BT-Drucksache 16/10481

Einführung von Mindestlöhnen durch Neufassung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und Mindestarbeitsbedingungengesetz

Vom 7. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10481
16. Wahlperiode 07. 10. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, Kornelia Möller,
Dr. Axel Troost, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Einführung von Mindestlöhnen durch Neufassung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes und Mindestarbeitsbedingungengesetz

Die Anzahl der Niedriglohnbeschäftigten ist in der Bundesrepublik Deutsch-
land von rund 4,5 Millionen im Jahr 1995 auf rund 6,5 Millionen im Jahr 2006
gewachsen. Allein zwischen 2004 und 2006 ist die Zahl der Niedriglohnbe-
schäftigten um rund 700 000 gestiegen. Rund 1,9 Millionen Beschäftigte arbei-
teten 2006 für Stundenlöhne unter 5 Euro. Der durchschnittliche Stundenlohn
der Niedriglohnbezieher/-bezieherinnen lag im Jahr 2006 real bei 5,91 Euro im
Westen und 4,19 Euro im Osten (WSI Mitteileilungen 8/2008, S. 423 ff.).

Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, einen gesetzlichen Mindestlohn einzu-
führen, der eine einheitliche, untere Haltelinie für alle Beschäftigten einziehen
würde. Stattdessen hat sie zwei Gesetzentwürfe für eine Neufassung des Ar-
beitnehmer-Entsendegetzes (AEntG) und des Mindestarbeitsbedingungengeset-
zes (MiA) vorgelegt. Tarifparteien einer Branche mit einer Tarifbindung von
mindestens 50 Prozent können einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit
eines Tarifvertrages nach dem AEntG stellen. Für Branchen mit einer geringe-
ren Tarifbindung wird das MiA wirksam. Nach entsprechenden Beschlüssen
der jeweiligen mit Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen und Arbeitgebervertreter/
Arbeitgebervertreterinnnen besetzten Ausschüsse kann das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales (BMAS) oder die Bundesregierung eine Rechtsverord-
nung zur Festsetzung von Mindestarbeitsentgelten für die jeweilige Branche er-
lassen.

Im Februar 2008 erklärte der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf
Scholz, dass sich beide Gesetze wie „kommunizierende Röhren“ verhalten soll-
ten, die entweder auf der Basis des einen oder des anderen Gesetzes die Einfüh-
rung von Mindestlöhnen in jeder Branche ermöglichen. „Weiße Flecken“ sollen
nicht verbleiben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch muss nach Ansicht der Bundesregierung der Stundenlohn in Voll-
zeit beschäftigter Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen mindestens sein, damit
sie von ihrer Arbeit leben können?
2. Inwiefern spielt dieses Kriterium, dass ein Lohn Existenz sichernd sein soll,
für das BMAS und die Bundesregierung bei der Verordnung von Mindest-
arbeitsentgelten eine Rolle, und wie gewichtet sie dieses Kriterium gegen-
über den anderen in den Gesetzentwürfen genannten?

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3. Warum hat sich die Bundesregierung entschieden, das noch in den Refe-
rentenentwürfen enthaltene Kriterium des fiskalischen Interesses, wonach
Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen nicht dauerhaft auf ergänzende Sozial-
leistungen angewiesen sein sollen, nicht in die Regierungsentwürfe auf-
zunehmen?

4. Bis wann sollen durch AEntG und MiA die letzten „weißen Flecken“ ge-
tilgt und Existenz sichernde Mindestarbeitsentgelte für alle Beschäftigten
erreicht sein?

5. Kann ein Antrag auf Aufnahme einer Branche in das AEntG von einer
Tarifvertragspartei allein gestellt werden, oder ist hierfür ein gemeinsamer
Antrag der Tarifvertragsparteien notwendig?

6. Mit welcher Begründung kann eine Rechtsverordnung auf Allgemeinver-
bindlichkeit nach dem AEntG nur für bundesweite Tarifverträge erlassen
werden, obwohl gleichzeitig eine regionale Differenzierung der für allge-
meinverbindlich erklärten Mindestarbeitsentgelte möglich ist?

