BT-Drucksache 16/1203

Flugticketabgabe jetzt - Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundlagen stellen

Vom 6. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1203
16. Wahlperiode 06. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Dr. Hakki Keskin,
Michael Leutert, Ulla Lötzer, Dorothee Menzner, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer
(Köln), Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Flugticketabgabe jetzt – Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundlagen stellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In Frankreich wird ab dem 1. Juli 2006 eine Abgabe auf Flugtickets erhoben,
deren Aufkommen direkt in die Entwicklungszusammenarbeit fließen soll.
Dabei sollen innereuropäische Flüge in der Economy Class mit einem, in der
Business Class und First Class mit 10 Euro pro Ticket belastet werden. Für
transkontinentale Flüge fallen 4 bzw. 40 Euro an. Die Einnahmen fließen in
einen Internationalen Fonds zur Finanzierung der Bekämpfung von Aids,
Malaria und TBC. In Frankreich wird mit einem jährlichen Aufkommen aus
der Flugticketabgabe in Höhe von ca. 200 Mio. Euro gerechnet. Der franzö-
sische Gesetzesbeschluss hat auch in Deutschland eine Debatte um die Flug-
ticketabgabe entfacht. Sollte sich Deutschland der Initiative anschließen,
könnte hierzulande mit einem ähnlich hohen Aufkommen wie in Frankreich
gerechnet werden. Sollte die Flugticketabgabe EU-weit eingeführt werden,
läge das Gesamtaufkommen nach Schätzungen von Fachleuten bei ca. 2 Mrd.
Euro. Einige europäische Länder wie Norwegen, Großbritannien (mit Ein-
schränkungen) und Luxemburg sowie afrikanische, asiatische und lateiname-
rikanische Länder wie Côte d’Ivoire, Jordanien, Brasilien und Chile haben
sich der Initiative bereits angeschlossen.

2. Auf der internationalen „Konferenz zu innovativen Quellen für Entwick-
lungsfinanzierung“ am 28. Februar und 1. März 2006 in Paris wurde unter
deutscher Beteiligung eine „Pilotgruppe für Solidaritätsbeiträge zugunsten
von Entwicklung“ gebildet. Nichtregierungsorganisationen im Entwick-
lungsbereich begrüßen dies und warnen zugleich davor, mögliche künftige
Einnahmen aus innovativen globalen Finanzierungsinstrumenten (Flug-
ticketabgabe und andere) auf den Anteil der öffentlichen Entwicklungszu-
sammenarbeit am Bruttonationaleinkommen (sog. ODA-Quote) anzurech-
nen und damit den im Europäischen Entwicklungskonsens festgelegten Stu-
fenplan zur Anhebung der ODA-Quote erfüllen zu wollen.

3. Im Koalitionsvertrag kündigten CDU, CSU und SPD an, den Anteil der öf-
fentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) am Bruttonationaleinkom-
men in 2006 auf mindestens 0,33 Prozent, bis 2010 auf mindestens 0,51 Pro-
zent und bis 2015 auf mindestens 0,7 Prozent anzuheben. Damit folgt die
Bundesregierung den Mindestanforderungen des im Europäischen Entwick-
lungskonsens festgeschriebenen Stufenplans. Sollte die ODA-Quote in 2006

