BT-Drucksache 16/12473

Kernbereichsschutz bei technischen Überwachungsmaßnahmen umfassend gewährleisten

Vom 25. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12473
16. Wahlperiode 25. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Max
Stadler, Christian Ahrendt, Mechthild Dyckmans, Hartfrid Wolff (Rems-Murr),
Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst
Burgbacher, Patrick Döring, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth),
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff,
Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, Hellmut Königshaus,
Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann,
Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Michael Link (Heilbronn),
Markus Löning, Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt
Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Detlef Parr, Cornelia Pieper, Frank Schäffler,
Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar,
Dr. Daniel Volk, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Kernbereichsschutz bei technischen Überwachungsmaßnahmen umfassend
gewährleisten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 3. März 2004 zur
akustischen Wohnraumüberwachung (1 BvR 2378/98) und seither in ständiger
Rechtsprechung festgestellt, dass es einen absolut unantastbaren Kernbereich
privater Lebensgestaltung gibt, in den der Staat nicht eindringen darf. Der
Schutz des Kernbereichs kann dabei auch nicht gegen andere Rechtsgüter abge-
wogen werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat in genannter Entscheidung zur akustischen
Wohnraumüberwachung weiterhin verlangt, dass die Aufzeichnung des gespro-
chenen Worts in Wohnungen abgebrochen werden muss, sobald der Kernbereich
berührt ist.

Sofern trotz dieser strikten Vorgaben dennoch in den Kernbereich eingegriffen
wurde, muss unverzüglich eine Löschung der erhobenen Daten erfolgen.
In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP zum „Kern-
bereichsschutz bei technischen Überwachungsmaßnahmen“ (Bundestagsdruck-
sache 16/12081) erklärt die Bundesregierung, dass derzeit eine ausschnittsweise
Löschung kernbereichsrelevanter Daten von Aufzeichnungen im Bereich der
Wohnraum- und Telekommunikationsüberwachung technisch nicht ohne Weite-
res möglich ist. Eine Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts

Drucksache 16/12473 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

zum Kernbereichsschutz im Hinblick auf sequentielle Löschungen befinde sich
in Fällen der Wohnraumüberwachung für Bundeskriminalamt, Bundespolizei
und Zollfahndung „in Vorbereitung“. Im Bereich der Sprachtelefonie soll „bis
spätestens Anfang 2010“ eine Lösung gefunden werden. Im Bereich der Über-
wachung von „IP-Verkehren“ würden erst „konzeptionelle Vorarbeiten mit
hoher Priorität“ vorangetrieben. Aus Sicht der Bundesregierung bedürfe es „in
einem Übergangszeitraum bis zur vollständigen Gewährleistung durch techni-
sche Lösungen der Prüfung im Einzelfall, ob die Löschung der gesamten Auf-
nahmesequenz erforderlich ist oder auch andere technische Lösungen, wie bei-
spielsweise eine sequentielle Sperre oder ein teilweises Überspielen nicht
kernbereichsrelevanter Sequenzen auf einen anderen Datenträger, möglich sind,
um so den verfassungsgerichtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen“. Die Bun-
desregierung verkennt dabei, dass den verfassungsgerichtlichen Vorgaben auf
die vorgeschlagene Weise keinesfalls Rechnung getragen werden kann. Das
Bundesverfassungsgericht hat unzweifelhaft klargestellt, dass kernbereichsrele-
vante Daten unverzüglich und dauerhaft zu löschen sind.

Die Bundesregierung verweist in ihrer Antwort weiterhin darauf, dass die ver-
fassungsgerichtliche Vorgabe, wonach Aufzeichnungen abzubrechen sind, wenn
der Kernbereich berührt wird, nicht praktikabel sei. Die Bundesregierung ver-
weist darauf, dass das Bundesverfassungsgericht ein zweistufiges Schutz-
konzept zum Kernbereichsschutz für den Bereich der heimlichen Onlinedurch-
suchung für noch verfassungsgemäß hält. Dabei verkennt die Bundesregierung,
dass das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 27. Februar 2008
(1 BvR 370/07) ausschließlich für Fälle, in denen „es – wie bei dem heimlichen
Zugriff auf ein informationstechnisches System – praktisch unvermeidbar“ ist,
„Informationen zur Kenntnis zu nehmen, bevor ihr Kernbereichsbezug bewertet
werden kann“, einen Anwendungsbereich für das zweistufige Schutzkonzept
eröffnet hat. Im Übrigen gilt nach wie vor, dass Daten aus dem Kernbereich
privater Lebensgestaltung nicht erhoben werden dürfen. Daraus lässt sich nicht
ableiten, dass grundsätzlich nunmehr Eingriffe in den Kernbereich zulässig sind,
auch wenn es gerade nicht „technisch unvermeidbar“ ist. Weder bei der Wohn-
raumüberwachung noch bei der Telefonüberwachung ist ein der Onlinedurch-
suchung technisch vergleichbarer Sachverhalt gegeben.

Weiterhin verkennt die Bundesregierung, dass das Bundesverfassungsgericht in
der genannten Entscheidung zu den heimlichen Onlinedurchsuchungen für die
Anwendung des zweistufigen Schutzkonzepts zur unabdingbaren Vorausset-
zung einen „hinreichenden Schutz in der Auswertungsphase“ gemacht hat.
Demnach müssen „insbesondere aufgefundene und erhobene Daten mit Kern-
bereichsbezug unverzüglich gelöscht und ihre Verwertung ausgeschlossen wer-
den“. Eben dies aber ist nach den Ausführungen der Bundesregierung gerade
nicht möglich.

Die Bundesregierung erklärt weiterhin, dass durch automatisches Aufzeichnen
bei Überwachungsmaßnahmen ein „Aushebeln“ des Kernbereichsschutzes nicht
gegeben sei. Zugleich stellt sie aber fest, dass „technische Such- oder Aus-
schlussmechanismen zur Bestimmung der Kernbereichsrelevanz beim auto-
matisierten Verfahren bislang nicht möglich“ sind. Mithin können schon rein
technisch die Vorgaben des Verfassungsgerichts, wonach die Maßnahme ab-
zubrechen ist, wenn der Kernbereich berührt wird, nicht eingehalten werden.
Damit ist das automatische Aufzeichnen jedenfalls in Fällen, in denen nicht
zwingende technische Gründe ein anderes Verfahren nicht zulassen, verfas-
sungsrechtlich zu hinterfragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung umfassend zu ge-
währleisten,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12473

2. insbesondere dafür Sorge zu tragen, dass grundsätzlich Daten aus dem Kern-
bereich privater Lebensgestaltung nicht erhoben werden,

3. bis zur Sicherstellung geeigneter technischer Verfahren, mit denen den Vor-
gaben des Bundesverfassungsgerichts zur unverzüglichen Löschung dennoch
aufgefundener oder aufgezeichneter kernbereichsrelevanter Daten vollum-
fänglich Rechnung getragen wird, auf Maßnahmen zu verzichten, bei denen
nicht sichergestellt ist, dass eine Erhebung von Daten aus dem Kernbereich
grundsätzlich vermieden wird,

4. den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Abbruch der Maßnahme
bei Kernbereichsbezug zur Geltung zu verhelfen, indem automatische Auf-
zeichnungen nur in Fällen stattfinden, in denen dies technisch unumgänglich
ist,

5. in Fällen, in denen automatische Aufzeichnungen erfolgen, durch geeignete
technische Maßnahmen wie Such- und Ausschlussmechanismen den verfas-
sungsrechtlich gebotenen Abbruch der Maßnahme zu sichern.

Berlin, den 25. März 2009

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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