BT-Drucksache 15/4717

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes zur Berücksichtigung von Zweitstimmen (Zweitstimmen-Berücksichtigungsgesetz)

Vom 25. Januar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4717
15. Wahlperiode 25. 01. 2005

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl
(Heilbronn), Wolfgang Zeitlmann, Günter Baumann, Clemens Binninger, Hartmut
Büttner (Schönebeck), Norbert Geis, Roland Gewalt, Ralf Göbel, Reinhard Grindel,
Manfred Grund, Volker Kauder, Kristina Köhler (Wiesbaden), Dorothee Mantel,
Erwin Marschewski (Recklinghausen), Stephan Mayer (Altötting), Beatrix Philipp,
Dr. Ole Schröder und der Fraktion der CDU/CSU

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes zur
Berücksichtigung von Zweitstimmen (Zweitstimmen-Berücksichtigungsgesetz)

A. Problem
Mit dem Fall der „Berliner Zweitstimmen“ ist bei der Bundestagswahl 2002
erstmals ein Problem in der Praxis aufgetreten, für das das Bundesverfassungs-
gericht bereits im Jahre 1988 (BVerfGE 79, 161 ff., 168 f.) eine Regelungslücke
in § 6 Abs. 1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes (BWG) festgestellt und den Ge-
setzgeber aufgefordert hat, eine Änderung aus Gründen der Rechtsklarheit zu
erwägen.
Die Regelungslücke in § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG besteht darin, dass die Vorschrift
ihrem Wortlaut nach nur für Wahlkreiskandidaten gilt, die entweder als Einzel-
bewerber auftreten oder für deren Partei keine Landesliste zugelassen ist. Dem
Wortlaut nach ungeregelt bleibt darin die Frage, wie bei erfolgreichen Partei-
bewerbern zu verfahren ist, deren Partei sowohl an der Fünf-Prozent-Sperrklau-
sel als auch an der Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG) gescheitert
sind. Bei der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag 2002 ist dieser bis dahin the-
oretische Fall in zwei Wahlkreisen in Berlin eingetreten.
Gegen diese verfassungswidrige Rechtslage sind Wahlprüfungsbeschwerden
beim Bundesverfassungsgericht eingelegt worden. Der Gesetzgeber hat diese
Regelungslücke nunmehr schnellstens zu beseitigen.

B. Lösung
Ergänzung des § 6 Abs. 1 BWG.

C. Alternativen
Keine

Drucksache 15/4717 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

D. Kosten
Die Durchführung des Wahlvorgangs, die Wahlkreiseinteilung sowie sonstige
verfahrensbezogene Regelungen werden durch die Änderung nicht beeinflusst,
so dass sich keine über den bisherigen Wahlauszählungsvorgang hinausgehen-
den administrativen Kosten ergeben.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4717

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes zur
Berücksichtigung von Zweitstimmen (Zweitstimmen-Berücksichtigungsgesetz)

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1
Änderung des Bundeswahlgesetzes

Das Bundeswahlgesetz, zuletzt geändert durch …, wird
wie folgt geändert:
Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 wird folgender neue Satz 3 einge-
fügt:
„Ebenso nicht berücksichtigt werden die Zweitstimmen der-
jenigen Wähler, die eine nach Absatz 6 nicht zu berücksich-
tigende Partei gewählt haben.“

Artikel 2
Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am 1. Juli 2005 in Kraft.

Berlin, den 25. Januar 2005

Wolfgang Bosbach
Hartmut Koschyk
Thomas Strobl (Heilbronn)
Wolfgang Zeitlmann
Günter Baumann
Clemens Binninger
Hartmut Büttner (Schönebeck)
Norbert Geis
Roland Gewalt
Ralf Göbel
Reinhard Grindel
Manfred Grund
Volker Kauder
Kristina Köhler (Wiesbaden)
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski (Recklinghausen)
Stephan Mayer (Altötting)
Beatrix Philipp
Dr. Ole Schröder
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

Drucksache 15/4717 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Begründung

