BT-Drucksache 16/10744

Ziele für die Armutsbekämpfung und soziale Eingliederung in der EU

Vom 30. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10744
16. Wahlperiode 30. 10. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Monika Knoche, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Diana Golze, Heike Hänsel,
Dr. Hakki Keskin, Katrin Kunert, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Frank Spieth, Alexander Ulrich, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ziele für die Armutsbekämpfung und soziale Eingliederung in der EU

Die Europäische Kommission hat eine „erneuerte Sozialagenda“ für ihre
Sozialpolitik bis 2010 vorgeschlagen. Ein Teil dieser Agenda ist eine Über-
arbeitung der so genannten Offenen Methode der Koordinierung Sozialschutz
und soziale Eingliederung (OMK Sozialschutz und soziale Eingliederung). In
diesem Dokument betont die Europäische Kommission, dass Armutsbekämp-
fung durch den Europäischen Rat (Gipfel von Lissabon, 2000; Gipfel von
Nizza, 2001) als ein wesentliches Ziel der so genannten Lissabonner Strategie
benannt wurde. Trotzdem ist der Anteil von Menschen in der EU, die in Armut
leben bzw. von Armut bedroht sind, seit 2000 von 16 Prozent auf 19 Prozent
gestiegen. Wörtlich heißt es bei der Europäischen Kommission in ihrem Papier
zur „Verstärkung der offenen Koordinierung für Sozialschutz und soziale Ein-
gliederung“: „Mehr Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen waren als
solche nicht ausreichend, um die erhofften Ergebnisse im Hinblick auf die Ar-
mutsbekämpfung […] zu erzielen“ (Ratsdokument 11560/08, S. 5). Die Euro-
päische Kommission fordert daher die Einführung verbindlicher Ziele in die
OMK Sozialschutz und soziale Eingliederung: „Ziele würden eine neue Dyna-
mik einbringen“ (ebda.).

Die Europäische Kommission selber bleibt eine Konkretisierung solcher Ziele
allerdings in ihrem Dokument schuldig. Eine Konkretisierung solcher Ziele lie-
fert ein Bericht des Europäischen Parlaments („Bericht über die Förderung der
sozialen Integration und die Bekämpfung der Armut, einschließlich der Kinder-
armut, in der EU“, sog. Zimmer-Bericht), der am 9. Oktober 2008 im Plenum
mit einer überwältigenden Mehrheit von 540 Stimmen bei 629 anwesenden
Abgeordneten unterstützt wurde (EP A6-0364/2208). Die große Mehrheit der
deutschen Europa-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier – DIE LINKE.,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die SPD und eine Mehrheit der CDU/CSU-Ab-
geordneten – hat dem Bericht zugestimmt. Dieser Bericht fordert u. a. die Ver-
ankerung folgender konkreter Ziele in der OMK Sozialschutz und soziale Ein-
gliederung:
● eine EU-Vorgabe für Mindestlöhne (gesetzlich, tarifvertraglich vereinbart
auf nationaler, regionaler oder Branchenebene), die eine Vergütung von min-
destens 60 Prozent des maßgeblichen (nationalen, branchenspezifischen
usw.) Durchschnittslohns gewährleisten (Ziffer 15);

● eine EU-Vorgabe für Mindesteinkommenssysteme und beitragspflichtige
Ersatzeinkommenssysteme, die eine Einkommensunterstützung in Höhe von

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mindestens 60 Prozent des nationalen Medianäquivalenzeinkommens leisten
(Ziffer 12);

● eine EU-weite Verpflichtung zur Beseitigung von Obdachlosigkeit bis zum
Jahr 2015 (Ziffer 60) sowie

● eine EU-weite Verpflichtung zur Reduktion der Kinderarmut bis 2012 um
50 Prozent (Ziffer 61).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Ziele hat sich die EU im Hinblick auf die Bekämpfung von Armut
und sozialer Ausgrenzung auf den Treffen des Europäischen Rates in Lis-
sabon (2000) und Nizza (2001) gesetzt?

