BT-Drucksache 16/1542

Fortführung und Verstetigung der Programme gegen Rechtsextremismus

Vom 18. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1542
16. Wahlperiode 18. 05. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Diana Golze, Petra Pau, Klaus Ernst, Karin Binder,
Jörn Wunderlich, Frank Spieth, Elke Reinke, Jan Korte, Dr. Gregor Gysi,
Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Fortführung und Verstetigung der Programme gegen Rechtsextremismus

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit dem Jahr 2001 gibt es das vom Bund finanzierte und im Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) angesiedelte Aktions-
programm „Jugend für Toleranz und Demokratie – Gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Durch die Teilprogramme Civitas,
Entimon und Xenos wurden seit 2001 über 4 000 Projekte unterstützt, die sich
mit den Themen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus
auseinandergesetzt haben, und deren Nachhaltigkeit durch die begleitende
Evaluation und die wissenschaftliche Begleitforschung dokumentiert ist.

Die erschreckend starke Zunahme rechtsextremer Straftaten 2005, ausgehend
von einem ohnehin schon sehr hohen Niveau, die weitere Verfestigung von
rechtsextremen Strukturen in zahlreichen Regionen des Landes und die stetigen
Zugewinne für Parteien der extremen Rechten zeigen, dass die durch die
Bundesprogramme unterstützte Arbeit gegen Rechtsextremismus weiterhin
dringend notwendig ist.

Durch das Auslaufen des Bundesprogramms Ende des Jahres 2006 sind diese
Strukturen in ihrem Bestand gefährdet. Über finanzielle Probleme hinaus
besteht für die Beschäftigten/sonstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Programme die existenzielle Notwendigkeit, sich neue Arbeitsmöglichkeiten zu
suchen. Das Ende laufender Projekte wird so möglicherweise beschleunigt oder
sogar faktisch vorgezogen. Die aktuellen Diskussionen im BMFSFJ über die
mögliche Auflage eines neuen Programms mit einer zunächst geplanten Er-
gänzung und Akzentverschiebung auf die Themen Linksextremismus und
religiöser Extremismus haben die Verunsicherung innerhalb der Projekte noch
verstärkt. Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und auch die Beobachtungen
der Verfassungsschutzämter weisen den Rechtsextremismus als die wesentliche
aktuelle Gefahr für die Demokratie aus. Ein Erhalt erfolgreicher Projekte und
die eindeutige Fokussierung auf die Gefahr des Rechtsextremismus bleiben

daher unabdingbar.

Insbesondere die über das Programm Civitas geförderten Strukturprojekte „Mo-
bile Beratung gegen Rechtsextremismus“, „Beratung für Opfer rechtsextremer
Gewalt“ und „Netzwerkstellen“ haben in den vergangenen Jahren zu einer Ver-
stetigung und Professionalisierung der Arbeit gegen Rechtsextremismus ge-
führt. Im Entwurf des BMFSFJ für ein neues Bundesprogramm tauchen diese
Projekte überhaupt nicht mehr auf. Ihr Wegfall würde das Ende der begleitenden

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Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt, das Ende der meisten fachspezi-
fischen Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer und Lehrerinnen und Menschen aus
der Jugendarbeit und das Ende der systematischen Unterstützung von zivilge-
sellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus bedeuten. Eine über fünf
Jahre aufgebaute professionelle Beratungsstruktur steht damit zur Disposition.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in direkter Nachfolge zu den Bundesprogrammen Civitas und Entimon ist ab
dem Jahr 2007 ein neues Bundesprogramm zur Förderung von Initiativen und
Projekten aufzulegen, die sich, der aktuellen Situation entsprechend, aus-
schließlich mit den Gefahren von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit,
Antisemitismus und Gewalt befassen;

2. für dieses Bundesprogramm hat die Bundesregierung ab dem Jahr 2007 ins-
gesamt mindestens das bisherige Fördervolumen von jährlich 19 Mio. Euro
bereitzustellen. Bei einer Ausweitung der Aufgaben ist dieser Betrag entspre-
chend zu erhöhen;

