BT-Drucksache 14/6173

Gerechte Chancen am Start - Kinderarmut bekämpfen

Vom 30. Mai 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

30. 05. 2001

Antrag

der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rosel Neuhäuser, Monika Balt,
Dr. Dietmar Bartsch, Maritta Böttcher, Heidemarie Ehlert, Dr. Ruth Fuchs,
Dr. Klaus Grehn, Dr. Heidi Knake- Werner, Dr. Christa Luft, Heidemarie Lüth,
Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Ilja Seifert, Roland Claus und der Fraktion der PDS

Gerechte Chancen am Start – Kinderarmut bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Benachteiligungen von Familien und Kindern

Kinder und das Leben mit Kindern sind in der Bundesrepublik Deutschland
vielfältigen Benachteiligungen ausgesetzt. Erhebliche Def zite im Bildungs-
und Betreuungsbereich, ungenügende oder kostenaufwendige kulturelle und
sportliche Betätigungsmöglichkeiten oder eine städtische und kommunale
Infrastruktur, die völlig unzureichend Bedürfnisse der Kinder und Familien be-
rücksichtigt, beeinträchtigen die Entwicklung der Kinder und deren Eltern.
Besonders drastisch wirken sich diese Benachteiligungen in Hinblick auf eine
gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben und am gesellschaftlichen W ohl-
stand aus. Beruflich erfolgreich ist demzufolge vor allem, wer hoch mobil, zeit
lich flexibel und von Familienpflichten unbelastet is

Da sich in der Privatwirtschaft die Einkommen nicht am Bedarf der Familie,
sondern an der betriebswirtschaftlichen Ef fektivität orientieren, ist – selbst bei
gleicher Höhe der Haushaltseinkommen – das materielle Lebensniveau von
Gemeinschaften mit Kindern deutlich niedriger als das in Haushalten ohne
Kinder. Bereits wenige Jahre nach der Geburt eines Kindes sinkt – bei Berück-
sichtigung aller staatlichen T ransferleistungen – das Gesamteinkommen einer
Durchschnittsfamilie auf 80 % des Einkommens, das ein Paar unter gleichen
Bedingungen ohne Kinder erzielt. Das Pro-Kopf-Einkommen von Familien mit
einem Kind liegt bei 64 %, das von Familien mit zwei Kindern bei 54 % des
Pro-Kopf-Einkommens vergleichbarer Paare ohne Kinder.

Im Vergleich zu Kinderlosen wiegen die f nanziellen Benachteiligungen derje-
nigen besonders schwer, die aus ihrem Einkommen mehrere Kinder zu versor -
gen haben, wegen der Kindererziehung aber nur selten auf zwei V ollzeitein-
kommen zurückgreifen können.

2. Armut bedeutet heute vor allem Kinder- und Familienarmut

Infolge dieser Benachteiligungen sind heute vor allem Haushalte mit Kindern
von Armut betrof fen. Die sich daraus er gebenden Gefährdungen können die
gesamte spätere Lebensentwicklung und – darüber hinaus – die Entwicklung
der Gesellschaft beeinträchtigen.
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So stieg – bei einer insgesamt anhaltend hohen Armutsquote – die Zahl der so-
zialhilfeabhängigen Kinder von 1991 bis 1998 um 44 %. Im früheren Bundes-
gebiet hat sich ihre Zahl seit 1985 nahezu verdoppelt. In 1998 betrug der Anteil
sozialhilfeabhängiger Kinder an der Gesamtzahl der Kinder unter 18 Jahren
6,82 %. Trotz der Kindergelderhöhung um 30 DM in 1999 hat sich diese Situa-
tion kaum verändert. Die Sozialhilfequote bei den unter 18-Jährigen betrug
Ende 1999 noch immer 6,64 % und war damit fast doppelt so hoch wie die der
Gesamtbevölkerung. Nach wie vor sind weit mehr als eine Million Kinder unter
18 Jahre von der Sozialhilfe abhängig.

