BT-Drucksache 15/1601

Entwicklung eines Gesamtkonzeptes zur Abwehr bioterroristischer Gefahren

Vom 23. September 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1601
15. Wahlperiode 23. 09. 2003

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katherina Reiche, Hartmut Koschyk, Dr. Maria Böhmer,
Wolfgang Bosbach, Thomas Rachel, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen),
Dr. Christoph Bergner, Helge Braun, Vera Dominke, Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Land), Volker Kauder, Michael Kretschmer, Helmut Lamp, Werner Lensing,
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Uwe Schummer, Marion Seib, Thomas Strobl
(Heilbronn), Günter Baumann, Clemens Binninger, Hartmut Büttner (Schönebeck),
Norbert Geis, Roland Gewalt, Ralf Göbel, Reinhard Grindel, Klaus Hofbauer,
Martin Hohmann, Dorothee Mantel, Erwin Marschewski (Recklinghausen),
Stephan Mayer (Altötting), Beatrix Philipp, Dr. Ole Schröder, Wolfgang Zeitlmann,
Hildegard Müller, Michael Stübgen und der Fraktion der CDU/CSU

Entwicklung eines Gesamtkonzepts zur Abwehr bioterroristischer Gefahren

Im Oktober 2001 kam es in den USA in der Folge der Anschläge auf das
World-Trade-Center zu gefährlichen Anthrax-Überfällen auf Zivilpersonen und
Bedienstete von US-Bundesbehörden. In Boca Raton, Florida, in Trenton, New
Jersey, in Washington D. C. und in New York verzeichneten die staatlichen
Stellen neben fünf wahrscheinlichen 17 gesicherte Anthrax-Fälle, davon zehn
Lungen- und sieben Haut-Anthrax-Fälle. Vier Menschen starben.
Die staatlichen Behörden der USA reagierten sofort. 30 000 prophylaktische
Antibiotika-Behandlungen wurden durchgeführt und zahlreiche öffentliche
Gebäude dekontaminiert. In der USA stehen nach dem 11. September 2001 der
Forschung allein für die Bioabwehr 7 Mrd. US-Dollar zur Verfügung. Die EU
hat hierfür nur 4 Mio. Euro vorgesehen. Die Vorkehrungen für den Kampf
gegen Pockenviren oder Milzbranderreger in Europa sind auch nach den An-
schlägen vom 11. September 2001 weder im Umfang noch in der Wirkung mit
denen in den USA vergleichbar.
Das erschreckende Beispiel einer bewussten Freisetzung von Bakterien in den
USA zeigt, dass dem Zivil- und Katastrophenschutz im Hinblick auf bioterro-
ristische Gefahren auch in Deutschland ein neuer Stellenwert eingeräumt wer-
den muss. Eine Freisetzung von Erregern oder chemischen Giftstoffen kann
jederzeit, auf jedem Punkt der Erde durch Krieg, Bioterror, Erpressung, aus
ökonomischen Gründen oder einfach aus Ignoranz erfolgen.
Noch nie war es so einfach wie heute, eine biologische Waffe herzustellen. Bio-
technologisches Wissen ist weltweit verfügbar und anwendbar. Milzbrand-
erreger und andere potenzielle Biowaffen wurden bereits gentechnisch ver-
ändert. Anthrax-Bakterien – die Erreger von Milzbrand – wurden so verändert,
dass weder Impfungen noch Nachweisverfahren darauf anspringen.

Drucksache 15/1601 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Deutschland ist nach Auffassung maßgeblicher Experten der Infektionsbiologie
vor einem terroristischen Anschlag durch eine bewusste Freisetzung biologi-
scher Organismen oder chemischer Stoffe nicht ausreichend geschützt. Glei-
ches gilt für neu entstehende Infektionskrankheiten wie etwa SARS oder Ebola.
Wir brauchen dringend eine breiter angelegte Forschung. Sie ist unverzichtbare
Voraussetzung für eine effektive Gefahrenabwehr. Die für eine wirksame Bio-
terrorismusprävention notwendigen speziellen Hochsicherheitslabors sind nicht
vorhanden. Ein Gesamtkonzept zum wirksamen Schutz der Bevölkerung fehlt,
und es gibt keine einheitliche, objektive und umfassende Gefährdungsanalyse.
Anstatt ein Kompetenzzentrum zur Abwehr bioterroristischer Angriffe auf-
zubauen, trug die Bundesregierung Anfang des Jahres bei der Diskussion der
Pockengefahr mit widersprüchlichen Verlautbarungen zur Verunsicherung der
Bevölkerung bei.
Dringend erforderlich sind die Verbesserung der fachmedizinischen Ausbil-
dung und die Koordination der Forschung im Hinblick auf die Gefahren des
Bioterrorismus. Das gilt gleichermaßen für die Ausbildung der Hilfskräfte wie
Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste und die zielgerichtete Zusammenarbeit
von Sicherheits- und Gesundheitsbehörden.
Im Bereich der Forschung besteht im Hinblick auf die Resistenz der Erreger
gegen bekannte Antiinfektiva großer Forschungsbedarf. Darüber hinaus müs-
sen Schnellerkennungsmethoden für genetisch veränderte Mikroorganismen
entwickelt werden, ebenso wie diagnostische Verfahren und automatisierte
Nachweistechniken. Ferner müssen neue Impfstoffe und Antiinfektiva um-
fassend erforscht werden. Die erforderlichen Mittel sind schnellstmöglich be-
reitzustellen.
Die Bedrohung durch akute oder chronische bioterroristische Infektions-Szena-
rien kann jederzeit – auch bei uns – real werden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung aus der bioterroristischen

