestellt und entsprechende Ziel-
vorgaben festgelegt werden. Öffentliche Mittel dürfen nicht weiter in die
Finanzierung der Atomenergienutzung gesteckt werden, sondern müssen in
ausreichendem Maße für erneuerbare Energien und Energieeinsparungsmaß-
nahmen zur Verfügung gestellt werden;

5. auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg und auf künftigen Treffen der G8 auf
allen Ebenen darauf verzichtet wird, Entschlüsse herbeizuführen, durch wel-
che die politischen Handlungsspielräume nicht beteiligter Staaten einge-
schränkt werden. In diesem Sinne muss darauf verzichtet werden, Verabre-
dungen der G8 über multinationale Institutionen oder durch ökonomischen

bzw. diplomatischen Druck gegenüber an der Beschlussfassung Unbeteilig-

Drucksache 16/1879 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
ten durchzusetzen. Regionale Integrationsbestrebungen in Lateinamerika
und andernorts dürfen nicht durch bilaterale und multilaterale Freihandels-
und Assoziierungsabkommen behindert werden;

6. die Kritikerinnen und Kritiker der G8 in St. Petersburg die Möglichkeit
haben, ihren Protest ohne Angst vor Repressionen vorzubereiten und deutlich
und gewaltfrei zu artikulieren. Diejenigen, die zur Teilnahme an Protestkund-
gebungen oder Demonstrationen nach Russland einreisen wollen, dürfen da-
ran nicht gehindert werden;

7. eine freie Berichterstattung in vollem Umfang sichergestellt wird;

8. Verhandlungen über Themen von globaler Bedeutung grundsätzlich vor der
globalen Öffentlichkeit und unter Einbeziehung aller Betroffenen bzw. ihrer
Vertretungen geführt und parlamentarisch kontrolliert werden;

9. Verabredungen zu global relevanten Themen nicht im Rahmen der G8, son-
dern im Rahmen von legitimierten Gremien unter umfassender Beteiligung
aller Staaten und unter ausdrücklicher Berücksichtigung der betroffenen In-
teressen getroffen werden und dass dabei die gleichberechtigte Partizipation
der Entwicklungs- und Schwellenländer sowie die Einbindung der Parla-
mente und der Nicht-Regierungsorganisationen gewährleistet werden. Den
geeigneten Rahmen dafür würden in ihren Kompetenzen gestärkte und demo-
kratisierte Vereinte Nationen abgeben.

Berlin, den 31. Mai 2006

Ulla Lötzer
Heike Hänsel
Hans-Kurt Hill
Dr. Barbara Höll
Monika Knoche
Hüseyin-Kenan Aydin
Eva Bulling-Schröter
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Lutz Heilmann
Dr. Hakki Keskin
Katrin Kunert
Michael Leutert
Dr. Norman Paech
Paul Schäfer (Köln)
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.