BT-Drucksache 16/11516

Annahmen der Bundesregierung über die Entwicklung des Gesamtversorgungsniveaus im Alter

Vom 19. Dezember 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11516
16. Wahlperiode 19. 12. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Klaus Ernst, Volker Schneider (Saarbrücken), Katja Kipping,
Inge Höger, Dr. Lothar Bisky, Elke Reinke, Frank Spieth, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Annahmen der Bundesregierung über die Entwicklung des Gesamtversorgungs-
niveaus im Alter

Die Rentenpolitik der Bundesregierung stützt sich zentral auf den einmal in jeder
Legislaturperiode vorzulegenden Alterssicherungsbericht sowie die im Herbst
2007 vorgestellte Studie „Altersvorsorge in Deutschland 2005“ (AViD 2005).
Beide Dokumente enthalten Modellberechnungen zur künftigen Entwicklung des
Gesamtversorgungsniveaus im Alter. Beiden Studien werden jedoch von wissen-
schaftlichen Experten/Expertinnen unrealistische Annahmen attestiert, die dazu
führen, dass die Entwicklung des Gesamtversorgungsniveaus überschätzt wird.

So wird im Alterssicherungsbericht bei den Berechnungen zum Gesamtversor-
gungsniveau aus gesetzlicher und privater Rente angenommen, dass während der
gesamten Erwerbsbiografie die förderfähigen Höchstbeiträge in eine „Riester-
Rente“ (zumindest aber der Mindestbeitrag von 60 Euro) und darüber hinaus die
Steuerersparnisse aus der zunehmenden Freistellung der Rentenbeiträge in eine pri-
vate Rente eingezahlt werden. Der Realitätsgehalt dieser Annahme sei jedoch abso-
lut fragwürdig, urteilen die beiden Rentenexpertinnen Prof. Dr. Barbara Riedmüller
und Michaela Willert in ihrem jüngst vorgestellten Bericht „Die Zukunft der Alters-
sicherung. Analyse und Dokumentation der Datengrundlagen aktueller Rentenpo-
litik“ (S. 64). „Eine solche Erwartung seitens der Politik dürfte den meisten GRV-
Versicherten gänzlich unbekannt sein und insofern wahrscheinlich kaum erfüllt
werden“ (ebd.). Auch der Sozialbeirat hinterfragt in seinem Gutachten zum Renten-
versicherungsbericht 2008 und zum Alterssicherungsbericht 2008 die Annahme,
„dass die durch die ansteigende Steuerfreistellung der Beiträge zur Rentenversiche-
rung generierten Einkommen vollständig zu einem zusätzlichen Altersvorsorgespa-
ren verwendet werden“ (Bundestagsdrucksache 16/11060, S. 84, Ziffer 70).

Die zweite zentrale Entscheidungsgrundlage der Bundesregierung für die Renten-
politik – die gemeinsam vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
und der Deutschen Rentenversicherung Bund in Auftrag gegebene Studie Alters-
sicherung in Deutschland 2005 – steht auf wackeligen Füßen. So sind im so ge-
nannten Basisszenario der AViD 2005 weder die Rente ab 67 noch die künftige
Niveauabsenkung in der gesetzlichen Rente berücksichtigt. Die errechneten
Bruttorenten werden versteuert, als würden sie im Jahr 2005 ausgezahlt, d. h. mit
50 Prozent des Ertragsteils. Dabei wird die jüngste untersuchte Kohorte ihre Renten
bereits zu 86 Prozent besteuern müssen. Die Prognosen für die Berechnung der
Rentenhöhe in der AViD 2005 gehen von den Annahmen der mittleren Variante des
Rentenversicherungsberichts 2005 zur Lohnentwicklung aus, die der Sozialbeirat
in seinem damaligen Gutachten als zu optimistisch kritisierte. Die AViD dürfte
außerdem die Höhe der Renten aus der zweiten – betrieblichen – Säule überschätzen.