I. Handlungsbedarf
Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 1988
(BVerfGE 79, 161 ff., 168 f.) eine Regelungslücke in § 6
Abs. 1 Satz 2 Bundeswahlgesetz (BWG) festgestellt und den
Gesetzgeber aufgefordert, aus Gründen der Rechtsklarheit
eine Änderung des BWG zu erwägen.
Die Regelungslücke in § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG besteht nach
Auffassung des Gerichts darin, dass die Vorschrift ihrem
Wortlaut nach nur für Wahlkreiskandidaten gilt, die entwe-
der als Einzelbewerber auftreten oder für deren Partei keine
Landesliste zugelassen ist. Dem Worlaut nach ungeregelt
bleibt darin die Frage, wie bei erfolgreichen Parteibewerbern
zu verfahren ist, deren Partei sowohl an der Fünf-Pro-
zent-Sperrklausel als auch an der Grundmandatsklausel (§ 6
Abs. 6 Satz 1 BWG) gescheitert sind.
Das Gericht hat bereits 1988 die Möglichkeit gesehen, dass
ein solcher Fall eintreten kann. In richterlicher Rechtsfortbil-
dung hat es den Gesetzgeber zur Regelung auch dieses Falles
aufgefordert.
Bei der Bundestagswahl 2002 ist die vorausblickende Er-
kenntnis des Bundesverfassungsgerichts bestätigt worden,
indem der bis dahin allein theoretisch erwogene Fall in zwei
Wahlkreisen in Berlin tatsächlich eingetreten ist:
Bei der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag ist die PDS an
der Fünf-Prozent-Sperrklausel gescheitert; zugleich haben
jedoch zwei Wahlkreiskandidaten dieser Partei in Berlin
Direktmandate in den Wahlkreisen 86 und 87 erlangt.
Beim amtlichen Endergebnis wurden dennoch die Zweit-
stimmen derjenigen Wähler, deren Erststimme zu einem
Direktmandat geführt hat, berücksichtigt.
Das Gericht hatte in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1988
(BVerfGE 79, 161 ff., 168) in § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG eine
Gesetzeslücke erkannt, die im Widerspruch zum Prinzip der
gleichen Wahl aus Artikel 38 GG und zum Grundsatz des
gleichen Erfolgswertes aller Stimmen steht. Diese Lücke be-
steht nach Ansicht des Gerichts darin, dass Zweitstimmen
nicht berücksichtigt werden dürfen, wenn Kandidaten einer
Partei, die die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht erfüllt haben,
ein oder zwei Wahlkreismandate erhalten haben. Die Be-
rücksichtigung dieser besagten Zweitstimmen ermöglicht je-
doch einen doppelten Stimmerfolg und verstößt somit gegen
den Grundsatz der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen aus
Artikel 38 GG.
Der Bundeswahlausschuss hat in seiner Sitzung am 9. Okto-
ber 2002 das amtliche endgültige Endergebnis festgestellt; in
dieser öffentlichen Sitzung galt ein Großteil der Beratungen
ebenfalls dieser Frage (vgl. Niederschrift über die 3. Sitzung
des Bundeswahlausschusses für die Wahl des 15. Deutschen
Bundestages vom 9. Oktober 2002). Dabei ist überwiegend
der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts mate-
riellrechtlich zugestimmt worden und dem Gesetzgeber die
Änderung des § 6 Abs. Satz 2 BWG empfohlen worden; die
Anwendung dieser Rechtsauffassung des Bundesverfas-
sungsgerichts auf die Wahl 2002 wurde lediglich mit der Be-

