BT-Drucksache 15/1090

Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen

Vom 3. Juni 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1090
15. Wahlperiode 03. 06. 2003

Antrag
der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, Klaus Barthel
(Starnberg), Dr. Axel Berg, Ute Berg, Hans-Werner Bertl, Klaus Brandner,
Ulla Burchardt, Elke Ferner, Wolfgang Grotthaus, Klaus Hagemann, Hubertus Heil,
Rolf Hempelmann, Walter Hoffmann (Darmstadt), Ulrich Kasparick,
Anette Kramme, Nicolette Kressl, Angelika Krüger-Leißner, Ernst Küchler,
Christian Lange (Backnang), Christian Müller (Zittau), Gesine Multhaupt,
Dr. Carola Reimann, René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Karin Roth
(Esslingen), Thomas Sauer, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Heinz Schmitt (Landau),
Wilfried Schreck, Swen Schulz (Spandau), Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk,
Dr. Rainer Wend, Andrea Wicklein, Engelbert Wistuba, Franz Müntefering und der
Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Volker Beck (Köln),
Ekin Deligöz, Jutta Dümpe-Krüger, Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lasten gerecht verteilen – Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Eine Ausbildung im dualen System ist für den überwiegenden Teil der jungen
Menschen in Deutschland die Basis für Arbeit und Einkommen, für Wohlstand
und individuelle Lebenschancen. Die Verantwortung für die berufliche Ausbil-
dung junger Menschen liegt vor allem bei den Unternehmen. Sie haben gerade
auch im eigenen Interesse dafür Sorge zu tragen, dass ein ausreichendes Ange-
bot an Ausbildungsplätzen zur Verfügung steht. Die absehbare demographische
Entwicklung unterstreicht die Notwendigkeit, rechtzeitig für qualifizierten
Fachkräftenachwuchs zu sorgen, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft zu sichern.
Die aktuelle Situation am Ausbildungsmarkt gibt Anlass zu größter Sorge. Im
Berichtsmonat April weist die Bilanz der Bundesanstalt für Arbeit eine rechne-
rische Lücke zwischen Angebot und Nachfrage von rund 160 000 Ausbildungs-
plätzen aus. Im Vergleich zum Vorjahresmonat wurden über 57 000 betriebliche
Ausbildungsstellen weniger gemeldet. Schon jetzt ist absehbar, dass ein ausrei-
chendes Angebot an Ausbildungsplätzen bis zum Beginn des Ausbildungsjah-
res nur mit äußerster Anstrengung aller Akteure erreicht werden kann.
Mit Besorgnis stellt der Deutsche Bundestag fest, dass die deutschen Unterneh-
men sich zunehmend aus ihrer Verantwortung zur Ausbildung junger Men-
schen zurückziehen. Nur noch ein knappes Drittel aller Unternehmen in

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Deutschland bildet überhaupt aus. Diese Minderheit der Unternehmen trägt –
gemeinsam mit dem Staat – die gesamten Lasten für die berufliche Ausbildung
junger Menschen, auf die letztlich alle Unternehmen angewiesen sind und von
der alle Unternehmen profitieren.
Die finanziellen Aufwendungen des Staates für die berufliche Ausbildung sind
in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und lagen nach einer Unter-
suchung des Bundesinstituts für Berufsbildung im Jahr 2000 bei insgesamt
rund 11 Mrd. Euro. Die Nettokosten der Wirtschaft bezifferte das BIBB (Bun-
desinstitut für Berufsbildung) für dasselbe Jahr auf rund 14,7 Mrd. Euro. Im
Vergleich zu 1991 sind sie für Industrie und Handel in Westdeutschland um
1 Prozent gesunken, im Handwerk um 27 Prozent gestiegen.
Die öffentliche Förderung der beruflichen Ausbildung im Interesse der Siche-
rung eines ausreichenden Angebots an Ausbildungsplätzen ist ohne jeden
Zweifel wichtig und begrüßenswert. Die Analysen des BIBB belegen allerdings
einen Trend zur Verlagerung der Kosten und damit der Verantwortung für die
berufliche Ausbildung von den Unternehmen auf den Staat, der im Endeffekt
zu einer Aushöhlung des dualen Systems zu führen droht und deshalb nicht hin-
nehmbar ist.
Angesichts dieses Trends und der zunehmend eklatanten Ungleichverteilung
der Lasten in der beruflichen Ausbildung besteht erheblicher Handlungsbedarf,
um das duale Berufsbildungssystem dauerhaft zu erhalten und zu stärken.
Der Deutsche Bundestag sieht in erster Linie die deutschen Unternehmen und
ihre Verbände in der Pflicht. Er appelliert an die Wirtschaft, in ihrem ureigenen
Interesse für eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zu sorgen, mehr
Unternehmen für die Ausbildung junger Menschen zu gewinnen und einen fai-
ren Lastenausgleich zwischen ausbildenden und nichtausbildenden Betrieben
zu organisieren. Angesichts der Tatsache, dass sich nach Berechnungen des
BIBB wie auch des DIHK die Ausbildung junger Menschen unter Berücksich-
tigung aller Kostenfaktoren in vielen Fällen für die Betriebe sogar finanziell
lohnen kann, muss es möglich sein, dass die deutsche Wirtschaft kurzfristig
eine erhebliche Zahl zusätzlicher Unternehmen für die Ausbildung mobilisiert.
Sollte die deutsche Wirtschaft ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, steht
der Gesetzgeber in der Pflicht, eine Regelung zur Finanzierung zusätzlicher be-
trieblicher Ausbildungsplätze in Kraft zu setzen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt
– die von Bundesregierung und Sozialpartnern am 29. April 2003 unter dem