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Schließlich wird für die jüngere Kohorte am wenigsten an der Realität vorbei
gehenden „Teilhabeperspektive“ „nur bei der unrealistischen Annahme einer 100-
prozentigen Beteiligung an der Riester-Förderung und einer Verzinsung der Vermö-
gen in Höhe von 5 Prozent“ (Riedmüller/Willert 2008, S. 28) im Durchschnitt eine
Absicherung in Höhe der heutigen Rentner erreicht.

Die Einlassungen des Sozialbeirats und der beiden Wissenschaftlerinnen lassen er-
hebliche Zweifel an der Aussagekräftigkeit der Modelle aufkommen, auf die sich
die Bundesregierung in ihrer Rentenpolitik stützt und mithilfe derer sie nachweisen
will, dass der Paradigmenwechsel in der Alterssicherungspolitik – weg von der Le-
bensstandardsicherung allein durch die gesetzliche Rente hin zur Lebensstandard-
sicherung durch die drei Säulen der Alterssicherung – aufgeht und dass es den Men-
schen in Zukunft im Alter nicht schlechter gehen wird. Wenn dies jedoch nicht der
Fall ist, worauf die Kritik an den Modellen hindeutet, bedeutet die Absenkung des
Rentenniveaus eine Verschlechterung der Alterssicherung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die im Alterssicherungsbericht 2005 und
2008 getroffene Annahme für die Berechnung des Gesamtversorgungsniveaus,
nach der von den Modellfällen während der gesamten Erwerbsbiografie die för-
derfähigen Höchstbeiträge in eine „Riester-Rente“ (zumindest aber der Mindest-
beitrag von 60 Euro) und darüber hinaus die Steuerersparnisse aus der zuneh-
menden Freistellung der Rentenbeiträge in eine private Rente eingezahlt
werden?

2. Wie steht die Bundesregierung zu der vom Sozialbeirat und den beiden Wissen-
schaftlerinnen diesbezüglich geäußerten Kritik?

3. Für wie realistisch hält die Bundesregierung eine 4-prozentige Verzinsung der
„Riester-Rente“ und der zusätzlichen privaten Alterssicherung, die aus den Steu-
erersparnissen der sukzessiven Freistellung der Rentenbeiträge gebildet werden
soll, angesichts der Tatsache, dass der Garantiezins (der nicht gesetzlich garan-
tiert ist und längst nicht bei allen Produkten gewährt wird) derzeit bei 2,25 Pro-
zent liegt und der Tatsache, dass lediglich die eingezahlten Beiträge und staat-
lichen Zulagen sicher sind?

4. Wie hoch ist derzeit die durchschnittliche Verzinsung der „Riester-Rente“, und
welche Prognose kann für die Zukunft abgegeben werden?

5. Wie kommt die Bundesregierung im Alterssicherungsbericht 2008 dazu anzu-
nehmen, dass das gesparte Kapital der Riester-Rente „im Jahr des Rentenzu-
gangs entsprechend der Lebenserwartung gemäß den demografischen Annah-
men des Rentenversicherungsberichts 2008 dergestalt verrentet wird, dass sich
für die Riester-Rente im Auszahlungszeitraum die gleiche Dynamik wie bei der
gesetzlichen Rente ergibt“ (Bundestagsdrucksache 16/11061, S. 94), wo doch
die privaten Versicherer mit einer eigenen Sterbetafel arbeiten, bei der die Le-
benserwartung der Versicherten um zehn Jahre höher angesetzt ist, als nach der
dem Rentenversicherungsbericht zugrunde liegenden 11. koordinierten Bevöl-
kerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes?