3. sicherzustellen, dass vor einem Programmstart verbindliche Zusagen von den
beteiligten Ländern und Kommunen für eine begleitende Finanzierung des
neuen Aktionsprogramms gemacht werden;

4. für die bisher über das Bundesprogramm Civitas geförderten Struktur-
projekte „Mobile Beratungsteams“, „Beratung von Opfern rechtsextremer
Straf- und Gewalttaten in den neuen Bundesländern“ und „Vernetzung des
zivilgesellschaftlichen Engagements im Gemeinwesen“ sowie für die Koor-
dination dieser Projekte eigenständige finanzielle Mittel mindestens in der
Höhe wie 2006 bereitzustellen. Die Bewirtschaftung der entsprechenden Mit-
tel ist nach ihrer Bewilligung an eine geeignete Institution des Bundes in
einer Weise zu übertragen, die es erlaubt, die Förderung der entsprechenden
Projekte als dauerhafte Aufgabe des Bundes zu etablieren;

5. bis zum Ende des Jahres 2006 ein Konzept zur Ausweitung der unter den
Nummern 1 und 4 genannten Förderbereiche auf ausgewählte Regionen
Westdeutschlands zu entwickeln und die entsprechenden Finanzmittel für
diese Ausweitung bereitzustellen;

6. für das weiterhin vom BMFSJF bewirtschaftete Fördervolumen eine Kon-
zeption zu entwickeln, die sicherstellt, dass es zu keinerlei Kürzungen bei der
Förderung von Maßnahmen und Projekten zur Bekämpfung von Rechts-
extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus kommt, solange es
den entsprechenden Förderbedarf gibt.

Berlin, den 18. Mai 2006

Ulla Jelpke
Diana Golze
Petra Pau
Klaus Ernst
Karin Binder
Jörn Wunderlich
Frank Spieth
Elke Reinke
Jan Korte
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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Begründung

Mit dem Aktionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie – Gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ wurde ein Teil
der Maßnahmen umgesetzt, die in einem gemeinsamen Antrag der Fraktionen
SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und PDS in der 14. Wahlperiode ge-
fordert wurden (Bundestagsdrucksache 14/5456). Grund war das anhaltend
hohe Potenzial rechtsextremer Gewalt und Organisierung: Seit 1990 wurden
mehr als 100 Menschen durch rechtsextreme Schläger umgebracht. Rechtsext-
reme Gewalt verstetigte sich auf einem hohen Niveau.

Die Gefährdungen durch den Rechtsextremismus haben seit dem Start des
Programms keineswegs nachgelassen, im Gegenteil: In zahlreichen Regionen
Ostdeutschlands, aber genauso in westdeutschen Regionen lässt sich eine zu-
nehmende Verfestigung rechtextremer Strukturen beobachten. Regionale Domi-
nanzräume von Rechtsextremisten bestehen sowohl in manchen Stadtteilen und
Dörfern wie auch in zahlreichen Jugendeinrichtungen. Über die stark angestie-
gene Zahl rechtsextremer Musikveranstaltungen werden insbesondere Jugend-
liche an die Szene herangeführt. Das Zusammenwirken von NPD und so ge-
nannter Kameradschaftsszene hat die Mobilisierungsfähigkeit der extremen
Rechten in vielen Regionen erhöht. Seit den Wahlen in Sachsen und Branden-
burg sehen sich auch die rechtsextremen Wahlparteien in einem Aufschwung.
Nach wie vor hält die vom Rechtsextremismus ausgehende Gewalt gegen
Migrantinnen und Migranten, gegen Linke, Homosexuelle, Obdachlose und
andere Gruppen auf einem hohen Niveau an.