Besonders hoch ist der Anteil von Haushalten mit mehreren Kindern und von
Haushalten Alleinerziehender. Allein von 1994 bis 1998 hat sich die Zahl der
sozialhilfeabhängigen Alleinerziehenden mit einem Kind unter 7 Jahren oder
mit mehreren Kindern unter 16 Jahren von 163 000 auf 252 000 erhöht.

3. Sozialhilfe bietet keinen Schutz vor Armut

Die hohe Anzahl sozialhilfeabhängiger Kinder und Familien ist vor dem Hin-
tergrund zu bewerten, dass das Bundessozialhilfegesetz seiner Aufgabe – der
Gewährleistung eines Lebens „das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1
Abs. 2 Satz 1 BSHG) – nicht gerecht wird. Sozialhilfe bedeutet nicht mehr
Schutz vor Armut – Sozialhilfe ist Armut.

Von 1993 bis 1999 erfolgte die Erhöhung der Regelsätze aufgrund gesetzlicher
Vorgaben, die keinerlei Bezug zur Entwicklung der Lebenshaltungskosten er-
kennen lassen. Nur zum 1. Juli 2000 wurden die Regelsätze gemäß der Preis-
steigerung erhöht. Allerdings wurde dieser Anpassung die Preisentwicklung
des Vorjahres im früheren Bundesgebiet (0,7 %) zugrunde gelegt. Dagegen er -
höhten sich hier die Preise im zweiten Halbjahr 1999 um 1,3 % und im ersten
Halbjahr 2000 um 1,7 %. Da die Fortschreibung der Regelsätze ab dem 1. Juli
2001 wieder aufgrund der Lohnentwicklung erfolgen soll, ist auch in Zukunft
mit einem weiteren Zurückbleiben der Regelsätze hinter den Lebenshaltungs-
kosten zu rechnen. So ist nach vorläuf gen Angaben der Bundesregierung zum
1. Juli 2001 mit einer Anpassung von rund 2 % zu rechnen, während sich die
Lebenshaltungskosten für die ersten vier Monate des Jahres um rund 3 % er-
höht haben.

Kürzungen des Sozialhilfeniveaus er gaben sich weiterhin aus der restriktiven
und zeitlich verzögerten Gewährung von Einmalleistungen, die nicht zuletzt
auf die personelle und materielle Überforderung von Sozialämtern zurückzu-
führen ist. Angesichts der stark gestiegenen Anzahl von Sozialhilfeempfänge-
rinnen und -empfängern und der enormen Finanznöte zahlreicher Städte und
Kommunen ist eine zeitnahe Bearbeitung von Anträgen oft nicht möglich.

4. Kinder- und Familienpolitik der Entlastung großer Konzerne und hoher
Einkommen geopfert

Statt einer angemessenen Antwort auf diese Probleme ist die Politik der Bun-
desregierung auf eine minimalistische und willkürliche Umsetzung der V orga-
ben des Bundesverfassungsgerichts zur Steuerfreistellung des Existenzmini-
mums gerichtet. Darüber kann auch nicht die Erhöhung des Kindergeldes seit
1998 um 50 DM hinwegtäuschen, zumal sich diese Erhöhung auf die Situation
einkommensarmer Familien nur geringfügig ausgewirkt hat.

So reicht der Kinderfreibetrag von gegenwärtig 6 912 DM nicht aus, um das
sächliche Existenzminimum von der Einkommensteuer zu verschonen. Er wird
ergänzt durch einen Betreuungsfreibetrag, dessen Höhe sowohl absolut als
auch im Verhältnis zu diesem Kinderfreibetrag völlig unbegründet ist.

Wenn von der Bundesregierung für 2001 ein im V ergleich zum Kinderfreibe-
trag niedrigeres sächliches Existenzminimum ermittelt wurde, so ist das vor
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allem auf die erheblichen Mängel in der Berechnungsmethode und auf die
ungenügende W eiterentwicklung der Sozialhilfeleistungen zurückzuführen.
Allein aus der Anpassung der Regelsätze an die Entwicklung der Lebenshal-
tungskosten er gäbe sich in 2001 ein sächliches Existenzminimum von fast
7 100 DM.

