BT-Drucksache 16/12723

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/11607, 16/12715- Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr

Vom 22. April 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12723
16. Wahlperiode 22. 04. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Karin Binder, Dorothee Menzner, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Dietmar Bartsch, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, Lutz
Heilmann, Hans-Kurt Hill, Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Kirsten Tackmann
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/11607, 16/12715 –

Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die
Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im
Eisenbahnverkehr

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesregierung hat sich gegen die Einführung weitergehender fahrgast-
freundlicher Regelungen im Schienenverkehr entschieden. Ihr Gesetzentwurf
übernimmt die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 für den Fernverkehr
nahezu unverändert. Die betreffende Verordnung setzt jedoch lediglich Mindest-
standards und belässt den Staaten die Möglichkeit, weitergehende Regelungen
zugunsten der Fahrgäste zu schaffen. Diese Chance für eine verbraucherfreund-
lichere Entschädigungsregelung hat die Bundesregierung ungenutzt gelassen.

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

über die Mindeststandards der EU-Verordnung hinauszugehen und:

1. die Mindestentschädigung für Fahrgäste bei einer Verspätungen von 30 bis
59 Minuten auf 25 Prozent und bei einer Verspätung ab 60 Minuten auf
50 Prozent des vollen Fahrpreises gesetzlich festzulegen;

2. zu regeln, dass bei einer Entschädigung von unter vier Euro wegen Gering-

fügigkeit vom Beförderungsunternehmen auch ein Gutschein ausgegeben
werden kann, statt eine Entschädigungszahlung zu leisten. Eine Geringfügig-
keitsklausel, die Entschädigungen gänzlich ausschließt, ist nicht zulässig;

3. bei der Regelung der Entschädigungszahlungen die durchgehende Reisekette
vom tatsächlichen Abfahrtsort bis zum tatsächlichen Zielort der Fahrgäste zu
berücksichtigen;

Drucksache 16/12723 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

4. zu regeln, dass bei einer Verspätung das Umsteigen von einem Regional- auf
einen Fernverkehrszug nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob der
Fernverkehrszug reservierungspflichtig ist bzw. ob ein erheblich ermäßigtes
Beförderungsentgelt gezahlt wurde. Fahrgäste müssen bei Verspätungen stets
das Recht haben, ohne Mehrkosten ein anderes, auch höher tarifiertes Ver-
kehrsmittel des öffentlichen Personenverkehrs zu nutzen. Darüber hinaus
muss auch eine zu erwartende erhebliche Störung des Betriebsablaufs das
Umsteigen in einen anderen Zug möglich machen;

5. nach Mitternacht auch bei einer beliebigen kürzeren Verspätung eine Weiter-
fahrt mit anderen Verkehrsmitteln auch im Fernverkehr zu ermöglichen, so-
fern eine direkte Weiterfahrt bis zum tatsächlichen Zielort sonst unmöglich
würde. Auf Wunsch des Fahrgastes ist für die Weiterfahrt ein Gutschein für
andere Beförderungsunternehmen zur Verrechnung mit dem die Verspätung
verursachenden Unternehmen auszustellen, insbesondere wenn allein rei-
sende Kinder und Jugendliche betroffen sind;

6. die Informationspflichten der Eisenbahnverkehrsunternehmen im Schienen-
personennahverkehr insbesondere über Anschlussverbindungen und Rechte
beim Kauf eines Fahrausweises durch das deutsche Umsetzungsgesetz nicht
einzuschränken;

7. an der Konzeption zur Einrichtung einer verkehrsträgerübergreifenden und
unabhängigen Schlichtungsstelle die Fahrgast- und Verbraucherverbände zu
beteiligen sowie eine paritätische Mitwirkung der Verbraucherinnen und Ver-
braucher bzw. Bahnkundinnen und Bahnkunden in der Endgestaltung und
Besetzung der Schlichtungsstelle sicherzustellen. Sicherzustellen ist auch
deren langfristige Finanzierung. Die Anschrift der Beschwerde- und Schlich-
tungsstelle ist auf dem Fahrausweis zu vermerken.