7. Da in der Begründung zur Neufassung des AEntG ausdrücklich darauf hin-
gewiesen wird, dass in dem Fall, dass in einer Branche zwei konkurrie-
rende Tarifverträge existieren, das zugrunde zu legende Kriterium der Re-
präsentativität sich nicht ausschließlich nach der Größe der tarifschließen-
den Tarifvertragsparteien richtet, sondern eine größere Repräsentanten-
gruppe auch weniger repräsentativ sein kann, stellt sich die Frage, ob damit
auch Tarifverträge kleinerer Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für
allgemein verbindlich erklärt werden können und an welchen inhaltlichen
Kriterien das BMAS bzw. die Bundesregierung die Repräsentativität eines
Tarifvertrages festmacht?

8. Mit welcher Begründung gewährt die Bundesregierung in der Neufassung
des MiA konkurrierenden Tarifverträgen mit niedrigeren Entgelten, die bis
zum Stichtag 16. Juli 2008 abgeschlossen wurden, Bestandsschutz, wäh-
rend im AEntG konkurrierende Tarifverträge verdrängt werden?

9. Angesichts der Tatsache, dass laut Neufassung des MiA auch ein Folge-
tarifvertrag eines am 16. Juli 2008 bestehenden konkurrierenden Tarifver-
trages, den durch das MiA festgesetzten Mindestarbeitsentgelten vorgeht,
stellt sich die Frage, ob damit auch die niedrigeren Entgeltregelungen aller
weiteren Folgetarifverträge Vorrang haben?

10. Wie rechtfertigt die Bundesregierung, dass nicht tarifgebundene Arbeit-
geber/Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen auf die
niedrigeren Entgeltsätze in Tarifverträgen, die bis zum 16. Juli 2008 abge-
schlossen wurden, arbeitsvertraglich Bezug nehmen können und somit die
Gefahr besteht, dass für einen relevanten Teil der der Arbeitnehmer/Arbeit-
nehmerinnen, die durch das MiA festgesetzten Mindestarbeitsentgelte
nicht gelten?

11. In welchen Branchen existierten am 16. Juli 2008 konkurrierende Tarif-
verträge, und wie viele Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen werden von den
jeweiligen tarifschließenden Arbeitgebern/Arbeitgeberinnen beschäftigt,
bzw. wie viele Mitglieder haben die konkurrierenden tarifschließenden Ge-
werkschaften?

12. Ist mit der Neufassung des MiA eine regelmäßige Anpassung der Höhe der
festgesetzten Mindestarbeitsentgelte vorgesehen, und wie sieht die Proze-
dur zur Anpassung der Mindestarbeitsentgelte aus?

13. Aus welchen Gründen sind für die Überwachung der Einhaltung der beiden
Gesetze verschiedene Behörden zuständig?

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14. Wie sollen, angesichts der Tatsache, dass im MiA keine Sanktionen für den
Fall von Verstößen vorgesehen sind, die festgesetzten Mindestarbeitsent-
gelte wirksam durchgesetzt werden?

15. Warum wird für die Gewerkschaften kein Verbandsklagerecht eingeführt,
damit diese die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei
Verstößen gegen das AEntG oder das MiA wahrnehmen können?

16. Wie fügt sich die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen
nach § 5 des Tarifvertraggesetzes (TVG) in das „System aus kommunizie-
renden Röhren“ aus Arbeitnehmer-Entsendegesetz und Mindestarbeits-
bedingungengesetz ein?

17. Welche der Branchen, die bis 31. März 2008 einen Antrag auf Aufnahme
in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gestellt haben, sollen bis wann in das
AEntG aufgenommen werden?

Mit welcher Begründung gibt es für die übrigen Branchen, die einen An-
trag auf Aufnahme in das AEntG gestellt haben, keinen konkreten Zeit-
plan?

18. Inwiefern hat die Bundesregierung bei der Erarbeitung der Gesetzentwürfe
zum AEntG und MiA die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
(EuGH) in der Rechtssache „Rüffert“ berücksichtigt?

19. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass durch die geplante Neufassung
der beiden Gesetze die Festsetzung von Mindestlöhnen europarechtskon-
form erleichtert wird, und wenn ja, warum?

Berlin, den 2. Oktober 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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