Bedrohung seit Oktober 2001 gezogen?
2. Welche Maßnahmen hat der Bund ergriffen, um die ungeklärten Zuständig-

keiten zwischen Bund und Ländern im Falle einer von Biowaffen ausgehen-
den Gefahr zu klären?

3. Wie hat sich aus Sicht des Bundes das Zusammenspiel zwischen Bund und
Ländern angesichts der Gefahren des Bioterrorismus in der Vergangenheit
dargestellt?
Wo besteht Handlungsbedarf?

4. Ist gewährleistet, dass Deutschland auch kurzfristig über ausreichend Anti-
biotika verfügt?
Wenn ja, wie sieht das Konzept der Bundesregierung aus?
Gibt es in diesem Bereich Absprachen mit der Industrie?
Wenn ja, mit welchem Inhalt?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/1601

5. Gibt es eine Vorsorge durch Chemotherapeutika, Antitoxine und Impfstoffe
vor potenziellen Biowaffen, insbesondere der Kategorie A (Kategorisie-
rung nach CDC: US-Center for Disease Control and Prevention), d. h.
leichte Ausbringung, leichte Übertragbarkeit und hohe Mortalität wie: Ba-
cillus anthracis (Milzbrand), Variolavirus (Pocken), Yersinia pestis (Pest),
Francisella tularensis (Tularämie), Botulinum-Toxin (Botulismus) und
virale hämorraghische Fieber (Ebola, Marburg, Lassa)?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung neuere Gefahren des Bioterrorismus,
die nicht mehr mit klassischen Methoden bekämpft werden können, wie
variante Milzbrand-Stämme, die resistent gegen Penicillin, Rifampicin,
Tetracyclin, Chloramphenicol, Makrolide sind?
Oder rekombinante Milzbrand-Stämme, die Cereolysin exprimieren?
Oder rekombinante Yersinia-Stämme, die Diphtherie-Toxin exprimieren?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahren neuer Erreger wie
rekombinante Francisella-, Brucella- und Yersinia-Stämme, die β-Endor-
phin exprimieren?
Oder rekombinante Legionellen-Stämme, die Myelin exprimieren?
Oder rekombinante IL-4 produzierende Ektromelie-Viren (Pockenvirus der
Maus)?

8. Plant die Bundesregierung praxisnahe Schutz- und Simulationsübungen
wie „Dark Winter“, eine Übung des National Security Councils der USA
(Juni 2001), um daraus Erkenntnisse für weitere Schutzmaßnahmen zu
ziehen?

9. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über aktuelle Forschung im Be-
reich öffentlicher Institutionen, im universitären und außeruniversitären
Bereich an kategorisierten Erregern wie Anthrax und Pest?

10. Welche Mittel stehen den öffentlichen Forschungsinstitutionen wie Robert
Koch-Institut (RKI) und Paul-Ehrlich-Institut (PEI) seit 2001 für For-
schungszwecke im Bereich der Bioabwehr zur Verfügung?

11. Ist das RKI personell und sachlich so ausgestattet, dass es seine Aufgabe
als nationales Kompetenzzentrum zur Abwehr bioterroristischer Angriffe
wahrnehmen kann?
In welcher Höhe sind die Haushaltsmittel seit 2001 aufgestockt worden?

12. Wie viel Geld ist im Bundeshaushalt 2004 für die Forschung im Bereich
der Bioabwehr vorgesehen?

13. Wie viele Biosicherheitslabors gibt es in Deutschland, und wie beurteilt die
Bundesregierung die technische Ausstattung der Labors?

14. Welche weiteren Infrastrukturmaßnahmen plant die Bundesregierung be-
treffend Diagnostik, Prävention und Therapie?

15. Ist auch an die Erforschung genereller Schutzmechanismen, an diagnosti-
sche Schnellverfahren und an die Entwicklung neuer Präventiva und Breit-
band-Therapeutika gedacht?