Berlin, den 21. April 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Zahlreiche Normen der Verordnung, wie zum Beispiel Artikel 17 Absatz 1
Satz 2 in Verbindung mit Anhang I, Titel IV Kapitel II, Artikel 32 Absatz 3
Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 belegen, dass es sich bei der Verord-
nung um eine Mindestharmonisierung handelt. So gibt es weitergehende Fahr-
gastrechte in anderen EU-Staaten (zum Beispiel die Niederlande). Gebunden ist
lediglich der grenzüberschreitende Verkehr. Außerdem enthält die Verordnung
keine explizite Regelung zur Vollharmonisierung, wie sie derzeit auf EU-Ebene
zum Beispiel bei den Festlegungen zu Verbraucherrechten praktiziert wird.

Zu Nummer 1

Eine weitergehende Entschädigungsregelung lässt Artikel 17 Absatz 1 Satz 2
in Verbindung mit Anhang I, Titel IV Kapitel II, Artikel 32 Absatz 3 Satz 1
der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 zu. Die hier vorgeschlagenen Verspä-
tungsregeln waren Vorschläge der Verbraucherschutzministerkonferenz vom
13./14. September 2007. Diese Entschädigungsregelung würde wenigstens
annähernd in Relation zu der Wertminderung einer Reise durch Verspätung
stehen. Dabei müssen Erstattungen am vollen Fahrpreis bemessen werden,

hierbei sind insbesondere auch die Bahnkundinnen und -kunden mit Netz- oder
Dauerkarten zu berücksichtigen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12723

Zu Nummer 2

Artikel 17 Absatz 3 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 ermöglicht den
Eisenbahnverkehrsunternehmen in den Beförderungsbedingungen Geringfügig-
keitsklauseln für Entschädigungen bis maximal vier Euro festzulegen. Das wird
jedoch nicht den Realitäten des Schienenpersonennahverkehrs gerecht, in denen
nach derzeitigem Gesetzentwurf ein Einzelfahrschein mehr als 16 Euro kosten
muss, um bei einer Verspätung von 60 bis 119 Minuten eine Entschädigung von
mehr als vier Euro, also 25 Prozent des Preises der Fahrkarte zu erhalten. Eine
Bagatellgrenze würde somit die Mehrheit von Erstattungen, insbesondere bei
Fahrten im Personennahverkehr, von vornherein ausschließen.

Zu Nummer 3

Die Entschädigung gilt laut Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 nur für den auf der
Fahrkarte angegebenen Abfahrts- und Zielort des Eisenbahnverkehrsunterneh-
mens, das die Verspätung verursacht hat. Keine Beachtung finden damit die
Folgeverspätungen in der individuellen Reisekette des Fahrgastes. Für den Fahr-
gast ist jedoch die gesamte Reisekette entscheidend und daher auch in die Ver-
spätungsregel einzubeziehen. Von der Entschädigung umfasst werden müssen
auch verpasste Anschlüsse zu sonstigen öffentlichen Verkehrmitteln wie Busse,
Straßenbahnen oder Fähren, die die Reisezeit weiter verspäten bzw. ein Ankom-
men am tatsächlichen Zielort unmöglich machen. Außerdem werden vor allem
im Schienenpersonennahverkehr immer mehr Strecken nicht mehr von der
Deutschen Bahn AG (DB AG), sondern von privaten oder anderen Eisenbahn-
unternehmen befahren, so dass ein Kombi-Fahrkarten-Kauf oft nicht möglich
ist.

