BT-Drucksache 16/1878

Für einen sozial gerechten Mindestlohn in Deutschland

Vom 20. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1878
16. Wahlperiode 20. 06. 2006

Antrag
der Abgeordneten Werner Dreibus, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost,
Karin Binder, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Für einen sozial gerechten Mindestlohn in Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

● Mehr als 6 Millionen Beschäftigte arbeiten derzeit Vollzeit zu Niedriglöhnen
(weniger als drei Viertel des durchschnittlichen Bruttoeinkommens in
Deutschland). Darunter sind mehr als 3 Millionen Beschäftigte, davon mehr
als 70 Prozent Frauen, die sich mit einem Armutslohn (weniger als der Hälfte
des durchschnittlichen Bruttoeinkommens) begnügen müssen. Darüber hinaus
arbeiten mehrere Millionen Menschen in geringfügigen Beschäftigungsver-
hältnissen und in Teilzeit zu Prekär- und Armutslöhnen. Auch hiervon sind
überwiegend Frauen betroffen.

● Zur Eindämmung von Niedriglohnbeschäftigung tragen Mindeststandards
für die Entlohnung bei.

● Mindestlohnregelungen, die auf einer tariflichen Lohnfindung basieren, kön-
nen diesen Anspruch unter den Bedingungen der fortschreitenden Erosion
der tariflichen Lohnfindung allein nicht erfüllen. Die Ausbreitung tariffreier
und sog. tarifschwacher Zonen macht eine Ergänzung und Stabilisierung der
tariflichen Lohnfindung durch einen gesetzlichen Mindestlohn notwendig.

● Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist zudem eine notwendige
Maßnahme zur Verringerung der Entgeltungleichheit zwischen Frauen und
Männern, die in Deutschland im europaweiten Vergleich besonders hoch ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Einführung eines Systems dualer
Mindestlöhne zum 1. Januar 2007 sicherstellt.

Das System dualer Mindestlöhne zeichnet sich aus durch die Kopplung eines
gesetzlich festgelegten Mindestlohns mit tariflich vereinbarten und per Ge-
setz fixierten, branchenbezogenen Mindestlöhnen. Der gesetzliche Mindest-
lohn bildet die allgemeine Untergrenze der Entlohnung. Liegen die untersten
Tarifentgelte einer Branche über dieser gesetzlichen Mindestanforderung, er-

klärt sie der Gesetzgeber auf Antrag einer der Tarifparteien zum Mindestlohn
der jeweiligen Branche.

Diesem Grundsatz entsprechend soll der Gesetzentwurf für einen dualen
Mindestlohn folgende Eckpunkte aufweisen:

a) Über ein Mindestentgeltgesetz wird ein allgemeingültiger Bruttostunden-
lohn als gesetzlicher Mindestlohn festgesetzt. Der gesetzliche Mindest-

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lohn gilt für alle in Deutschland abhängig beschäftigten Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer.

b) Das Gesetz bestimmt als Einstieg in den gesetzlichen Mindestlohn einen
Lohn von 8 Euro brutto pro Stunde.

Nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist dieser mindestens
jährlich anzupassen. Die Anpassungen folgen dem Grundsatz, dass Voll-
zeiterwerbsarbeit ein Einkommen oberhalb der Grenze für Armutslöhne
(50 Prozent des Durchschnittseinkommens aus abhängiger Erwerbsarbeit)
ermöglichen muss.

Das Gesetz sieht die Möglichkeit einer zeitlich befristeten, stufenweisen
Einführung des Mindestlohns in Unternehmen derjenigen Branchen vor,
die nicht kurzfristig dazu in der Lage sind, ihren Beschäftigten einen Min-
destlohn von 8 Euro zu zahlen.

c) Das Mindestentgeltgesetz regelt gleichzeitig, dass in den Branchen, in de-
nen die tariflich vereinbarten Mindestentgelte über dem gesetzlichen Min-
destlohn liegen, diese Tarife als allgemeinverbindlich für die jeweiligen
Branchen erklärt werden.

Zu diesem Zweck wird das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) so
verändert, dass die bisherige Beschränkung auf spezielle Branchen auf-
gehoben wird. Ebenso muss der Gesetzgeber im Rahmen des Mindest-
entgeltgesetzes sicherstellen, dass die in Branchentarifverträgen fest-
gelegten untersten Entgelte – unabhängig vom regionalen Geltungsbereich
der Verträge – auf Antrag einer Tarifpartei vom Bundesminister für Arbeit
und Soziales per Rechtsverordnung als allgemeinverbindlich erklärt wer-
den können.

d) Das Mindestentgeltgesetz legt fest, dass die Modalitäten der Einführung
und der Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns von der Bundesregie-
rung erst nach der Konsultation der Tarifparteien und wissenschaftlicher
Expertinnen und Experten bestimmt werden. Dazu wird ein nationaler
Mindestlohnrat eingerichtet, dessen Mitglieder auf Vorschlag der Tarif-
parteien vom Bundesminister für Arbeit und Soziales ernannt werden. Der
Rat wird paritätisch (Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Wissen-
schaft) und geschlechterparitätisch besetzt.

