BT-Drucksache 15/1097

Wirksamen Zivil- und Katastrophenschutz schaffen

Vom 3. Juni 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1097
15. Wahlperiode 03. 06. 2003

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble, Hartmut Koschyk,
Beatrix Philipp, Christian Schmidt (Fürth), Thomas Kossendey, Thomas Strobl
(Heilbronn), Wolfgang Zeitlmann, Günter Baumann, Clemens Binninger,
Hartmut Büttner (Schönebeck), Cajus Caesar, Ingrid Fischbach, Norbert Geis,
Roland Gewalt, Ralf Göbel, Reinhard Grindel, Klaus Hofbauer, Martin Hohmann,
Volker Kauder, Dorothee Mantel, Erwin Marschewski (Recklinghausen),
Stephan Mayer (Altötting), Dr. Ole Schröder, Ulrich Adam, Jürgen Herrmann,
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg), Ursula Lietz, Dr. Gert Müller, Bernward Müller
(Gera), Hans Raidel, Helmut Rauber, Anita Schäfer (Saalstadt), Bernd Siebert,
Erika Steinbach und der Fraktion der CDU/CSU

Wirksamen Zivil- und Katastrophenschutz schaffen

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Auf der Basis der gesetzlichen Regelungen des Bundes und der Länder im
Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes sowie der Regelungen zu Hilfe-
leistungen der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes bei Großschadens-
ereignissen ist in der Vergangenheit ein funktionierendes System zur Bewäl-
tigung von Schadensereignissen geschaffen worden. Dieses hatte sich bisher
auch bei der Bewältigung von Großschadensereignissen und Katastrophen
bewährt.
Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten
und den Hochwasserkatastrophen im Sommer 2002 in Deutschland ist jedoch
offenkundig geworden, dass unser bisher zweigeteiltes nationales Notfallvor-
sorgesystem derartigen Ereignissen nicht mehr ausreichend gewachsen ist. Im-
mer noch gilt die überkommene Kompetenzverteilung zwischen Katastrophen-
schutz und Zivilschutz. Danach sind die Länder und Kommunen im Rahmen
der Gefahrenvorsorge für alle Katastrophen und Großschadensereignisse zu-
ständig, die nicht durch kriegsbedingte Angriffe selbständiger Völkerrechts-
subjekte entstehen. Der Bund ist nur bei kriegerischen Auseinandersetzungen
mit anderen Staaten für den Schutz der Bevölkerung zuständig. Diese strikte
Trennung der Zuständigkeiten wird den zwischenzeitlich vorstellbaren Bedro-
hungsszenarien nicht gerecht und leidet unter Kompetenzkonflikten. Der
Schutz der Bevölkerung ist bei nicht kriegsbedingten nationalen oder interna-
tionalen Gefahrenlagen nicht mehr ausreichend gewährleistet. Die denkbaren
Bedrohungsszenarien sind heute nicht mehr eindeutig klassifizierbar. Es ist un-
erheblich, ob eine kriegerische Handlung von einem Staat oder einer nichtstaat-
lichen Terrororganisation ausgeht, die daraus erwachsenden Aufgaben zum
Schutz der Bevölkerung können von einem einzelnen Bundesland nicht bewäl-
tigt werden. Auch die Notstandsgesetze des Bundes und die Katastrophen-
schutzgesetze der Länder bieten heute nur unzureichende Lösungen.

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Das Problem „Verteidigung ohne Verteidigungsfall“ ist weiter ungelöst. Weder
für die Gefahrenabwehr gegen die neuen Bedrohungsformen der sog. asymme-
trischen Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung noch für die Bewältigung
von Naturkatastrophen in der Größenordnung des Jahrhunderthochwassers gibt
es bisher überzeugende Einsatzkonzepte oder Planungen hinsichtlich der vor-
zuhaltenden Einsatzressourcen, der Einsatzstrategien und der Einsatzkoordinie-
rung. Das unverzichtbare länderübergreifende, bundeseinheitliche Zusammen-
wirken aller Verantwortlichen und Sicherheitskräfte ist bis heute nicht oder nur
unzureichend vorgesehen.
Obwohl diese Einschätzung von allen Verantwortlichen geteilt wird, ist die
Bundesregierung nahezu zwei Jahre nach dem Terroranschlag in den USA und
ein Jahr nach dem Sommerhochwasser noch immer nicht bereit, die erforder-
lichen Initiativen zu ergreifen.
Der von der ständigen Konferenz der Innenminister und Innensenatoren der
Länder bereits am 6. Juni 2002 verabschiedete Maßnahmekatalog zur Umset-
zung der Konzeption „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ wurde und
wird nicht in dem erforderlichen Tempo umgesetzt. Gefahren- und Risikoana-
lysen sind nicht in ausreichendem Umfang erstellt worden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in mehreren Anträgen und Kleinen An-
fragen deutlich gemacht, dass hier akuter Handlungsbedarf besteht. Ziel muss
es sein, ein gemeinsames Gefahrenmanagement von Bund und Ländern sowie
eine stärkere Bündelung der Einsatzpotentiale aller Verwaltungsebenen so
schnell wie möglich einzuführen. Dabei ist das Ehrenamt seiner besonderen
Bedeutung für den Zivil- und Katastrophenschutz entsprechend zu berücksich-
tigen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die folgenden Maßnahmen
umzusetzen:
l Die Kräfte und Mittel der Inneren und Äußeren Sicherheit müssen enger als