gründung abgelehnt, dass der Gesetzgeber die genannte Vor-
schrift seither offensichtlich nicht geändert habe.
Der Bundeswahlleiter hat in einem Schreiben an den Präsi-
denten des Deutschen Bundestages vom 22. Oktober 2002
deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Bundeswahlaus-
schuss in der Sache die Auffassung des Bundesverfassungs-
gerichts teilt und deshalb jedenfalls eine Gesetzesänderung
für notwendig erachtet (Schreiben des Bundeswahlleiters
vom 22. Oktober 2002 an den Präsidenten des Deutschen
Bundestages auf Grund der Beratungen des Bundeswahlaus-
schusses).
Der gesamte Fragenkomplex und insbesondere die angeregte
Änderung des Bundeswahlgesetzes ist in der gemeinsamen
Sitzung von Wahlprüfungsausschuss und Innenausschuss
des Deutschen Bundestages am 1. April 2004 ebenfalls erör-
tert worden. Auch hier wurde die Notwendigkeit der Geset-
zesänderung deutlich gemacht.
II. Schließen der systemwidrigen Regelungslücke
Bereits die Anregung des Bundesverfassungsgerichts im
Jahre 1988 an den Gesetzgeber ist ausschließlich mit dem
Gebot der Rechtsklarheit begründet worden; damit hat das
Bundesverfassungsgericht die konstitutive Rechtslage be-
reits klargestellt, nämlich dass der besagte Fall der Sperr-
klausel mit den in § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG genannten Fällen
gleichzusetzen und die Vorschrift entsprechend anzuwenden
ist (BVerfGE 79, 161 ff.).
Nach der ursprünglichen Regelung im BWG (§ 9 Abs. 4
BWG 1953) waren Landeslisten schon dann bei der Man-
datsverteilung zu berücksichtigen, wenn sie in einem Wahl-
kreis einen Kandidaten durchgebracht hatten. Nach der
Heraufsetzung der Zahl der Grundmandate auf drei wurde
zwar der neue § 6 Abs. 1 Satz 3 geändert, nicht aber § 6
Abs. 1 Satz 2 BWG den neuen Voraussetzungen angepasst.
Laut ausdrücklicher Stellungnahme des Bundesverfassungs-
gerichts in dem damaligen Urteil wurde im Verlauf des Ge-
setzgebungsverfahrens „ersichtlich übersehen, dass diese
Konstellation Wählern, die mit ihrer Zweitstimme Parteien
bedacht haben, die an der Sitzverteilung teilnehmen, einen
doppelten Stimmerfolg ermöglicht und daher auch eine
Änderung des § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG veranlasst war“
(BVerfGE 79, 161 ff.).

III. Anregung zur analogen Anwendung durch das Bun-
desverfassungsgericht

Diese Judikatur hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner
Entscheidung zu den Überhangmandaten aus dem Jahre
1997 noch einmal unterstrichen:
„Anders ist dies, soweit die Erststimme für einen nicht von
einer Partei vorgeschlagenen Wahlkreisbewerber oder für
einen von einer Partei vorgeschlagenen Wahlkreisbewerber,
der nicht mit einer Landesliste im betreffenden Land kandi-
diert, abgegeben wird. Die Erfolgschance dieser Wähler,
nicht nur über ihre Zweitstimme, sondern auch über ihre
Erststimme Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundes-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/4717

tages nehmen zu können, ist hier – ex ante betrachtet – höher
im Vergleich zu den übrigenWählern. Denn bei einem derart
beschriebenen Wahlverhalten steht vorher fest, dass die
Stimmen dieser Wähler schon deshalb doppeltes Gewicht
für die Zusammensetzung des Bundestages gewinnen kön-
nen, weil die Abrechnung eines Wahlkreismandates mangels
Landesliste von vornherein unmöglich ist. Wenn der Gesetz-
geber unter der Voraussetzung, dass sich ein solcher Wahl-
kreisbewerber imWahlkreis durchsetzt, die von diesenWäh-
lern abgegebenen Zweitstimmen nicht wertet (§ 6 Abs. 1
Satz 2 BWG), stößt dies auf keine verfassungsrechtlichen
Bedenken. Es wahrt gerade die Gleichheit der Erfolgs-
chancen aller Stimmen“ (BVerfGE 95, 335 ff., 357; ähnlich
bereits BVerfGE 79, 161 ff., 168).
Damit hat das Bundesverfassungsgericht die analoge An-
wendung der Vorschrift vorgegeben. Das Gericht hat seine
Anregung an den Gesetzgeber, tätig zu werden, ausschließ-
lich mit dem Gebot der Rechtsklarheit begründet. Auch da-
mit macht das Gericht klar, dass die konstitutive Rechtslage
aus seiner Sicht durch die Gleichstellung der Fälle und den
Verweis auf die Analogie dahingehend entschieden ist, dass
der Fall der Sperrklausel zwingend mit den in § 6 Abs. 1
Satz 2 BWG genannten Fällen gleichzusetzen und die Vor-
schrift entsprechend anzuwenden ist.
In diesem speziellen Fall ist somit auch eine Analogie für
den Ausnahmefall geboten, so wie es das obiter dictum des
Bundesverfassungsgerichts vorsieht.