6. Wie würde sich das Gesamtversorgungsniveau für die Modellfälle des Alters-
sicherungsberichts 2008 jeweils entwickeln, wenn

a) für die Entwicklung der „Riester-Rente“ nicht die demografischen Annah-
men des Rentenversicherungsberichts (und damit des Statistischen Bundes-
amtes) zugrunde gelegt würden, sondern die Lebenserwartung der von der
Versicherungswirtschaft verwendeten Sterbetafel DAV 2004 R?

b) die „Riester-Rente“ und die zusätzliche private Rente im gesamten Zeit-
raum lediglich mit dem Garantiezins verzinst würden?

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c) die Modellfälle aus ihrer „Riester-Rente“ lediglich die eingezahlten Bei-
träge plus die staatlichen Zulagen bekämen und die zusätzliche private
Rente lediglich mit 2 Prozent verzinst würde?

d) die Modellfälle zwar durchgehend „riestern“ würden, aber keine weitere zu-
sätzliche Altersvorsorge mit den Steuerersparnissen durch die Umstellung
auf die nach gelagerte Besteuerung der Renten betreiben würden?

e) die Modellfälle weder eine Riester-Rente hätten noch die Steuerersparnisse
durch die Umstellung auf die nach gelagerte Besteuerung in eine weitere
private Altersversicherung investieren würden?

f) diese zwar „riestern“, aber über einen Zeitraum von 3 bzw. 5 bzw. 10 bzw.
15 Jahren ihren Vertrag ruhen lassen würden?

g) diese zwar „riestern“, aber über den gesamten Zeitraum nur den Mindestbe-
trag einzahlen würden?

7. Wie steht die Bundesregierung zur Aussage von Riedmüller und Willert, die
den Modellberechnungen des Alterssicherungsberichts zugrunde liegende An-
nahme von 45 Erwerbsjahren stelle „kein sehr realitätsnahes Modell dar“
(a. a. O., S. 63)?

8. Wie hoch ist derzeit der Anteil an Rentnern/Rentnerinnen, die über 45 Ver-
sicherungsjahre verfügen (aufgeschlüsselt nach Männern und Frauen sowie
Ost und West)?

9. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Umstand, dass
nur eine Minderheit der Versicherten die 45 Versicherungsjahre erreicht für die
Annahmen in ihren Berichten bzw. Studien sowie für ihre Rentenpolitik?

10. Wie bewertet die Bundesregierung den Befund der AViD 2005, dass die jün-
gere Kohorte in der so genannten Teilhabeperspektive nur bei der Annahme
einer 100-prozentigen Beteiligung an der Riester-Förderung und einer Verzin-
sung der Vermögen in Höhe von 5 Prozent eine Absicherung in Höhe der heu-
tigen Rentner erreicht?

11. Wie steht sie zur von Riedmüller und Willert (a. a. O., S. 28) geäußerten Kritik
an dieser Annahme?

12. Wie steht die Bundesregierung zu dem Befund der AViD 2005, dass die
Absenkung des Rentenniveaus die höhere Arbeitsmarktbeteiligung jüngerer
Frauen zunichte macht, und welche Schlüsse für politisches Handeln in Bezug
auf Frauen und Rente zieht sie daraus?

13. Wie steht die Bundesregierung zum Befund von Riedmüller und Willert
(a. a. O., S. 30/31), nach dem die Armutsrisiken – berechnet auf Basis der
AViD 2005-Daten – für westdeutsche Männer und in Ostdeutschland deutlich
ansteigen?

14. Wie wertet die Bundesregierung diesen Befund vor dem Hintergrund, dass in
dieser Perspektive die Absenkung des Rentenniveaus noch gar nicht berück-
sichtigt ist?

15. Wie würde die Armutsentwicklung nach den AViD 2005-Daten – berechnet
nach derselben Methode wie der von Riedmüller/Willert verwendeten – ausse-
hen, wenn die beschlossene Absenkung des Rentenniveaus berücksichtigt
würde (bitte nach Frauen und Männern sowie Ost und West getrennt auswei-
sen)?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die Befunde der auf einer Haushalts-
betrachtung beruhenden SAVE-Studie (Börsch-Supan/Reil-Held et.al. 2007),
dass „Riester-Renten“ stärker von Haushalten mit höheren Einkommen ge-
nutzt werden und die im Widerspruch zu der Behauptung der Bundesregierung
stehen, die Riester-Förderung würde vor allem von Geringverdienenden ge-
nutzt bzw. diese am meisten nutzen?