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tatsächlich auf 0,33 Prozent ansteigen, wäre allerdings erst der Stand von
1994 wieder erreicht. Das angestrebte Niveau der international vielfach ver-
einbarten 0,7 Prozent läge nach wie vor in weiter Ferne. Der Koalitionsver-
trag kündigt als Maßnahmen zur Finanzierung des Stufenplans einen Mix aus
nicht näher bezeichneten „innovativen Finanzierungsinstrumenten“, Ent-
schuldungsmaßnahmen und Erhöhung der Haushaltmittel an. Bisher wurde
aber noch keine Aussage darüber getroffen, in welchem quantitativen Ver-
hältnis die drei Finanzierungssäulen zueinander stehen sollen. Der DAC Peer
Review der OECD formulierte im Dezember 2005 hierzu: „Die Realisierung
des Zielwerts von 0,51 Prozent stellt eine doppelte Herausforderung dar,
nämlich einmal Mobilisierung der notwendigen Ressourcen und zum ande-
ren Schaffung der Voraussetzungen für einen wirksamen Einsatz dieser Mit-
tel. Im Hinblick darauf muss die neue Bundesregierung noch einen Stufen-
plan zur Aufstockung der ODA-Leistungen erstellen und annehmen. Ein
solcher Plan würde einen besseren Überblick über die Aussichten für das
künftige Wachstum der ODA-Leistungen und die langfristige Vision ermög-
lichen, die notwendig ist, um umfangreiche zusätzliche Ressourcen einzupla-
nen und wirksam einzusetzen. In dem Plan sollte klar festgelegt werden, wie
weit das ODA-Wachstum über zusätzliche Haushaltsmittel und wie weit es
mit Hilfe innovativer Finanzierungsinstrumente zustande kommen soll.“
(Prüfung der Deutschen EZ-Politik und -Programme – wichtigste Ergebnisse
und Empfehlungen des DAC, Seite 3).

4. Die Anhebung der ODA im Bundeshaushaltsentwurf 2006 um 300 Mio. Euro
oder 8 Prozent gegenüber 2005 lässt sich zur Hälfte auf die Einrechnung der
Tsunami-Flutopferhilfe zurückführen. Außerdem werden regelmäßig Leis-
tungen aus dem Schuldenerlass für hoch verschuldete Entwicklungsländer
auf die ODA angerechnet. Erlassene Handelsschulden werden voll angerech-
net, beim Erlass von im Rahmen der Finanziellen Zusammenarbeit gewähr-
ten Krediten werden zumindest die nicht mehr zu zahlenden Zinsen als ODA
verbucht. Die ODA-Quote erhöht sich dadurch, ohne dass zusätzliche Mittel
in den Süden flössen. In den kommenden Jahren muss damit gerechnet wer-
den, dass insbesondere die Entschuldung des Irak stark zu Buche schlagen
wird. Die Anrechnung von Entschuldungsleistungen auf die ODA wider-
spricht allerdings dem Konsens der Entwicklungsfinanzierungskonferenz
von Monterrey 2002, dem auch die damalige Bundesregierung beigetreten
ist. Darin heißt es unmissverständlich auf Seite 12: „We encourage donor
countries to take steps to ensure that resources provided for debt relief do not
detract from ODA resources intended to be available for developing coun-
tries.“ [Wir regen die Geberländer dazu an, Maßnahmen zu ergreifen, um si-
cherzustellen, dass die für den Schuldenerlass zur Verfügung gestellten Mit-
tel nicht zulasten der ODA-Ressourcen gehen, die den Entwicklungsländern
zur Verfügung stehen sollten.]

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. Die Bundesregierung möge dem französischen Beispiel folgen und sich der
internationalen Initiative zur Einführung der Flugticketabgabe anschließen.
Die Bundesregierung ist aufgerufen, einen Gesetzentwurf zur Einführung
einer Flugticketabgabe vorzulegen, der folgende Eckpunkte beinhaltet:

– Die Höhe der Abgabe soll sich am französischen Beispiel orientieren.

– Die Abgabe soll auf alle Flüge erhoben werden, die von Flughäfen in
Deutschland starten.

– Transitpassagiere sind von der Abgabepflicht auszunehmen.

– Die Einnahmen der Flugticketabgabe sind dem noch einzurichtenden In-
ternationalen Fonds zur Finanzierung der Bekämpfung von Aids, Malaria

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1203

und TBC zuzuleiten. Diese Zuleitung ist durch die konkrete Ausgestaltung
des Gesetzes sicherzustellen.