IV. Gesetzgeber muss tätig werden
Das BWG ist aber seit Erkennen dieses Problems unverän-
dert geblieben.
Aus dieser Tatsache kann hingegen nicht der Schluss gezo-
gen werden, dass der Gesetzgeber die Regelungslücke be-
wusst in sein Regelungsprogramm aufgenommen habe.
Ein e-contrario-Schluss, nach dem die analoge Anwendung
deswegen ausscheidet, weil der Gesetzgeber untätig geblie-
ben ist, lässt sich auf jeden Fall nicht eindeutig herleiten.
Vielmehr deutet die Tatsache, dass es bis zu dieser Wahl-
periode – weder im Plenum noch in einem Ausschuss – zu
Beratungen über die Frage einer Änderung der vom Bundes-
verfassungsgericht festgestellten Gesetzeslücke gekommen
ist, auf eine planwidrige Regelungslücke schließen.

In dem Beschluss von 1988 wird der Gesetzgeber vom Bun-
desverfassungsgericht dazu aufgefordert, die festgestellte
Regelungslücke „aus Gründen der Rechtsklarheit ent-
sprechend“ zu schließen. Auch die in dessen Folge erschie-
nenen Literaturstimmen der Fachliteratur haben sich der
Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts ange-
schlossen und eine Gesetzesänderung thematisiert (Rupert
Scholz/Hans Hofmann, ZRP 2003, 39 ff.; Jörn Ipsen,
DVBl 2003, 1013 ff.; ders. JZ 2002, 469 ff.; Roth in: Um-
bach/Clemens, 2002, Artikel 38, Rn. 97; Thomas Posch-
mann, ThürVBl. 2003, 121 ff.; Wolfgang Schreiber,
NvWZ 2003, 403 ff.; Friedrich Pukelsheim, DÖV 2004,
405 ff.).
Würde der Gesetzgeber eine abermalige Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts in dieser Rechtssache auf Grund
anhängiger Wahlprüfungsbeschwerden abwarten, so liefe er
Gefahr, vom Bundesverfassungsgericht abermals die Lü-
ckenhaftigkeit seiner Rechtssetzung vorgehalten zu bekom-
men. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass
nach § 31 BVerfGG die Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der
Länder zu binden vermögen.
Zudem könnte das Gericht zu Recht eine Missachtung seiner
Judikatur und seiner Rolle im gewaltenteiligen Staat darin
erkennen, wenn der Gesetzgeber selbst dann keine Gesetzes-
änderung vornehmen würde, wenn der durch das Gericht
Jahre vorher theoretisch gesehene Fall dann auch rechtstat-
sächlich eingetreten ist. Diese Desavouierung des Bundes-
verfassungsgerichts sollte unbedingt vermieden werden.
Im Übrigen würde es nicht verwundern, wenn das Bundes-
verfassungsgericht in einer abermaligen Entscheidung auf
die erkennbare Missachtung seiner Judikatur durch denn
Gesetzgeber in der Weise reagieren würde, dass es die
rechtsgestaltende Entscheidung über die Schließung der Re-
gelungslücke dem Gesetzgeber abnehmen und durch eine
Regelungsanordnung die Gesetzesänderung selbst herbei-
führen würde.
Um dies zu vermeiden, sollte der Deutsche Bundestag seiner
Aufgabe gerecht werden und die angeregte Klarstellung von
§ 6 Abs. 1 Satz 2 BWG jetzt herbeiführen.
V. Inkrafttreten
Das Inkrafttreten muss rechtzeitig vor der Wahl zum
16. Deutschen Bundestag erfolgen.

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