BT-Drucksache 16/13367

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen zum Europäischen Rat am 18. und 19. Juni 2009 in Brüssel

Vom 17. Juni 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13367
16. Wahlperiode 17. 06. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Lothar Bisky, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger,
Dr. Hakki Keskin, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des
Auswärtigen

zum Europäischen Rat am 18. und 19. Juni 2009 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Europäische Rat hatte auf seiner Tagung am 15. Dezember 2001 in
Laeken selbstkritisch zum Zustand der Europäischen Union festgestellt:
„Viele (Bürgerinnen und Bürger der EU) finden auch, dass die Union stärker
auf ihre konkreten Sorgen eingehen müsste und sich nicht bis in alle Einzel-
heiten in Dinge einmischen sollte, die eigentlich besser den gewählten Ver-
tretern der Mitgliedstaaten und der Regionen überlassen werden sollten.
Manche erleben dies sogar als Bedrohung ihrer Identität. Was aber vielleicht
noch wichtiger ist: Die Bürger finden, dass alles viel zu sehr über ihren Kopf
hinweg geregelt wird, und wünschen eine bessere demokratische Kontrolle.“
Diese Aussage ist heute nach wie vor aktuell. Sie wird durch das weitere Ab-
sinken der Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament
EU-weit auf den neuen Tiefpunkt von 43,2 Prozent unterstrichen.

2. Die Bundesregierung und auch die übrigen Regierungen der Mitgliedstaaten
weigern sich, auf den Zusammenhang von neoliberaler Ausrichtung der EU,
Deregulierung und Finanzkrise einzugehen. Sie sind offenbar nicht bereit, die
entsprechenden wirtschaftspolitischen Festlegungen im EG-Vertrag kritisch
in Frage zu stellen. Stattdessen haben sie diese im Wesentlichen unverändert
in den Vertrag von Lissabon übernommen und wollen diesen Vertrag ohne
unmittelbare Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger durchsetzen.
Das ist geeignet, Desinteresse und Ablehnung gegenüber der Europäischen
Union weiter zu steigern.

3. Die Beschwörung eines „Sozialen Europa“ wird von denen, die von Arbeits-

losigkeit, Ausgrenzung und Armut betroffen und bedroht sind, nicht geglaubt
und nicht selten als Verhöhnung empfunden. Zu häufig fallen in der Politik
auch in diesem Zusammenhang Worte und Taten von politischen Akteuren
auseinander. So haben kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament die
Parteien DIE LINKE., die SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemein-
same Positionspapiere mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ver-
abredet, in denen die Aufnahme einer „Soziale Fortschrittsklausel“ in das Pri-

Drucksache 16/13367 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
märrecht der EU in dem Sinne gefordert wird, dass die sozialen Grundrechte
im Konfliktfall den Grundfreiheiten des Kapitals vorgehen müssen. Die For-
derung, einen entsprechenden Antrag im Deutschen Bundestag noch vor der
Wahl zum Europäischen Parlament zu behandeln und zu verabschieden,
wurde abgelehnt.

4. Signale gegen eine stärker sozial ausgerichtete Politik der EU gehen im Vor-
feld der Tagung des Europäischen Rats auch von Initiativen zur vorzeitigen
„politischen“ Nominierung des Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso
aus, der eindeutiger Repräsentant einer neoliberalen Politik der EU-Kommis-
sion ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert:

1. Auf dem bevorstehenden Europäischen Rat sind von der Bundesregierung
alle Initiativen zu unterlassen, nach dem negativen Votum bei der Volks-
abstimmung in Irland eine erneute Abstimmung über den Vertrag von Lissa-
bon herbeizuführen und durch fragwürdige Zusagen ein anderes Ergebnis er-
reichen zu wollen oder entsprechende Initiativen anderer zu unterstützen.

2. Die Bundesregierung soll stattdessen auf der Tagung am 18. und 19. Juni
2009 vorschlagen, einen umfassenden Diskussionsprozess darüber einzulei-
ten, mit welchen Inhalten neue vertragliche Grundlagen der Europäischen
Union die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten
erreichen könnten.

3. Die Bundesregierung soll dabei darauf dringen, dass angesichts der gegen-
wärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise insbesondere folgende Festlegungen
in den geltenden Verträgen wie in dem Vertrag von Lissabon zur Disposition
gestellt werden: die Ausrichtung auf den „Grundsatz einer offenen Markt-
wirtschaft mit freiem Wettbewerb“, die Regelungen über Staatliche Beihil-
fen, der „Stabilitätspakt“, das Verbot der Regulierung des Kapital- und des
Zahlungsverkehrs. Zugleich soll sie auf die ausdrückliche Aufnahme einer
sozialen Fortschrittsklausel in das Primärrecht bei der nächsten Vertrags-
änderung drängen, gegebenenfalls im Zusammenhang mit der nächsten Auf-
nahme eines weiteren Mitglieds in die EU.

4. Unabhängig von der anzustrebenden Änderung des Primärrechts soll die
Bundesregierung eine Erklärung des Europäischen Rats vorbereiten und auf
der bevorstehenden Tagung zur Abstimmung stellen, in der die Mitgliedstaa-
ten möglichst einstimmig bekunden sollen, dass das Ziel der „Förderung des
wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts“ (Artikel 2 des EU-Vertrages) ver-
bindlich auch in dem Sinne zu verstehen ist, dass die wirtschaftlichen Grund-
freiheiten des europäischen Binnenmarkts keinen Vorrang vor sozialen
Grundrechten und Zielen haben und dass die sozialen Grundrechte im Kon-
fliktfall vorgehen.

5. Die Bundesregierung soll nur solche Kandidatinnen und Kandidaten für die
Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten und der übrigen Kommis-
sionsmitglieder unterstützen, die dafür eintreten, dass der Inhalt einer „sozia-
len Fortschrittsklausel“ zwischen Kommission, Rat und Parlament politisch
verbindlich vereinbart wird. An Versuchen, vorab Vorentscheidungen für die
Nominierung und Wahl des jetzigen Kommissionspräsidenten José Manuel
Barroso durchzusetzen, darf sich die Bundesregierung nicht beteiligen.

Berlin, den 17. Juni 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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