2. Welche Konkretisierungen und verbindlichen Ziele für die Armutsbekämp-
fung wurden seit dem Jahr 2000 von welchen politischen Akteuren vor-
geschlagen, und inwieweit wurden konkrete und verbindliche Ziele ver-
ankert?

3. Wie hat sich die Armutsquote in der EU und in den einzelnen Mitglieds-
ländern seit 2000 entwickelt?

4. Wie hat sich die Armutsquote von Erwerbstätigen in der EU und in den
einzelnen Mitgliedsländern seit 2000 entwickelt?

5. Wie hat sich die Armutsquote von Kindern und besonders gefährdeten so-
zialen Gruppen (v. a. Migranten, kinderreiche Familien, Alleinerziehende
sowie Menschen mit Behinderungen) in der EU und in den einzelnen Mit-
gliedsländern seit 2000 entwickelt?

6. Wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklung in der EU und in
Deutschland?

7. Welche Ursachen sind nach der Einschätzung der Bundesregierung für den
Anstieg der Armut in der EU und in Deutschland maßgeblich verantwort-
lich?

8. Welche Instrumente und Maßnahmen auf europäischer Ebene hält die Bun-
desregierung im Kampf gegen die zunehmende Armut für notwendig und
Ziel führend?

Teilt die Bundesregierung die eingangs zitierte Einschätzung der Europäi-
schen Kommission, dass eine Politik, die primär auf Wachstum und Be-
schäftigung ausgerichtet ist, zur Armutsbekämpfung unzureichend ist?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die bisherige Bilanz der OMK im
Kampf gegen die Armut?

Sieht die Bundesregierung hier Reformbedarf, gegebenenfalls in welcher
Hinsicht?

10. Unterstützt die Bundesregierung die Forderung der Europäischen Kommis-
sion nach einer verbindlichen Verankerung von Zielen, insbesondere zur
Reduktion von Armut und sozialer Ausgrenzung in der OMK Sozialschutz
und soziale Eingliederung?

Falls nein, warum nicht?

11. Falls ja, welche konkreten Ziele schlägt die Bundesregierung für die OMK
Sozialschutz und soziale Eingliederung vor, bzw. welche konkreten Vor-
schläge unterstützt sie?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10744

12. Welche Zielvorgaben für die Verringerung der Armut – nach verschiedenen
Zielgruppen – hält die Bundesregierung bis zu welchem Zeitpunkt für an-
gemessen?

Teilt sie die Forderung nach konkret definierten gleichstellungsspezifi-
schen Zielen?

13. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass das Europäische Par-
lament in dem eingangs zitierten Dokument mit großer Mehrheit – auch
mit Unterstützung der deutschen Regierungsparteien – die konkrete Benen-
nung von Zielen für den Bereich Sozialschutz fordert (Ziffer 85)?

14. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Europäischen Parla-
ments, dass die Mitgliedsländer „für garantierte Mindestlohnsysteme“
Sorge zu tragen haben (Ziffer 5)?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die Feststellung, dass „angemessene
Mindestlohnsysteme eine Grundvoraussetzung für eine auf sozialer Ge-
rechtigkeit und Chancengleichheit für alle basierende Europäische Union
darstellen“ (Ziffer 11), und welche Initiativen folgen daraus für die Politik
der Bundesregierung sowohl auf europäischer als auch auf nationaler
Ebene?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Europäischen Parla-
ments nach einer „EU-Vorgabe für Mindestlöhne (gesetzlich, tarifvertrag-
lich vereinbart auf nationaler, regionaler oder Branchenebene), die eine
Vergütung von mindestens 60 Prozent des maßgeblichen (nationalen, bran-
chenspezifischen usw.) Durchschnittslohn gewährleistet“ (Ziffer 15, vgl.
auch Ziffer 40)?

Wird die Bundesregierung die Verankerung dieses Ziels in der OMK
Sozialschutz und soziale Eingliederung unterstützen?