Titel „Ausbilden jetzt – Erfolg braucht alle“ der Öffentlichkeit vorgestellte
gemeinsame Ausbildungsoffensive, die darauf zielt, mehr Unternehmen für
die Ausbildung zu gewinnen und zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen;

– die kurzfristig eingeleiteten Maßnahmen der Bundesregierung zur Erhaltung
vorhandener und Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze insbesondere
auch in den neuen Ländern sowie zum Abbau von Ausbildungshemmnissen.
Zu nennen sind in diesem Zusammenhang unter anderem
– die Verstetigung der Mittel für die Ausbildungsprogramme in den neuen

Ländern sowie die Ankündigung neuer Initiativen zur betriebsbezogenen
Ausbildung in Problemregionen;

– die Erweiterung des Programms „Kapital für Arbeit“ auf die Schaffung
zusätzlicher Ausbildungsplätze;

– die Intensivierung des Jugendsofortprogramms;
– das angekündigte zusätzliche Beschäftigungs- und Qualifizierungsange-

bot für 100 000 Sozialhilfebezieher unter 25 Jahren;

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– die auf fünf Jahre befristete Aussetzung der Ausbildereignungsverord-
nung;

– die Festschreibung der Geringverdienergrenze auf 325 Euro, um zusätz-
liche Ausbildungskosten der Betriebe zu vermeiden;

– die Integration der Berufsausbildungsvorbereitung für alle noch nicht ausbil-
dungsfähigen Jugendlichen in das Berufsbildungsgesetz im Zuge der Hartz-
Reformen und die damit verbundene Schaffung eines Systems von Qualifi-
zierungsbausteinen;

– die Ankündigung der Bundesanstalt für Arbeit, die Förderung von berufs-
vorbereitenden Maßnahmen nach dem Dritten Sozialgesetzbuch und von
Pflichtleistungen für behinderte Jugendliche mindestens auf Vorjahresni-
veau fortzuführen;

– die Ankündigung der Bundesregierung, die Betriebe gegebenenfalls auch
gesetzlich stärker in die Verantwortung für mehr Ausbildungsplätze zu neh-
men.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– die deutsche Wirtschaft fortgesetzt und nachdrücklich daran zu erinnern,

dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährdet, wenn sie ihrer gesellschaft-
lichen Verpflichtung aus Artikel 14 Abs. 1 und 2 zur Ausbildung junger
Menschen und ihren Zusagen aus dem Bündnis für Arbeit, jedem jungen
Menschen einen Ausbildungsplatz anzubieten, nicht nachkommt;

– für den Fall, dass zum Ende des laufenden Vermittlungsjahres am
30. September 2003 kein ausreichendes Angebot an Ausbildungsstellen zur
Verfügung steht, die Unternehmen und ihre Verbände zu verpflichten, un-
mittelbar verbindliche und überprüfbare Zusagen zu geben, die erforderliche
Zahl zusätzlicher Ausbildungsplätze bis zum Ende des Kalenderjahres am
31. Dezember 2003 zur Verfügung zu stellen, gegebenenfalls auch durch
eine solidarische Form der Finanzierung;

– für den Fall, dass die Wirtschaft nicht in der Lage ist, für das in ihrem eige-
nen Interesse liegende ausreichende Angebot an qualifizierten Nachwuchs-
kräften für ihre künftige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen und
einer freiwilligen und verbindlichen Regelung nicht zustimmt, umgehend
eine gesetzliche Regelung vorzulegen, die darauf zielt, Lasten gerecht zu
verteilen und neue betriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Unterneh-
men, die durch zu wenig Ausbildung ihre eigene künftige Wettbewerbs-
fähigkeit gefährden und damit sich und den ausbildenden Unternehmen
schaden, müssen nach ihrer Leistungsfähigkeit an den Ausbildungsleistun-
gen beteiligt werden. Betriebe, die die Hauptlast für die Ausbildung tragen,
sollten im Gegenzug entlastet werden. Übergeordnetes Ziel dieser Regelung
muss es sein, das duale System der Berufsausbildung zu stärken und einer
fortgesetzten Verlagerung der Verantwortung für die Ausbildung junger
Menschen auf die staatliche Ebene entgegenzusteuern; die Bundesregierung
wird aufgefordert, konkrete Modelle zu entwickeln und zu prüfen, die die
Umsetzung dieser Ziele gewährleisten können;

– besonderes Augenmerk zu legen auf die schnelle Überwindung der ge-
schlechtsspezifischen Stereotypen bei der Wahl des Ausbildungsplatzes.
Weitere dringende Ziele sind die Verbesserung der Situation benachteiligter
Jugendlicher und Jugendlicher mit Migrationshintergrund;

– über die notwendigen Sofortmaßnahmen zur Sicherung eines ausreichenden
Angebots an Ausbildungsstellen hinaus durch eine Reform des Berufsbil-
dungsgesetzes dafür Sorge zu tragen, dass das im Grundsatz bewährte Sys-

Drucksache 15/1090 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
tem der dualen Berufsausbildung insgesamt konjunkturunabhängiger wird
und an aktuelle Entwicklungen wie die zunehmende Europäisierung und den
steigenden Qualifikationsbedarf angepasst wird.

Berlin, den 3. Juni 2003
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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