Neben den Empfehlungen für die jährlichen Anpassungsschritte erarbeitet
der Mindestlohnrat konkrete Vorschläge für die stufenweise Einführung
des Mindestlohns in den Branchen, in denen der Lohn bislang deutlich un-
ter der Einstiegsgröße von 8 Euro liegt.

Zu den weiteren Aufgaben des Mindestlohnrates gehören regelmäßige,
geschlechtersensible Untersuchungen der Entwicklung des Niedriglohn-
sektors, der Wirkung des Mindestlohns auf die Wirtschafts-, Einkom-
mens- und Beschäftigungsentwicklung, die Gleichstellung der Geschlech-
ter sowie Untersuchungen der Wettbewerbssituation der betroffenen
Branchen und Unternehmen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben wird der
Mindestlohnrat durch den Bund entsprechend materiell ausgestattet.

e) Zur wirksamen Durchsetzung des Mindestlohns definiert das Gesetz Kon-
trollmechanismen, Sanktionen bei Verstößen und es räumt die Möglich-
keit der Verbandsklage ein;

2. bei der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns solche Konzepte zurück-
zuweisen, die eine nicht armutssichere Höhe von Mindestlöhnen (unter
8 Euro) erlauben, die nicht alle in Deutschland Beschäftigten erfassen, die die
Einführung von Mindestlöhnen mit der Zahlung von Lohnsubventionen ver-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1878

binden (Kombilohn) und die Ausweitung von Niedriglohnbeschäftigung zum
Ziel haben.

Berlin, den 16. Mai 2006

Werner Dreibus
Ulla Lötzer
Dr. Barbara Höll
Dr. Axel Troost
Karin Binder
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

1. Mit der Verankerung des dualen Mindestlohns sollen in erster Linie die Aus-
beutung von Lohnabhängigen beschränkt und Arbeit ohne Armut garantiert
werden: Ein Lohn, der Arbeit ohne Armut ermöglicht, stellt die Mindest-
anforderung an eine sozial gerechte Gegenleistung für Erwerbsarbeit dar.
Bei einer Vollzeitbeschäftigung muss ein Arbeitseinkommen oberhalb der
Grenze für Armutslöhne erzielt werden. Die international übliche Grenze für
Armutslöhne liegt bei 50 Prozent des Durchschnittseinkommens für eine
Vollzeitbeschäftigung.

Mit der Einführung einer Untergrenze für Erwerbseinkommen würde der
duale Mindestlohn dem seit Jahren anhaltenden Rückgang der Real- und
Nominaleinkommen in allen Einkommensbereichen entgegenwirken, indem
er der weit verbreiteten Praxis des Lohndumpings einen wirksamen Riegel
vorschiebt.

2. Mit dem Einstieg von 8 Euro brutto pro Stunde würde gegenwärtig ein Ein-
kommen ermöglicht, das mindestens auf der Höhe der Pfändungsfreigrenze
(derzeit 985 Euro) liegt. Mit der Pfändungsfreigrenze hat der Gesetzgeber
eine Schwelle angegeben, unter die das Einkommen aus Arbeit auch dann
nicht sinken darf, wenn der Arbeitende verschuldet ist. Mit 8 Euro Stunden-
lohn würde sich Deutschland im Mittelfeld seiner westeuropäischen Nach-
barländer bewegen. Der Einstieg in den Mindestlohn mit 8 Euro berücksich-
tigt außerdem, dass das Ziel von Löhnen oberhalb von 50 Prozent des Durch-
schnitteinkommens (derzeit wären das 8,80 Euro pro Stunde) dann zu errei-
chen ist, wenn den Unternehmen eine Anpassungsphase ermöglicht wird.

3. Mit der Definition eines Stundenentgelts als gesetzlichen Mindestlohn wird
der fortschreitenden Ausdifferenzierung von Beschäftigungsformen Rech-
nung getragen. Ein Stundenentgelt erfasst neben Vollzeiterwerbstätigkeit
auch Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse, befristete Beschäftigungsverhält-
nisse, Scheinselbstständige, Mini- und Midijobs etc.

