BT-Drucksache 16/11707

Behinderungsbedingte Armutsrisiken

Vom 22. Januar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11707
16. Wahlperiode 22. 01. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Katja Kipping,
Monika Knoche, Katrin Kunert, Elke Reinke, Frank Spieth, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Behinderungsbedingte Armutsrisiken

Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt einen deut-
lichen Zusammenhang zwischen Armutsrisiko und Behinderungen: „Gesund-
heitsstörungen und Krankheiten, insbesondere wenn sie länger andauern, kön-
nen sich […] nachteilig auf die Bildungs-, Erwerbs-, und Einkommenschancen
auswirken und die gesellschaftliche Teilhabe beeinträchtigen.“ (3. Armuts- und
Reichtumsbericht, Seite 24).

Am Beginn behinderungsbedingter Armutskarrieren steht die Mehrbelastung
von Familien mit behinderten Kindern. In der „Risikoanalyse Kinderinvalidität“
kommt der Deutsche Ring zu folgendem Ergebnis: „Aufgrund des erhöhten Be-
treuungsbedarfs ihrer Kinder, können betroffene Eltern meist weniger arbeiten
und müssen somit auf Geld verzichten. Die Abweichungen zum durchschnitt-
lichen Haushaltseinkommen können im Monat bis zu 1 200 Euro betragen.“
(www. presseportal.de/pm/50773/1144495).

Die behinderungsbedingte Benachteiligung setzt sich durch Barrieren im Bil-
dungssystem fort: „Im Jahr 2005 waren 15 Prozent der behinderten Menschen
zwischen 25 und 45 Jahren ohne Schulabschluss gegenüber 3 Prozent bei den
nicht behinderten Menschen in dieser Altersgruppe.“ Die Wahrscheinlichkeit,
die Hochschulreife zu erlangen, sinkt durch eine Behinderung um die Hälfte, die
Chance auf einen Hochschulabschluss gar um zwei Drittel (3. Armuts- und
Reichtumsbericht, Seite 159).

Die Bildungsbenachteiligung beeinflusst neben anderen Diskriminierungseffek-
ten direkt die Arbeitsmarktchancen behinderter Menschen. So berichten Männer
und Frauen mit niedrigem Berufsstatus 3,5- bzw. 1,9-mal häufiger über eine
amtlich anerkannte Behinderung, als diejenigen mit hohem Berufsstatus (3. Ar-
muts- und Reichtumsbericht, Seite 164). Insgesamt bestreiten nur knapp ein
Fünftel aller Menschen mit Behinderung ihren Lebensunterhalt durch Erwerbs-
tätigkeit (Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr. 406 vom 30. Ok-
tober 2008). Zudem ist das Risiko der Arbeitslosigkeit für kranke oder behin-
derte Menschen deutlich höher (3. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 163).
Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen mit länger andauernden Krankheiten werden
häufiger entlassen und haben eine geringere Chance, wieder eingestellt zu wer-
den (ebd., Seite 107). Dementsprechend liegt eine amtlich anerkannte Behinde-
rung bei kurzzeitarbeitslosen Männern doppelt so häufig vor wie bei Erwerbs-
tätigen. Langzeitarbeitslose sind sogar knapp viermal so häufig von Behinde-
rung betroffen (ebd., Seite 164). Auch von einem wirtschaftlichen Aufschwung
profitieren Menschen mit Behinderung am wenigsten: „Zwar sank die Arbeits-
losigkeit zwischen August 2007 und August 2008 um insgesamt 13,8 Prozent.

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Bei Schwerbehinderten sank diese Zahl jedoch nur um 8,8 Prozent.“ (kobinet
Nachrichten, 28. August 2008).

Der Aspekt der Erwerbsarbeit wirkt sich direkt auf das Einkommensniveau von
Menschen mit Behinderungen und ihr Risiko, arm zu werden, aus. „So haben
z. B. über ein Drittel der behinderten alleinlebenden Menschen im Alter von 25
bis unter 45 Jahren ein Haushaltsnettoeinkommen von unter 700 Euro, während
dieser Anteil bei der entsprechenden Gruppe der nicht behinderten Personen nur
19 Prozent beträgt.“ (3. Armuts- und Reichtumsbericht, Seite 163). Im Vergleich
zur höchsten Einkommensgruppe finden sich anteilmäßig in der Armutsrisiko-
gruppe drei- bzw. fünfmal so viele Frauen und Männer mit gesundheitlichen
Beinträchtigungen (ebd., Seite 106). Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht stellt
dementsprechend fest, „dass es eine Wechselwirkung zwischen Gesundheitszu-
stand und Einkommensniveau insofern gibt, als gesundheitlich beeinträchtigte
Menschen schlechtere Arbeitsmarktchancen und daher niedrigere Einkommen
haben“ (ebd.).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Kann die Bundesregierung beziffern, wie sich die Variablen Behinderung/
Schwerbehinderung auf das statistische Armutsrisiko der Betroffenen, im
Verhältnis zum Armutsrisiko der nichtbehinderten Bevölkerung auswirken
(bitte Aufschlüsselung nach Geschlecht und Alter sowie Art und Schwere der
Behinderung)?

