BT-Drucksache 16/11248

Gewerkschaften in der Türkei stärken

Vom 3. Dezember 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11248
16. Wahlperiode 03. 12. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Lothar Bisky, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike
Hänsel, Inge Höger, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Gewerkschaften in der Türkei stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Gewerkschaften in der Türkei haben trotz der EU-Beitrittsperspektive des
Landes nur einen sehr eingeschränkten Handlungsspielraum. Sie können ihren
politischen Einfluss kaum geltend machen. Die Rechte der Interessenvertrete-
rinnen und Interessenvertreter von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind
insbesondere durch stark reglementierte Gesetzesvorschriften äußerst begrenzt.
Durch eine Vielzahl institutioneller und rechtlicher Hürden werden Gewerk-
schaften daran gehindert, die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern entsprechend zu vertreten und sich gegenüber der Arbeitgeberseite zu
behaupten.

Die Rahmenbedingungen des heutigen Gewerkschaftsrechts in der Türkei wur-
den bereits 1947 unter starkem Einfluss der USA in dem ersten Gewerkschafts-
gesetz festgelegt. Die in Anlehnung an dieses Gesetz gegründeten Gewerkschaf-
ten und Dachverbände wurden jedoch durch die staatliche Politik zwischen 1947
und 1961 genauestens kontrolliert und gesteuert. Erst in den 60er Jahren gab es
tiefgreifende ökonomische, politische und soziale Veränderungen, die schließ-
lich zu einer starken und unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in der Türkei
führten. In der Zeit zwischen 1974 und 1980 konnten Gewerkschaften eine Viel-
zahl von Arbeitnehmerrechten durchsetzen. Türkische Unternehmer setzten alle
Hebel in Bewegung, um die Gewerkschaftsbewegung zu schwächen. Nach dem
Militärputsch vom 12. September 1980 erließen die Militärs ein Streikverbot,
schlossen die meisten Gewerkschaften und erließen 1983 neue Gesetze zu den
Gewerkschaften. In der Verfassung von 1982 und den Gewerkschaftsgesetzen
von 1983 und 1985 wurden zahlreiche Hürden zur gewerkschaftlichen Organi-
sation gesetzt, die mit den Standards der Europäischen Union sowie den Kon-
ventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht konform gehen
und deshalb international kritisiert werden.
Das Recht, Gewerkschaften zu gründen ist in Artikel 51 der türkischen Ver-
fassung geregelt. Im Allgemeinen ist das Streikrecht zwar gewährt, darf aber
nur in Tarifverhandlungen angewendet werden. Warn-, General- oder Unter-
stützungsstreiks sind strikt verboten.

Zudem müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Mitgliedschaft nota-
riell beglaubigen lassen, was mit Kosten in Höhe von etwa 30 YTL (Neue Tür-
kische Lira) verbunden ist. Ein Austritt kostet 120 YTL. Die Mitgliedschaft wird

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außerdem ministeriell registriert. Dieses Verfahren gilt lediglich für Gewerk-
schaften. Weder Parteien noch Vereine unterliegen einer solchen Prozedur.

Die Handlungsfähigkeit einer Gewerkschaft wird in der Türkei durch Gesetzes-
vorschriften sehr erschwert. Damit eine Gewerkschaft einen Tarifvertrag ab-
schließen kann, muss sie weitere formale Kriterien erfüllen:

● Mindestens 51 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eines
Betriebes müssen in der gleichen Gewerkschaft organisiert sein.

● Mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eines
Wirtschaftssektors müssen Mitglied in der betreffenden Gewerkschaft sein
(10-Prozent-Klausel).

Insbesondere diese Kriterien sowie die mangelnde Versammlungs- und Vereini-
gungsfreiheit der Gewerkschaften erschweren eine effiziente Vertretung der
Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dabei kommt es, ins-
besondere in den vergangenen Jahren angesichts der massiven Privatisierung
unter der Regierung Recep Tayyip Erdog˘ans, immer wieder zu Massenentlas-
sungen und einem stetigen Wachsen des Niedriglohnsektors. Das brutale Vor-
gehen der türkischen Polizei am 1. Mai 2008 in Istanbul bewies ein weiteres
Mal die staatliche Willkür gegen die Gewerkschaften. Unabhängige und starke
Gewerkschaften werden von der türkischen Regierung weiterhin als Gefahr
wahrgenommen und nicht als Elemente einer demokratischen Gesellschaft ak-
zeptiert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf EU-Ebene dahingehend zu wirken, dass die Probleme der Gewerkschaf-
ten in der Türkei in künftigen Fortschrittsberichten ausführlicher thema-
tisiert und noch deutlicher in den Mittelpunkt gestellt werden. Insbesondere
die mangelnde Versammlungs- bzw. Vereinigungsfreiheit sollte hierbei im
Vordergrund stehen;

2. im bilateralen Rahmen wie auch auf EU-Ebene eine zeitnahe Angleichung
des Gewerkschaftsrechts in der Türkei an die Konventionen der Internatio-
nalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Standards der EU zu fordern;

3. in Gesprächen mit der Regierung Recep Tayyip Erdog˘ans die willkürliche
Polizeigewalt gegen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und andere
Demonstrantinnen und Demonstranten sowie den Angriff auf das Haupt-
gebäude der DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaf-
ten) in Istanbul während der Kundgebungen zum 1. Mai 2008 zu thematisie-
ren und dieses Vorgehen deutlich zu kritisieren;

4. sich dafür einzusetzen, dass ein ähnlich gewalttätiges und gewerkschafts-
feindliches Vorgehen in Zukunft verhindert wird.

Berlin, den 3. Dezember 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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