Vor allem aber hat die Bundesregierung ihren Gestaltungswillen in der Kinder-
und Familienpolitik haushalterischen Sparzwängen unter geordnet, die zu ei-
nem großen Teil durch sie selbst verursacht sind. Letztlich ist mit dem „Steuer-
senkungsgesetz“ eine aktive Kinder- und Familienpolitik der Entlastung großer
Konzerne und hoher Einkommen geopfert worden. Selbst die V erwirklichung
kleinster Ansätze zur stärkeren Beteiligung hoher V ermögen an der Finanzie-
rung öffentlicher Aufgaben wurde bisher erfolgreich verhindert. Infolgedessen
ist die steuerliche Vermögensbelastung im internationalen Vergleich auf einem
niedrigen Niveau angelangt.

Besonders betroffen sind die Haushalte der Länder und Kommunen. Ergänzend
zu den Steuerausfällen aus dem „Steuersenkungsgesetz“ haben sie die Haupt-
last aus der V eräußerung der Mobilfunklizenzen zu tragen, obgleich die Ein-
nahmen ausschließlich dem Bundeshaushalt zugef ossen sind. Da Länder ,
Städte und Kommunen für die f nanzielle Absicherung der Kinderbetreuung,
des Schul- und Bildungssystems sowie für den Ausbau einer familienfreund-
lichen Infrastruktur verantwortlich sind, bildet die Finanzpolitik der Bundes-
regierung eine entscheidende Ursache für die erheblichen Def zite in diesem
Bereich.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen
Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs mit
folgenden Zielstellungen vorzulegen:

Voraussetzung für eine gerechte Verteilung steuerlicher Lasten zwischen Haus-
halten mit und ohne Kinder ist die Berücksichtigung existenzieller Unterhalts-
verpflichtungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Kind Lebensbedingun
gen benötigt, in denen es sich zum kompetenten, zu mitmenschlicher und
mitbürgerlicher Verantwortung fähigen Mitglied der Gesellschaft entwickeln
kann. Notwendig ist weiterhin die Beseitigung von Belastungsunterschieden,
die sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebensweise und Lebensform er-
geben. Ziel des steuerlichen Lastenausgleichs muss deshalb die Reform des
Einkommensteuerrechts in Richtung einer konsequenten Individualbesteue-
rung sein.

Eine stärkere Teilhabe der Familien am gesellschaftlichen W ohlstand und die
Chancengleichheit der Kinder verlangt aber nicht nur den Ausgleich steuerli-
cher Lasten, sondern auch derjenigen Aufwendungen, die aus dem Bedarf der
Kinder erwachsen. Der Familienlastenausgleich muss W ege in Richtung einer
einkommensunabhängigen Existenzsicherung der Kinder aufzeigen. Kurz-
fristig ist vor allem ein Beitrag zur V ermeidung von Einkommensarmut und
Sozialhilfeabhängigkeit der Kinder notwendig. Im Einzelnen sind folgende
Neuregelungen vorzunehmen:

1. Sicherung der Existenz und der Entwicklung von Kindern

1.1. Stärkere Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand

Im Jahr 2002 wird das durchschnittliche Existenzminimum von Kindern vor-
aussichtlich rund 820 DM monatlich betragen. Um den Familien wenigstens
die Hälfte der existenziellen Aufwendungen für Kinder zurückzugeben, ist das
Kindergeld demnach auf einheitlich 410 DM zu erhöhen.
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1.2. Verhinderung von Einkommensarmut und Sozialhilfeabhängigkeit

Reicht das Einkommen der Eltern nicht aus, um auch das Existenzminimum
der Kinder zu bestreiten, ist das Kindergeld durch eine Zulage so weit zu erhö-
hen, dass es in Abstimmung mit anderen T ransferleistungen – insbesondere
dem Wohngeld – das Existenzminimum von Kindern abdeckt.