16. Gibt es in Deutschland eine vergleichbare Verteilung der staatlichen
Schutzaufgaben bei der Bioabwehr wie sie in den USA geregelt ist mit dem
CDC, das für Überwachung, Training und Impfstofflagerung zuständig ist,
mit der Food and Drug Administration (FDA), mit seinen regulatorischen

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und hoheitlichen Aufgaben sowie mit dem National Institute of Health
(NIH), das für die Forschung und Forschungskoordination im Bereich der
Bioabwehr, Entwicklung medizinischer Interventionsstrategien und für die
Beurteilung neuer Forschungseinrichtungen zuständig ist?

17. Gibt es in Deutschland einen Forschungsplan wie die Research Agenda
des NIAID (National Institute of Allergy and Infectious Disease) in den
USA, die mittlerweile keine Trennung von natürlichen Infektionskrankhei-
ten und Bioterrorismus-Erregern sowie von bewusster und unbewusster
Freisetzung vornimmt?

18. Beabsichtigt die Bundesregierung ein mit dem Project BioShield, das der
amerikanische Präsident George W. Bush im Januar 2003 verkündet hat,
vergleichbares Programm zu verabschieden?

19. Gibt es in Deutschland eine Liste ausgewählter Agenzien mit bioterroristi-
schem Potenzial (humane Krankheitserreger, Toxine, Nahrungsmittel/land-
wirtschaftliche Produkte)?

20. Gibt es in Deutschland eine Registrierung der Einrichtungen, die solche
Agenzien handhaben und besitzen (Sicherheit der technischen Einrichtun-
gen und Zuverlässigkeit der Personen), und gibt es eine Definition des
Nutzerkreises?

21. Sieht die Bundesregierung in der Veröffentlichung von Publikationen über
Forschungsergebnisse im Bereich des Bioterrorismus auch ein mögliches
Gefahrenpotenzial, und wenn ja, welche Schutzmaßnahmen schlägt sie
vor?

22. Reichen nach Auffassung der Bundesregierung die Bemühungen in der EU
auf dem Gebiet der Bioterrorismusabwehr aus wie die Einrichtung der
R & D-Expertengruppe (R & D: Forschung und Entwicklung) in der Gene-
raldirektion XII: „Gegenmaßnahmen auf die Auswirkungen von biolo-
gischem und chemischem Bioterrorismus“, das ESTO-Projekt (European
Science and Technology Observatory): „Verletzbarkeit gegenüber Bio-
terrorismus und Konsequenzen für die Wissenschaft“ (bewusste/unbe-
wusste Freisetzung) und die Forschung im Rahmen des 6. EU-Forschungs-
rahmenprogramms (z. B. vorläufige Bewilligung „Anthrax Euronet“)?

23. Hält die Bundesregierung die Einrichtung eines Kompetenzzentrums für
Bioabwehr in Deutschland für sinnvoll bzw. erwägenswert mit folgenden
Zuständigkeitsbereichen: Koordination von Forschung und Ausbildung,
Training medizinischen Personals (Früherkennung, Schnelltest), Training
nichtmedizinischen Personals (Polizei, Feuerwehr), Wissenschaftstransfer
von Forschung in klinische Anwendung sowie Vernetzung der internatio-
nalen Zusammenarbeit?

24. Welche Stellen in der Bundesregierung befassen sich mit dem Thema Ab-
wehr bioterroristischer Gefahren?
Wie viele Biologen beschäftigt die Bundesregierung in diesen Stellen?

25. Welche internationale Zusammenarbeit besteht bei der Abwehr bioterroris-
tischer Gefahren und wie könnte diese aus Sicht der Bundesregierung ver-
bessert werden?

26. Wie bewertet die Bundesregierung den internationalen Austausch wissen-
schaftlicher Erkenntnisse zur Bioabwehr?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/1601

27. Welche Erfahrung hat die Bundesregierung für die Abwehr bioterroristi-
scher Gefahren im Rahmen der Global Health Security Action Group ge-
wonnen und gibt es eine ähnliche Kooperation im EU-Rahmen?

28. Wie werden die Ergebnisse der Übung Global Mercury der Global Health
Security Action Group vom 8. bis 10. September 2003 von der Bundes-
regierung beurteilt?

Berlin, den 23. September 2003
Katherina Reiche
Hartmut Koschyk
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Thomas Rachel
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
Dr. Christoph Bergner
Helge Braun
Vera Dominke
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Volker Kauder
Michael Kretschmer
Helmut Lamp
Werner Lensing
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)
Uwe Schummer
Marion Seib
Thomas Strobl (Heilbronn)
Günter Baumann
Clemens Binninger
Hartmut Büttner (Schönebeck)
Norbert Geis
Roland Gewalt
Ralf Göbel
Reinhard Grindel
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski (Recklinghausen)
Stephan Mayer (Altötting)
Beatrix Philipp
Dr. Ole Schröder
Wolfgang Zeitlmann
Hildegard Müller
Michael Stübgen
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