Trotz dieser anhaltenden Gefährdungslage gibt es zahlreiche ermutigende
Zeichen von antifaschistischem und bürgerschaftlichem Engagement, das nicht
zuletzt durch die über das Programm Civitas geförderten Strukturprojekte unter-
stützt wird. Insbesondere durch diese Projekte haben sich in Ostdeutschland seit
2001 feste Strukturen etabliert, die eine professionelle Arbeit vor Ort gewähr-
leisten. Mit den Mobilen Beratungsteams, den Opferberatungsstellen und den
Netzwerkstellen wurde ein Netz von Initiativen geschaffen, das den besonderen
Anforderungen bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus in Ostdeutschland
Rechnung trägt. Diese Strukturprojekte sind regional verankerte Anlaufstellen
und wichtige Kristallisationspunkte zivilgesellschaftlichen Engagements gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in zahlreichen
Regionen Ostdeutschlands. Initiativen, Kommunen, Schulen und Jugend-
einrichtungen vor Ort greifen auf die Kompetenz der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter dieser Projekte zurück, ohne die in manchen Regionen die wenigen
Aktiven auf verlorenem Posten stünden.

Diese erfolgreiche Arbeit gilt es auf ausgewählte Regionen Westdeutschlands
auszuweiten, um auch hier einer sich verfestigenden extremen Rechten sub-
stanzielles entgegenzusetzen. Die mittelfristige Ausweitung von professionellen
Arbeitsstrukturen auf ausgewählte Regionen Westdeutschlands ist für eine nach-
haltige Bekämpfung des Rechtsextremismus unabdingbar. Dieses Vorhaben ist
dringlicher als eine fachlich nicht solide begründbare Verwendung der vorhan-
denen Fördermittel für die Beschäftigung mit Islamismus und Links-
extremismus.

Die wissenschaftliche Begleitforschung zum Programm Civitas und die Rück-
meldungen aus den Bundesländern zeigen, dass die professionelle Beratungs-
arbeit der Strukturprojekte ein unverzichtbarer Bestandteil des Engagements
gegen Rechtsextremismus ist. Eine solche Arbeit kann jedoch nur langfristig
Wirkungen erzielen, setzt sie doch eine Etablierung in den jeweiligen Regionen
und ein Vertrauensverhältnis zu den regional Handelnden voraus. Um dies zu
gewährleisten, ist eine Verstetigung dieser Projekte erforderlich, die die von

konjunkturellen Wellen gekennzeichnete Beschäftigung mit dem Thema

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Rechtsextremismus durch eine dauerhafte Arbeit ablöst. Die aufgebauten Kom-
petenzen und Strukturen müssen erhalten werden.

Die Gründe für den sich verstetigenden Rechtsextremismus und die mit ihm
einhergehenden Einstellungsmuster sind vielfältig und keineswegs auf Ost-
deutschland beschränkt, wenngleich hier eine besondere Situation festzustellen
ist. Die Befunde etwa von Wilhelm Heitmeyer u. a. (Deutsche Zustände) zeigen
eine Zunahme an autoritären, demokratieskeptischen und Minderheiten aus-
grenzenden Positionen. In Verbindung mit einer sich weiter verschärfenden
sozialen Lage für viele Menschen und der damit verbundenen Zukunftsangst
entwickelt sich ein Potenzial, das für die extreme Rechte ansprechbar ist. Diese
Entwicklungen können von den gegenwärtig arbeitenden Projekten gegen
Rechtsextremismus nicht beeinflusst werden. Der Maßstab für den Erfolg ihrer
Arbeit kann deshalb nicht an der allgemeinen Entwicklung der extremen Rech-
ten, sondern nur an der Entwicklung demokratischen Engagements in den Re-
gionen gemessen werden, in denen die Projekte arbeiten. Die tiefer liegenden,
vor allem auch die sozialen Ursachenkomplexe für den Rechtsextremismus
müssen Gegenstand einer umfassenden politischen Auseinandersetzung werden

Diese von der Politik zu bearbeitenden Ursachenkomplexe des Rechtsextre-
mismus, – zu denen sicher auch die immer prekärere soziale Lage für zahlreiche
Menschen in unserem Land zählt –, lassen sich auch für große Teile West-
deutschlands ausmachen. Auch hier verzeichnet die extreme Rechte Erfolge,
auch hier gibt es ein dichtes Netz von rechtsextremen Strukturen. Rassistische
Gewalt und die Verfestigung der rechtsextremen Szene machen auch hier ein
dauerhaftes und finanziell abgesichertes Engagement notwendig.

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