2. Die Bundesregierung soll dem oben erwähnten Internationalen Fonds beitre-
ten und sich zugleich dafür einsetzen, dass

– der Fonds als eigenständige Institution und nicht innerhalb des Global
Fund der Vereinten Nationen eingerichtet wird, um größere Gestaltungs-
spielräume im Hinblick auf eine möglichst entwicklungsorientierte Ver-
wendung der Mittel und auf eine umfassende Einbeziehung zivilgesell-
schaftlicher Gruppen in die Arbeit des Fonds zu sichern;

– an der Arbeit des Fonds nicht nur Regierungsvertreter, sondern auch Ex-
pertinnen und Experten sowie Vertreterinnen und Vertreter von dafür
kompetenten Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlicher
Gruppen des Südens mitwirken und dass diese Arbeit durch ein hohes und
verbindliches Maß an Transparenz und öffentlicher Kontrolle geprägt
wird;

– der Fonds Medikamente und medizinische Geräte nicht bei Transnationa-
len Pharmakonzernen im Norden, sondern bei Herstellern von kosten-
günstigen Generika im Süden einkauft; dass Ausschreibungsrichtlinien
für die Leistungen des Fonds entsprechend ausgerichtet werden;

– neben der Ausgabe von Medikamenten auch Vorsorge sowie die Finanzie-
rung von Untersuchungen und Labortests einbezogen sind;

– aus den Mitteln des Fonds auch solche Maßnahmen finanziert werden, die
zur Stärkung der staatlichen Gesundheitsvorsorge und zum Auf- und Aus-
bau einer entsprechenden Infrastruktur in den betroffenen Staaten dienen.

3. Die Bundesregierung wolle sich dazu erklären, in welchen kurzfristigen
Etappen sie die längst überfällige Erhöhung der ODA-Quote anvisiert, und
dies durch die Benennung konkreter Schritte untersetzen. Die Bundesregie-
rung möge sicherstellen, dass die Verwendung der Einnahmen aus so genann-
ten innovativen Finanzierungsinstrumenten und die Entschuldungsleistungen
zusätzlich und getrennt von der ODA verbucht werden und dass die im Koa-
litionsvertrag angekündigte Erhöhung des Anteils der öffentlichen Entwick-
lungszusammenarbeit am Bruttonationaleinkommen ausschließlich durch
Umschichtungen im bestehenden Gesamthaushalt verwirklicht wird; dass in
diesem Sinne

– die Zuleitung der Einnahmen aus der Flugticketabgabe – so sie eingeführt
wird – an den Internationalen Fonds für die Bekämpfung von Aids, Mala-
ria und TBC nicht auf den Anteil der öffentlichen Entwicklungszusam-
menarbeit am Bruttonationaleinkommen angerechnet wird;

– dass auch Leistungen aus Entschuldungsmaßnahmen nicht auf den Anteil
der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit am Bruttonationaleinkom-
men angerechnet werden;

– dass temporäre Leistungen, die im Rahmen akuter Nothilfe erbracht wer-
den (Beispiel: Tsunami-Flutopferhilfe), nicht auf den Anteil der öffentli-
chen Entwicklungszusammenarbeit am Bruttonationaleinkommen ange-
rechnet werden.

4. Die Bundesregierung wolle die Aufwendungen für die ODA-Leistungen so
veranschlagen, dass die genannten Ziele aus dem EU-Stufenplan auch bei ei-
ner Nachberechnung des Bruttonationaleinkommens als erreicht bezeichnet
werden können. Dabei sind die ODA-Kriterien des Development Assistance
Committee (DAC) der OECD strikt einzuhalten.

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5. Die Bundesregierung und namentlich die Bundesministerin für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung wolle sich im Rahmen der „Pilot-
gruppe für Solidaritätsbeiträge zugunsten von Entwicklung“ für die Etablie-
rung solcher internationaler Finanzierungsmechanismen einsetzen, durch die
die transnationalen Unternehmen stärker zur Entwicklungsfinanzierung her-
angezogen werden (Beispiel: Devisentransaktionssteuer), und Konzepte für
deren Umsetzung entwickeln.