bisher miteinander verzahnt werden. Hierzu benötigen wir ein Gesamtver-
teidigungskonzept, in das Polizei, Bundesgrenzschutz, Katastrophenschutz
und Bundeswehr einzubeziehen sind. Ein Ziel muss es dabei auch sein, die
Bundeswehr in besonderen Gefährdungslagen im Innern im Rahmen ihrer
spezifischen Fähigkeiten und bei Wahrung der Zuständigkeit der Länder er-
gänzend zur Polizei und zum Katastrophenschutz einzusetzen. Dabei darf
die Bundeswehr nicht zum Lückenbüßer für Defizite bei den prinzipiell
zuständigen Kräften der Inneren Sicherheit und des Katastrophenschutzes
werden.

l Die einschlägigen Vorschriften, vor allem die des Zivilschutzgesetzes, sind
so zu novellieren, dass neben Aufgaben zum Schutz vor kriegerischen
Handlungen auch Aufgaben im Zusammenhang mit anderen Angriffen von
nationaler Bedeutung wahrgenommen werden können, die nicht eindeutig
als Verteidigungsfall im herkömmlichen Sinne einzustufen sind. Für diese
– nicht eindeutig als Verteidigungsfall einzustufenden – „Angriffe“ muss die
Bundesregierung schnellstmöglich eine „Gefährdungsanalyse für die Bun-
desrepublik Deutschland“ erarbeiten und die Gefährdungspotenziale dieser
Schadensszenarien von nationaler Bedeutung bewerten.

l Die „Gefährdungsanalyse des Bundes“ ist mit den Gefährdungsanalysen der
Länder abzustimmen. Erst mit den abgestimmten Gefährdungsanalysen zwi-
schen Bund und Ländern kann über strategische und taktische Zielrichtun-
gen nachgedacht und eine ergänzende technische Ausstattung konzipiert
werden.

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l Zum Zweck eines optimierten Gefahrenabwehrmanagements sind die Mög-
lichkeiten des Bundes, die Länder mit Hilfe einer bundesweiten Koordinie-
rung zu unterstützen, auszuschöpfen.

l Insbesondere aus Gründen der verbesserten internationalen Zusammenarbeit
sollen auch grenzübergreifende Übungen mit dem benachbarten Ausland
durchgeführt werden.

l Die Bundesregierung muss alle Maßnahmen zur Optimierung des Zivil-
schutzes und zur Effektivitätssteigerung an der Schnittstelle zwischen Zivil-
und Katastrophenschutz zentral koordinieren.

l Die Bundesregierung muss mit Nachdruck dafür Sorge tragen, dass im Sinne
einer ganzheitlichen und integrierten Gefahrenabwehr eine einheitliche Füh-
rungsdienstvorschrift in den Ländern auf allen Ebenen anerkannt und um-
gesetzt wird. Diese Führungsdienstvorschrift ist in die Ausbildungs- und
Prüfungsordnungen der gehobenen und höheren Beamtenlaufbahn und ver-
gleichbarer Angestelltenprüfungen zwingend zu integrieren.

l Für die Unterstützung der örtlich zuständigen Stellen sind „Führungsunter-
stützungskomponenten“ durch den Bund aufzustellen, auszurüsten und zu
unterhalten. Diese Einheiten müssen interdisziplinär mit ausgewiesenen
Fachleuten besetzt sein und sind flächendeckend und mobil vorzuhalten;
und dies insbesondere für den Aufgabenbereich der atomaren (A), biologi-
schen (B) und chemischen (C) Gefahren und weiterer Gefahrenlagen von
nationaler Bedeutung.

l Die Kommunikation zwischen allen an der Gefahrenabwehr beteiligten Stel-
len (insbesondere der Katastrophenschutzbehörde, technischen Einsatzlei-
tung, Feuerwehr, Polizei und Bundeswehr) muss dauerhaft und zeitgemäß
sichergestellt werden.

l Eine erhebliche Sicherheitslücke für Polizei, Feuerwehr und Katastrophen-
schutz besteht beim derzeitigen analogen Funksystem, das völlig veraltet
und kaum noch praxistauglich ist. Gerade zur Bewältigung von Großscha-
denslagen ist ein leistungsfähiges bundeseinheitliches digitales Kommuni-
kationssystem, das mit den Systemen unserer europäischen Nachbarn kom-
patibel ist, dringend erforderlich. Dabei muss sichergestellt werden, dass die
Bundeswehr in dieses Kommunikationssystem einbezogen wird.