17. Welche Maßnahmen sind in Deutschland notwendig, um diese Forderung
des Europäischen Parlaments umzusetzen?

18. Wie hoch müsste ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland sein, um das
geforderte Kriterium – 60 Prozent des maßgeblichen Durchschnittslohns –
zu erfüllen?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Europäischen Parla-
ments nach einer „EU-Vorgabe für Mindesteinkommenssysteme und bei-
tragspflichtige Ersatzeinkommenssysteme, die eine Einkommensstützung
in Höhe von mindestens 60 Prozent des nationalen Medianäquivalenzein-
kommens leisten sollen“ (Ziffer 12)?

Wird die Bundesregierung die Verankerung dieses Ziels in der OMK
Sozialschutz und soziale Eingliederung unterstützen?

20. Auf welche Leistungshöhe wäre die Unterstützung durch die steuer-
finanzierten sozialen Sicherungssysteme in Deutschland – insbesondere
„Hartz IV“ und Sozialhilfe – anzuheben, um diese Forderung des Europäi-
schen Parlaments zu erfüllen (bitte differenziert nach verschiedenen Haus-
haltskonstellationen)?

21. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung ein solches Mindest-
niveau der sozialen Absicherung auch in den „beitragsfinanzierten Ersatz-
einkommenssystemen“ zu gewährleisten?

22. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Europäischen Parla-
ments nach einer EU-weiten Verpflichtung zur Beseitigung der Obdach-
losigkeit bis zum Jahr 2015 (Ziffer 60)?
Wird die Bundesregierung die Verankerung dieses Ziels in der OMK
Sozialschutz und soziale Eingliederung unterstützen?

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23. Wie bewertet die Bundesregierung die „nachdrückliche“ Forderung des
Europäischen Parlaments nach einer EU-Verpflichtung die Kinderarmut bis
zum Jahr 2012 um 50 Prozent zu verringern (Ziffer 61)?

Wird die Bundesregierung die Verankerung dieses Ziels in der OMK
Sozialschutz und soziale Eingliederung unterstützen?

24. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Europäischen Parla-
ments nach einer Stärkung der Barcelona-Ziele zur Kinderbetreuung mit
der Festlegung, dass bis 2015 in der gesamten Union Betreuungseinrich-
tungen für 90 Prozent aller Kinder vom Säuglingsalter bis zum schulpflich-
tigen Alter sowie ein angemessenes Niveau an Betreuungseinrichtungen
für andere von der Familie abhängige Personen zu schaffen (Ziffer 86)?

Wird die Bundesregierung die Verankerung dieses Ziels in der OMK
Sozialschutz und soziale Eingliederung unterstützen?

25. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Europäischen Parla-
ments „Aktivierungsmaßnahmen zu überdenken, die auf zu restriktiven
Kriterien für die Bezugsberechtigung und sonstigen Auflagen für die Leis-
tungsempfänger beruhen, die Menschen in Tätigkeiten niedriger Qualität
zwingen, die für einen angemessenen Lebensstandard nicht ausreichen“
(Ziffer 44)?

26. Sieht die Bundesregierung im Lichte dieser Aufforderung Korrekturbedarf
bei den so genannten Hartz-Gesetzen?

27. Wie bewertet die Bundesregierung die „Ermutigung“ durch das Euro-
päische Parlament zu überlegen, „inwieweit soziale Regeltarife für
Risikogruppen (beispielsweise im Energiebereich und im öffentlichen
Verkehrswesen) sowie Zugangsmöglichkeiten zu Kleinstkrediten (Mikro-
krediten) eingeführt werden können“ (Ziffer 58)?

28. Wie bewertet die Bundesregierung die „Bestärkung“ durch das Europäi-
sche Parlament „Universaldienstverpflichtungen (beispielsweise im Sektor
Telekommunikations- und Postdienste) zu fördern, um die Zugänglichkeit
und Erschwinglichkeit von wesentlichen Diensten zu verbessern und ziel-
gerichtet gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen für gefährdete und be-
nachteiligte Gruppen in der Gesellschaft zu stärken“ (Ziffer 59)?

Berlin, den 23. Oktober 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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