Berlin, den 5. April 2006

Heike Hänsel
Hüseyin-Kenan Aydin
Monika Knoche
Dr. Gesine Lötzsch
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Dr. Hakki Keskin
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dorothee Menzner
Dr. Norman Paech
Paul Schäfer (Köln)
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Transnationale Steuern und Abgaben wären eine angemessene Antwort auf die
Globalisierung. Die intensivierte weltwirtschaftliche Verflechtung hat neue
Möglichkeiten geschaffen, Gewinne zu erwirtschaften – darunter auch solche
Möglichkeiten, die sich für die soziale Entwicklung strukturell benachteiligter
Räume und Bevölkerungsgruppen äußerst negativ auswirken können. Internati-
onale Steuern und Abgaben könnten den Zugriff auf solche Gewinne erleichtern
und damit die Globalisierungsgewinner zur Entwicklungsfinanzierung heranzie-
hen und im günstigsten Fall zugleich eine Lenkungswirkung gegen die negati-
ven Auswirkungen der Globalisierung entfalten. Für die Flugticketabgabe trifft
das zwar nicht zu. Sie hat keine ökologische Lenkungswirkung und ihr Aufkom-
men mit im günstigsten Fall EU-weit 2 Mrd. Euro liegt weit unter dem potenzi-
ellen Aufkommen, das beispielsweise mit einer Devisentransaktionssteuer er-
zielt werden könnte. Die Einführung der Flugticketabgabe als im nationalen
Rahmen erhobene, aber international vereinbarte und verwaltete und an einen
ebenfalls international vereinbarten Verwendungszweck gebundene Abgabe ist
jedoch ein wichtiger Beitrag zum Einstieg in international koordinierte Mecha-
nismen zur Entwicklungsfinanzierung.

Weitere Schritte müssen folgen, die Einführung der Devisentransaktionssteuer
und globaler Emissionssteuern sollen auf die internationale Tagesordnung ge-
setzt werden.

Die Flugticketabgabe schränkt weder politische Gestaltungsspielräume noch die
Steuersouveränität der beteiligten Staaten ein, denn sie wird vom jedem Land in
Übereinstimmung mit den dort geltenden Gesetzen festgesetzt. Grundlage für
die Höhe und den Zweck der Verwendung ist eine freiwillige Vereinbarung, die
unter den teilnehmenden Staaten ausgehandelt wird. Die Zweckbindung von

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/1203

Steuern und Abgaben wird international immer stärker akzeptiert und als neue
Chance für die Ausweitung politischer Gestaltungsspielräume gesehen.

Die Einnahmen aus der Flugticketabgabe, deren Aufkommen in Deutschland
nach Schätzungen bei 250 bis 300 Mio. Euro liegen würde, und mögliche künf-
tige Einnahmen aus weiteren globalen Finanzierungsinstrumenten bzw. deren
Zuleitung an den o. g. internationalen Entwicklungsfonds dürfen allerdings
nicht auf die ODA-Quote angerechnet werden. Die Versuchung dazu mag groß
sein, denn es wird zunehmend deutlich, dass die Bundesministerin für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Ziele des EU-Stufenplans und
des Koalitionsvertrags nicht durch Umschichtungen im Bundeshaushalt errei-
chen wird. Die Anrechnung der Tsunami-Hilfe auf die ODA und der Beitrag die-
ser Maßnahme zur ODA-Anhebung in 2006 machen dies deutlich. Die Absicht,
auch Leistungen aus dem Schuldenerlass auf die ODA-Quote anzurechnen, wird
von Nichtregierungsorganisationen bspw. so kommentiert: „Die reichen Länder
nehmen mit einer Hand wieder zurück, was sie mit der anderen gegeben haben.“
(Evangelischer Entwicklungsdienst, November 2005). Im Sinne einer nachhal-
tig verbesserten Entwicklungsfinanzierung darf die Erhöhung der ODA-Quote
nicht über Verrechnungstricks, sie muss mit zusätzlichen Haushaltsmitteln er-
reicht werden.

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