l Es ist erforderlich, dass ausreichende Rechtsgrundlagen geschaffen werden,
damit die Bundeswehr Unterstützungsleistungen für die Bundesländer, ins-
besondere für die Bereiche mit atomaren, biologischen und chemischen Ge-
fahren, Sanitätswesen und Kommunikation, im Hinblick auf einen terroristi-
schen Angriff erbringen kann. Die zivil-militärische Zusammenarbeit ist
dazu bis auf die Ebene der Bezirke wieder zu verstärken.

l Zu den Einsatzoptionen der Bundeswehr gehört grundsätzlich auch der
Schutz ziviler Objekte, wenn die Polizeikräfte des Bundes und der Länder
hierzu nicht mehr ausreichen.

l Die Terroranschläge des 11. September 2001 und die Vorgänge um das
entführte Flugzeug in Frankfurt Anfang diesen Jahres haben gezeigt, dass
die Schaffung einer ausreichenden Rechtsgrundlage für das sog. air-policing
besonders vorrangig sind.

l Die rechtlichen Möglichkeiten zur Heranziehung von Reservisten der Bun-
deswehr im Katastrophenfall sind zu schaffen und ausreichende Übungs-
möglichkeiten vorzusehen.

l Im Fall eines internationalen Terroranschlags mit radioaktiven Substanzen
sowie biologischen oder chemischen Kampfstoffen ist Deutschland nur
unzureichend vorbereitet. Für derartige Szenarien sind durch den Bund

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zentrale Vorplanungen zu erstellen, um nicht zuletzt einen einheitlichen
Schutz der Bevölkerung in der gesamten Bundesrepublik zu gewährleisten.
Dies betrifft auch die präventiven Planungen zur Sicherstellung von Energie
(Strom, Gas und Wärme), Wasser und Ernährung.

l Die Infrastruktur nicht nur bei ABC-Lagen, sondern insbesondere auch bei
einer Vielzahl von Betroffenen (medizinische Versorgung, Transport, Unter-
bringung und Betreuung) muss der veränderten Bedrohungslage angepasst
werden.

l Die taktischen Konzepte der ergänzenden Ausstattung des Bundes sind mit
den taktischen Zielen des Katastrophenschutzes der Länder abzustimmen
und den Anwendern bekannt zu machen. Dies gilt insbesondere für die
Komponenten im ABC-Schutz. Hierbei kann die Bundeswehr mit ihren spe-
zifischen Fähigkeiten eine besondere Rolle spielen.

l Angesichts der Lücken im Warnsystem sind endlich Lösungen zur unmittel-
baren Warnung der Bevölkerung zu entwickeln. Ein flächendeckend funk-
tionierendes, bundeseinheitliches und den Einzelnen erreichendes Warn-
system muss unverzüglich aufgebaut und betrieben werden.

l Zur Verbesserung der Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung müssen wichtige
Inhalte des Selbstschutzes und der Ersten Hilfe in verstärktem Maße breiten
Bevölkerungskreisen vermittelt werden. Es ist ein Ausbildungssystem für
den Bereich „Selbsthilfe“ zu entwickeln. Hier muss gewährleistet sein, dass
jede Bevölkerungsschicht unabhängig von Bildungsstand, sozialen Umfeld,
Nationalität und dergleichen erreicht wird.

l Die Zusammenhänge zwischen Wehrdienst, Zivildienst und Katastrophen-
schutz sind im erforderlichen Umfang zu berücksichtigen. Da eine Vielzahl
der Helfer insbesondere des THW und der Hilfsorganisationen anstelle des
Wehrdienstes Dienst bei den Hilfsorganisationen während einer mehrjähri-
gen Verpflichtungszeit leisten, ist die Kürzung der Einberufungskontingente
kontraproduktiv. Die schleichende Aushöhlung von Wehrdienst und Zivil-
dienst ist abzuwenden.

l Die „Rechengröße“ der zeitlichen Verfügbarkeit der Helfer mit ergänzender
Ausbildung im Zivilschutz – die Verpflichtungszeit bei einer Katastrophen-
schutzorganisation beträgt 6 Jahre, man geht aber planerisch von einer Zeit-
spanne von 10 Jahren aus – ist den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen.

l Unabhängig davon sind zur Gewinnung und nachhaltigen Motivation von
ehrenamtlichen Helfern zeitgemäße Anreizsysteme zu schaffen.

l Die Verteilung der Bundeskontingente ist nach einer Gefährdungsanalyse
endlich den aktuellen Bedürfnissen anzupassen. Es sind objektive Vertei-
lungskriterien zu entwickeln.

l Die mit Aufgaben des Zivilschutzes betrauten Behörden sind durch Verein-
fachung der Grundsätze und Ausführungsbestimmungen der Verwaltungs-
abwicklung zu entlasten. Die stellenweise erforderlichen Einzelnachweise in
der Systematik der Abrechnung müssen durch eine echte Pauschalisierung
ersetzt werden.

Berlin, den 3. Juni 2003
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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