Zu Nummer 4

Die derzeit vorgeschlagenen Regelungen schließen das Recht, auf einen Fern-
verkehrszug umzusteigen, aus, wenn dieser reservierungspflichtig ist oder ein
erheblich ermäßigtes Beförderungsentgelt bezahlt wurde (Artikel 3 Nummer 3,
§ 5 des Gesetzentwurfs). Zwar sind die Fernverkehrszüge in Deutschland der-
zeit nicht reservierungspflichtig, doch könnten die Reiseverkehrsunternehmen
dieses Fahrgastrecht durch einseitige Änderung der Beförderungsbedingungen
ins Leere laufen lassen. Unklar ist außerdem, ab wann ein Beförderungsentgelt
als erheblich ermäßigt bezeichnet werden kann. Nicht berücksichtigt ist die
Situation, dass Fahrgäste ein Wochenendticket nutzen, das nur etwas unter dem
normalen Preis für ein Fern- oder Nahverkehrsausweis liegt und dafür als „Min-
derwert“ die längere Fahrzeit und viele Umsteigepflichten in Kauf nehmen. Die
Formulierung „erhebliche Störung des Betriebsablaufs“ im neuen § 8 Absatz 3
der Eisenbahn-Verkehrsordnung (Artikel 3 Nummer 4 des Gesetzentwurfs) ist
zu auslegungsbedürftig. Die Erfahrungen zeigen, dass in Verspätungssituationen
ein gutes Krisenmanagement der Eisenbahnverkehrsunternehmen Vorausset-
zung für Kundinnen- und Kundenzufriedenheit ist.

Zu Nummer 5

Ausweislich Artikel 3, Nummer 6, § 17 des Gesetzentwurfs besteht die Mög-
lichkeit, ein anderes Verkehrsmittel zu benutzen, nur bei Verspätungen im Schie-
nenpersonennahverkehr und mit Fahrausweisen des öffentlichen Personennah-
verkehrs. Die Situation kann auch Fernverkehrsreisende betreffen. Nicht gere-
gelt ist außerdem, wie die gegebenenfalls erheblichen Kosten für die Weiterfahrt
in einem anderen Verkehrsmittel gezahlt werden sollen. Dies betrifft insbeson-
dere Fahrgäste ohne EC-Karte, mit geringem finanziellem Budget oder auch
Kinder und Jugendliche, die kaum Bargeld mitführen.

Drucksache 16/12723 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Zu Nummer 6

Teile der Informationspflichten im Nahverkehr werden durch den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung im Vergleich zu den Vorgaben der Verordnung (EG)
Nr. 1371/2007 eingeschränkt. Im Einzelnen werden Artikel 8 Absatz 2, Arti-
kel 18 Absatz 2a und Artikel 29 Absatz 1 Satz 1 der VO (EG) Nr. 1371/2007
ausgeschlossen. Der neue § 14 der Eisenbahn-Verkehrsordnung (Artikel 3
Nummer 5 des Gesetzentwurfs) stellt nur einen Teil der Pflichten aus der Ver-
ordnung dar. Hierbei fehlt insbesondere die Pflicht, über wichtige Anschluss-
verbindungen zu informieren. Informationen über die Rechte der Fahrgäste wer-
den im Nahverkehr nur beim Kauf am Schalter gewährt. Die Praxis zeigt, dass
gerade im Nahverkehr und auf kleineren Bahnhöfen, die nicht mehr durch
Bahnpersonal besetzt sind, Fahrausweise am Fahrkartenautomaten gekauft wer-
den (müssen). Andere Betreiber als die DB AG bieten überwiegend Fahrkarten-
verkauf im Zug an, weil die DB AG dritten Bahnen den Zugang zu ihren Auto-
maten oder die Aufstellung von eigenen Automaten verweigert. Durch die Be-
schränkung im Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Informationspflichten
nur beim Kauf am Schalter werden somit die Informationsrechte vieler Fahr-
gäste beschnitten.

Zu Nummer 7

Zwar sind in der Formulierungshilfe der Bundesregierung vom 14. April 2009
konkrete Regelungen für die Schlichtungsstelle vorgesehen; jedoch handelt es
sich hierbei um „Kann-Vorschriften“. Damit sind eine verkehrsträgerübergrei-
fende Schlichtungsstelle und die paritätische Beteiligung der Bahnkundinnen
und Bahnkunden nicht gesichert. An der Erstellung des Konzeptes sind nicht nur
die Unternehmen, sondern auch die Verbraucher- bzw. Bahnkunden- oder Fahr-
gastverbände zu beteiligen.

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