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17. Wie steht die Bundesregierung zu der Aussage der Wissenschaftlerinnen
Riedmüller und Willert (Bundestagsdrucksache 16/11061, S. 59), dass neben
den Teilnahmequoten der Riester-Förderung zunehmend die Höhe der Einzah-
lungsbeträge beobachtet werden muss?

18. Plant die Bundesregierung in künftigen Berichten auch die Höhe der Einzah-
lungsbeträge und deren Entwicklung begutachten zu lassen?

Wenn nein, warum nicht?

19. Wie steht die Bundesregierung zur Anregung des Sozialbeirats, die Daten-
grundlage im Bereich der betrieblichen und kapitalgedeckten Altersvorsorge
zu verbessern und detaillierte Daten über den Verbreitungsgrad, zu den Spar-
beiträgen und deren Verteilung nach Einkommensklassen verfügbar zu ma-
chen (Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2008 und
zum Alterssicherungsbericht 2008, S. 84, Ziffer 71)?

20. Plant die Bundesregierung diese Anregungen des Sachverständigenrats bei
künftigen Berichten und der Vergabe weiterer Gutachten zu berücksichtigen?

Wenn nein, warum nicht?

21. Wie positioniert sich die Bundesregierung zur Forderung der Fraktion DIE
LINKE. auf Bundestagsdrucksache 16/8495 „Riesterrente auf dem Prüfstand
stellen“, einen Evaluationsbericht vorzulegen, in dem

a) die Folgen des Paradigmenwechsels in der Alterssicherungspolitik weg von
der Lebensstandardsicherung allein durch die gesetzliche Rente hin zu ei-
nem Lebensstandard sichernden Gesamtversorgungsniveau aus gesetzli-
cher Rentenversicherung, privater und betrieblicher Altersvorsorge auf
seine Verteilungswirkungen sowohl für verschiedene Einkommensgruppen,
Personengruppen mit unterschiedlichem Erwerbsstatus und Alterskohorten
als auch für gesellschaftliche Großgruppen wie Beschäftigte und Unterneh-
men dargestellt werden;

b) Aussagen über die Anzahl der Beitragsjahre getroffen werden, die Beschäf-
tigte mit Durchschnittslohn, mit Niedriglohn (75 Prozent des Medianein-
kommens) und mit Armutslohn (50 Prozent des Medianeinkommens) bei
einer durchschnittlichen Verzinsung von 2,25 Prozent, 3 bzw. 4 Prozent
leisten müssen, um mit und ohne Riester-Rente ein Alterseinkommen ober-
halb des Niveaus der Grundsicherung im Alter (prognostiziert auf Basis von
Annahmen zur Rentenentwicklung) zu erreichen?

22. Weshalb stellt die Bundesregierung in ihren Berichten bzw. den von ihr beauf-
tragten Gutachten keine Entwicklung der Lohnersatzquoten der gesetzlichen
Rente differenziert nach Einkommensklassen dar, wie dies etwa in der Studie
der OECD „Pensions at a Glance“ erfolgt?

23. Plant die Bundesregierung dies in künftigen Studien bzw. Berichten zu tun?

Wenn nein, warum nicht?

24. Wieso sind in den Berichtsteilen C und D des Alterssicherungsberichts 2008
wie im Alterssicherungsbericht 2005 keine Daten über die Alterseinkommen
von Migranten/Migrantinnen vorhanden, wo deren Bereitstellung methodisch
doch möglich gewesen wäre?

Berlin, den 19. Dezember 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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