BT-Drucksache 16/1644

Alternativen zum Heim schaffen - Ambulante Angebote für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln und ausbauen

Vom 30. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1644
16. Wahlperiode 30. 05. 2006

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Britta Haßelmann,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, Elisabeth Scharfenberg,
Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Alternativen zum Heim schaffen – Ambulante Angebote für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln und ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Ausbau ambulanter Versorgungsformen für Menschen mit Behinderungen
ist zentrale Aufgabe einer zukunftsweisenden, nachhaltigen und emanzipativen
Sozialpolitik. Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderun-
gen in unserer Gesellschaft ist ohne Wohnformen, die ein Maximum an Selbst-
bestimmung ermöglichen, nicht denkbar.

Die Schaffung alternativer Angebote zur Unterbringung in Heimen und Son-
dereinrichtungen wird in Deutschland noch immer nicht konsequent angegan-
gen. Im Gegenteil: Nach wie vor fließen öffentliche Gelder in den Bau neuer
Wohnheime, obwohl diese Gelder dringend zur Entwicklung ambulanter Ange-
bote benötigt werden.

Dabei wird häufig außer Acht gelassen, dass es auch handfeste finanzielle
Gründe gibt, die ein schnelles Umlenken von Sozialausgaben in ambulante
Angebote notwendig machen: Die langfristige Finanzierbarkeit der Eingliede-
rungshilfe für Menschen mit Behinderungen muss durch einen umfassenden
Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen sichergestellt werden.

Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren mit dem Neunten Buch Sozial-
gesetzbuch (SGB IX), dem trägerübergreifenden Persönlichen Budget und dem
Vorrang ambulanter Leistungen nach dem reformierten Sozialhilferecht wich-
tige Voraussetzungen zum Ausbau ambulanter Vorsorgungsangebote geschaf-
fen.

Parallel zu diesen gesetzgeberischen Maßnahmen hat sich in Deutschland eine
breit angelegte interdisziplinär arbeitende Begleitforschung etabliert, mit der
die Umsetzung dieser neu eingeführten sozialrechtlichen Instrumente evaluiert
werden soll. Dazu gehört vor allem die Begleitforschung in den 14 Modellregi-
onen trägerübergreifender persönlicher Budgets.
Gleichzeitig haben sich in der Praxis diese Reformansätze zugunsten ambu-
lanter Versorgungsformen bisher nicht in ausreichendem Maße durchsetzen
können. Im Gegenteil: Der seit den 1990er Jahren festzustellende massive Aus-
gabenzuwachs bei der Eingliederungshilfe in stationären Einrichtungen hat sich
auch in den vergangenen Jahren ungemindert fortgesetzt.

Diese Entwicklung wurde in der Vergangenheit von den Bestrebungen einzel-
ner Bundesländer wie etwa Bayern und Baden-Württemberg begleitet, die

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kommunalen Haushaltsaufwendungen für die Eingliederungshilfe durch eine
Deckelung der Ausgaben und damit durch eine Verschlechterung der Versor-
gungsleistungen für Behinderte zu begrenzen.

Angesichts der weiterhin zu erwartenden Kostensteigerungen der Eingliede-
rungshilfe muss der Ausbau ambulanter Strukturen in Deutschland entschiede-
ner angegangen werden. Wenn nicht umgehend entsprechende Maßnahmen zur
Förderung ambulanter Versorgungsstrukturen eingeleitet werden, ist zu erwar-
ten, dass sich spätere Reformansätze bei der Eingliederungshilfe ausschließlich
auf eine Kostenbegrenzung durch Leistungsabbau konzentrieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. durch eine Strukturreform der Eingliederungshilfe die notwendigen Voraus-
setzungen dafür zu schaffen, dass langfristig die Sozialhilfeträger in ihrer
Leistungsfähigkeit nicht überfordert werden und zugleich das individuelle
Bedarfsdeckungsprinzip für Menschen mit Behinderungen nicht in Frage
gestellt wird.

Dies kann durch eine umfassende Strukturreform der Eingliederungshilfe
zugunsten der Förderung ambulanter Versorgungsformen erreicht werden.
Um eine Lenkungswirkung zu entfalten, muss mit dieser Strukturreform die
ambulante Versorgung künftig deutlich besser gestellt werden. Dabei
müssen Leistungsempfänger und Kostenträger gleichermaßen finanzielle
Anreize zur ambulanten Versorgung erhalten. Aktuelle Musterberechnungen
des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) haben gezeigt, dass die Kosten
der Sozialhilfeträger für ambulante Versorgungsformen selbst dann deutlich
geringer ausfallen, wenn hierbei auf den Einsatz von Einkommen, Ver-
mögen und Unterhalt der Leistungsempfänger verzichtet wird. Bei diesen
Berechnungen sind bereits die Fälle einbezogen, die aufgrund ihres hohen
Pflege- und Assistenzbedarfs deutlich höhere Kosten bei ambulanter Versor-
gung verursachen als bei stationärer Unterbringung.

2. die Weiterentwicklung der trägerübergreifenden persönlichen Budgets noch
in der aktuell laufenden Modellphase voranzubringen.

Die bisherigen Zwischenauswertungen der Modellprojekte haben gezeigt,
dass es auf Seiten der Leistungsberechtigten ebenso wie auf Seiten der Leis-
tungsträger noch erhebliche Informationsdefizite und Unsicherheiten über
die genaue Ausgestaltung persönlicher Budgets gibt. Da die Leistungsemp-
fänger nach dem SGB XII ab Januar 2008 einen Rechtsanspruch auf ihre
Leistungen in Form eines trägerübergreifenden persönlichen Budgets haben,
muss die Bundesregierung auf diese Vorbehalte dringend mit einer gezielten
öffentliche Informationskampagne reagieren. Ebenfalls muss sie die zustän-
digen Leistungsträger zu einer verlässlichen trägerübergreifende Koopera-
tion bewegen.

Hierzu sind konkrete gesetzgeberische Vorgaben erforderlich: Die Leis-
tungsträger werden verpflichtet, gemeinsame Widerspruchsstellen für alle
Leistungsentscheidungen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation, der
beruflichen Teilhabe und der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu
bilden. Bei Auseinandersetzungen über trägerübergreifende Leistungen im
Rahmen der persönlichen Budgets binden die Entscheidungen der gemeinsa-
men Widerspruchsstelle sämtliche beteiligten Rehabilitationsträger.

Berlin, den 30. Mai 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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