2. Falls der Bundesregierung zu Frage 1 keine Angaben vorliegen, warum wur-
den diese nicht im Rahmen des 3. Armuts- und Reichtumsberichtes erhoben
bzw. aufgeschlüsselt?

3. Ist vor dem Hintergrund der UN-Konvention über die Rechte der Menschen
mit Behinderungen eine solche detaillierte Gegenüberstellung als Maßstab
für die Erfolge im Kampf gegen behinderungsbedingte Armutsrisiken bei
künftigen Erhebungen (nächster Bericht zur Lage der behinderten Menschen
sowie 4. Armuts- und Reichtumsbericht) geplant?

4. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über Ursache und Wir-
kung im Hinblick auf den im 3. Armuts- und Reichtumsbericht festgestellten
Zusammenhang von Armut und Behinderung/Krankheit vor?

a) Wie sehr wird das Armutsrisiko durch eine vorhandene Behinderung/
Krankheit bestimmt?

b) Wie sehr wird das Risiko gesundheitlicher Einschränkungen durch vor-
handene Armut bestimmt?

c) Warum wurde dieser Ursache-Wirkungszusammenhang im Rahmen des
3. Armuts- und Reichtumsberichts nicht ausgewiesen bzw. erhoben?

5. Falls der Bundesregierung zu Frage 4a und 4b keine Angaben vorliegen,
welche konkreten Maßnahmen zur Bekämpfung von Armuts- und Krank-
heitsrisiken plant die Bundesregierung auf der Grundlage welcher unter-
stellten Kausalzusammenhänge der beiden genannten Faktoren?

6. In wie vielen Fällen ist eine eintretende Pflegebedürftigkeit Ursache für Ver-
armung bei Betroffenen und Familienangehörigen?

7. Wie wirkt sich die Behinderung eines Kindes auf das Armutsrisiko sowie die
Einkommens- und Vermögensverteilung von Familien aus (bitte im Ver-
gleich mit Familien mit Kindern ohne Behinderungen angeben)?

8. Falls der Bundesregierung zu den Fragen 5 und 6 keine Angaben vorliegen,
warum wurden diese bislang nicht erhoben?

Ist eine zukünftige Erhebung geplant?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11707

9. Wie bewertet die Bundesregierung den Sachverhalt, dass nach EU-SILC
(European Union Statistics on Income and Living Conditions) keine geson-
derte Erhebung für Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik
Deutschland vorliegen?

Wie lässt sich dieser Umstand in Zukunft ändern?

10. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung insgesamt, um vor dem
Hintergrund des Artikels 31 der UN-Konvention über die Rechte der Men-
schen mit Behinderungen („States Parties undertake to collect appropriate
information, including statistical and research data, to enable them to for-
mulate and implement policies to give effect to the present Convention.“)
hinreichend statistische Daten für eine am realen Bedarf und an den Ur-
sachen behinderungsbedingter Nachteile orientierte Behindertenpolitik zu
erheben?

11. Wie bewertet die Bundesregierung behinderungsbedingte Nachteile und
Armutsrisiken, vor dem Hintergrund der UN-Konvention über die Rechte
der Menschen mit Behinderungen, insbesondere der in den Artikeln 24
(Education), 27 (Work and employment), 28 (Adequate standard of living
and social protection) und 30 (Participation in cultural life, recreation,
leisure and sport) formulierten Rechte auf Bildung, Arbeit, Teilhabe und
einen adäquaten Lebensstandard?

12. In welchem Verhältnis stehen nach Ansicht der Bundesregierung individu-
elle und kollektive Verantwortung bei dem Problem behinderungsbedingter
Armutsrisiken?

13. Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung (jenseits von gesundheit-
licher Prävention, aktivierender Arbeitsmarktpolitik und neuen Formen der
Mittelvergabe bei gleicher Leistungshöhe), um objektive materielle Nach-
teile, die aus aktuell bestehenden Behinderungen resultieren, auszuglei-
chen?

14. Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung, den statistisch auf Behin-
derung rückführbaren Unterschied in der Einkommens- und Vermögensver-
teilung durch bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhängige
Unterstützung auszugleichen?

15. Falls die Bundesregierung eine sofortige solidarische Kompensation behin-
derungsbedingter Einkommensnachteile für sinnvoll erachtet, welche kon-
kreten Schritte sind dazu geplant?

16. Falls die Bundesregierung diese Kompensation nicht für sinnvoll erachtet,
welches Gerechtigkeitskonzept liegt dann der Verweigerung der Ausgleiche
behinderungsbedingter monetärer Nachteile zugrunde?

17. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass in der Bundesrepublik
Deutschland Leistungen für Menschen mit Behinderungen nach dem Kau-
salitätsprinzip (also nach den Ursachen einer Behinderung) vergeben wer-
den, so dass etwa ein Unfallopfer finanziell besser gestellt ist, als jemand,
der von Geburt an die gleiche Behinderung hat?

18. Erkennt die Bundesregierung im Kausalitätsprinzip einen Diskriminie-
rungseffekt entlang individueller Behinderungsursachen?

a) Falls nein, wie begründet die Bundesregierung dass eine Ungleichbe-
handlung aufgrund von Behinderungsursachen anders zu bewerten ist,
als eine Ungleichbehandlung aufgrund der gesetzlich anerkannten Dis-
kriminierungsmerkmale?

b) Falls ja, wann wird die Bundesregierung im Rahmen der Verpflichtung
zum Schutz vor Diskriminierung (Allgemeines Gleichbehandlungsge-

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setz (AGG) und Artikel 3 des Grundgesetzes (GG)) das Finalitätsprinzip
für den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile einführen, so dass
die Leistungsvergabe auf Grundlage objektiv bestehender Nachteile er-
folgt?

19. Inwiefern wird das im 3. Armuts- und Reichtumsbericht benannte behinde-
rungsbedingt höhere Langzeitarbeitslosigkeitsrisiko bei der Vergabepraxis
der Bundesagentur für Arbeit für Arbeitslosengeld I (hinsichtlich Bezugs-
dauer) und Arbeitslosengeld II (hinsichtlich Sanktionsmaßnahmen) aus-
gleichend berücksichtigt?

20. Welche Schritte sind geplant, um die Bildungsbenachteiligung behinderter
Menschen im Sinne der Umsetzung des Rechts auf ein inklusives Bildungs-
system (inclusive education system), wie es die UN-Konvention über die
Rechte der Menschen mit Behinderungen vorsieht, zu beseitigen (bitte
explizite Angabe der geplanten Maßnahmen zur Umsetzung von Artikel 24
Absatz 2a, b, d und e)?

21. Welche Schritte sind geplant, um die Arbeitsmarktbenachteiligung behin-
derter Menschen, im Sinne des Artikels 27 der UN-Konvention über die
Rechte der Menschen mit Behinderungen („the right of persons with dis-
abilities to work, on an equal basis with others; this includes the right to the
opportunity to gain a living by work freely chosen or accepted in a labour
market and work environment that is open, inclusive and accessible to per-
sons with disabilities“) zu beseitigen?

22. Welche Rolle spielt die Bekämpfung behinderungsbedingter Armutsrisiken
für die Umsetzung des Rechtes auf volle Teilhabe im Sinne der Artikel 29
und 30 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderun-
gen?

23. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass Menschen mit Assis-
tenz- und Pflegebedarf diese Mehrbedarfe erst dann voll bezahlt bekom-
men, wenn Einkommen und Vermögen bis auf ein Existenzminimum auf-
gebraucht sind?

24. Wie lässt sich eine Gesetzgebung, in der Menschen aufgrund ihrer Behin-
derung eine lebenslange Einkommenslage auf dem Niveau des Existenz-
minimus droht, mit der Verpflichtung durch die UN-Konvention „to enable
persons with disabilities to attain and maintain maximum independence
[…] and full inclusion and participation in all aspects of life“ (Artikel 26
Absatz 1) vereinbaren?

25. Inwieweit ist die jüngste Pflegereform geeignet, behinderungsbedingte Ver-
armung zu verhindern?

26. Inwieweit ist das Persönliche Budget als neue Leistungsform geeignet, das
Armutsrisiko von Menschen mit Behinderung zu senken?

27. Welche Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderung sieht das Steu-
errecht vor?

Inwieweit schützen diese vor Armut?

Berlin, den 20. Januar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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