4. Der gesetzliche Mindestlohn ist bundesweit einheitlich. Damit unterstützt er
die Gleichstellung von Männern und Frauen (zwei Drittel der Beschäftigten
im Niedriglohnsektor sind Frauen), die Angleichung der Arbeits- und Lebens-
bedingungen in Ost und West und er verleiht dem Sozialstaatsprinzip
Ausdruck, nach dem der Staat allen arbeitenden Menschen einen gerechten,
menschenwürdigen Lohn ermöglichen soll. Die duale Struktur des Mindest-
lohns verhindert einerseits flächendeckend Armutslöhne und sie ermöglicht
andererseits eine Differenzierung von Löhnen entsprechend den unterschied-

lichen Produktivitätsniveaus von Branchen – der duale Mindestlohn differen-
ziert auf stabiler Grundlage.

Drucksache 16/1878 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
5. Die Einführung, Anpassung und Ausgestaltung der gesetzlichen Säule des
Mindestlohns erfolgt so, dass die Normsetzungskompetenz der Tarifparteien
bei der Lohnfindung gewahrt wird. Der Mindestlohnrat stützt durch die Ein-
bindung der Tarifparteien das Gebot der Tarifautonomie. Mit der tariflichen
Säule des Mindestlohns wird die Tarifautonomie gestärkt und eine branchen-
bezogene Ausgestaltung von Mindestlöhnen ermöglicht.

6. Mit der Verbesserung der Einkommen durch den dualen Mindestlohn würden
auch die Zuflüsse der Sozialversicherungssysteme erhöht und die öffent-
lichen Haushalte durch die Verringerung von Transferzahlungen an Bezieher
niedrigster Löhne entlastet. Der duale Mindestlohn würde die Lohnkonkur-
renz zwischen Unternehmen begrenzen, die Produktivitätsentwicklung in
den betroffenen Unternehmen anregen und über die Stärkung der Einkom-
men für eine verbesserte Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen sor-
gen.

7. In 18 von 25 EU-Staaten gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Bei unseren
westeuropäischen Nachbarn liegt dieser derzeit zwischen 7,36 und 8,69 Euro.
Die Erfahrungen bezüglich einkommens- und arbeitsplatzbezogener Wirkun-
gen sind durchweg positiv. Sowohl für die USA als auch für Großbritannien
weisen aktuelle Untersuchungen nach, dass durch die Einführung oder die
Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns die Beschäftigung nicht abgenom-
men hat, aber die Einkommenssituation vieler Menschen deutlich verbessert
wurde: Allein in Großbritannien hat sich seit der Einführung des gesetzlichen
Mindestlohns im Jahr 1999 die wirtschaftliche Situation von über 1 Million
Beschäftigten verbessert.

8. Zur Weiterentwicklung der europäischen Integration bedarf es auch einer
europäischen Mindestlohnpolitik. Nur so lässt sich eine Lohnkonkurrenz auf
dem Rücken der Beschäftigten vermeiden. Die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns in Deutschland unterstützt den Integrationsprozess. Sie schafft
eine Voraussetzung für die Festlegung europaweit einheitlicher Kriterien zur
Bestimmung der Höhe nationaler Mindestlöhne. Damit würde ein bedeuten-
der Schritt zur Umsetzung der – in der EU-Gemeinschaftscharta der sozialen
Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 erhobenen – Forderung getan,
wonach allen Beschäftigten ein gerechtes Arbeitsentgelt zu garantieren ist.

9. Mit der Möglichkeit einer stufenweisen Einführung des gesetzlichen Min-
destlohns in Unternehmen derjenigen Branchen, die nicht kurzfristig dazu in
der Lage sind, ihren Beschäftigten einen Mindestlohn von 8 Euro zu zahlen,
erhalten die betroffenen Unternehmen die Möglichkeit, die Lohnsteigerun-
gen aus eigener Kraft zu bewältigen (beispielsweise durch Produktivitätsstei-
gerung), ohne in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu kommen. Zur Einfüh-
rung des gesetzlichen Mindestlohns sollen keine direkten oder indirekten
Lohnsubventionen gezahlt werden. Lohnsubventionen würden Mitnahme-
effekte erzeugen und zur Verdrängung regulärer durch subventionierte Be-
schäftigungsverhältnisse führen. Die mittelfristigen Folgen dieser Effekte
wären die Absenkung des gesamten Lohngefüges und die Ausweitung von
Niedriglohnbeschäftigung: Für die Unternehmen bedeutet die Subventionie-
rung der untersten Einkommensklasse de facto eine Absenkung der dort ge-
zahlten Löhne. In der Folge werden Unternehmen versuchen, neue Beschäf-
tigte verstärkt in die unterste Einkommensklasse einzuordnen, um Lohnsub-
ventionen zu erhalten. Durch die Absenkung der Löhne entstünde zudem für
die Unternehmen ein Anreiz, die unmittelbar über den subventionierten Ein-
kommen liegende Tätigkeiten in die unterste, die subventionierte, Einkom-
mensklasse herabzustufen.

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