Dem einkommensabhängig erhöhten Kinder geld ist das Existenzminimum
nicht als Durchschnittsbetrag, sondern entsprechend der Altersstaffelung des
Bundessozialhilfegesetzes und unter Berücksichtigung des sozialhilferechtlich
gewährten Mehrbedarfs für Alleinerziehende zugrunde zu legen. Davon ausge-
hend ist für das Jahr 2002 von folgenden Monatsbeträgen auszugehen:

Kinder unter 7 Jahren 710 DM

Kinder unter 14 Jahren 800 DM

Kinder unter 18 Jahren 890 DM

1.3. Anrechnung eigenen Einkommens

Der Anspruch auf Kindergeld ist insoweit zu kürzen, wie die Summe aus eige-
nen Einkünften und Bezügen des Kindes und dem Kindergeld den Grundfreibe-
trag übersteigt.

2. Steuerlicher Lastenausgleich

2.1. Streichung von Freibeträgen zur Streuerfreistellung des Existenz-
minimums von Kindern

Kinderfreibetrag, Betreuungsfreibetrag und Ausbildungsfreibetrag dienen
überwiegend der Steuerfreistellung des Existenzminimums von Kindern. Da
mit dem einheitlichen Kindergeld von 410 DM dieses Ziel hinreichend gewähr-
leistet wird, können diese entfallen.

2.2. Besteuerung unabhängig von der Lebensweise und Lebensform

Das Ehegattensplitting oder das so genannte Realsplitting für eingetragene Le-
benspartnerschaften kann unabhängig von dem Vorhandensein von Kindern in
Anspruch genommen werden. Nicht Kinder, sondern die Ehe bzw. die eingetra-
gene Lebenspartnerschaft sind Voraussetzungen für diese Steuerver günstigun-
gen. Nicht verheiratete Eltern, vor allem Alleinerziehende, haben deshalb oft
eine deutlich höhere Steuerlast zu tragen. Anderseits können sich aus dem
Haushaltsfreibetrag je nach Einkommenssituation erhebliche Steuernachteile
der ehelichen Familie ergeben.

Ein gerechter Familienlastenausgleich erfordert, dass diese Belastungsunter-
schiede zugunsten einer zielgenauen Förderung des Zusammenlebens mit Kin-
dern aufgehoben werden. Der Haushaltsfreibetrag ist zu streichen. Das Ehe-
gatten- und Realsplitting ist in eine Freibetragsregelung zur steuerlichen
Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen umzuwandeln. Ist das Einkommen
der Unterhaltsempfänger niedriger als das steuerfreie Existenzminimum
(Grundfreibetrag), kann die jeweilige Dif ferenz vom Einkommen der Unter -
haltsleistenden abgezogen werden. Diese Regelung ist auch für andere Unter-
haltsverpflichtungen anzuwenden, wenn dadurch ö fentliche Mittel (z. B.
Sozialhilfe) eingespart werden.

Bei der Berechnung des übertragbaren Betrages ist nicht vom „zu versteuern-
den Einkommen“ des Unterhaltsberechtigten auszugehen. Der Berechnung
sind alle Einkünfte und Bezüge zugrunde zu legen, soweit sie geeignet sind,
den Lebensunterhalt des oder der Unterhaltsberechtigten zu bestreiten. Von den
Einkünften und Bezügen sind die V orsorgeaufwendungen entsprechend den
geltenden Höchstgrenzen abzuziehen.
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Darüber hinaus sind alle Steuerpf ichtigen mit ihren eigenen Einkünften indivi-
duell zu veranlagen. Freibeträge und andere Abzugsmöglichkeiten sind kon-
sequent auf die Einkünfte der Steuerpf ichtigen anzuwenden, denen sie zuge-
flossen sind. Ihre automatische erdopplung in Abhängigkeit von der V erehe-
lichung entfällt daher.

Zur Vermeidung von steuerlichen Mehrbelastungen kinderloser Ehepaare mit
geringem Einkommen sind geeignete Übergangsregelungen anzuwenden.

2.3. Steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten

Nachgewiesene Kosten für die Betreuung eines Kindes werden, soweit sie den
Betrag von 1 000 DM übersteigen, bis zu einer Höchstgrenze von 4 000 DM
pro Kind bei der Berechnung der Einkommensteuer einbezogen. Die Berück-
sichtigung der Kinderbetreuungskosten erfolgt als Steuerabzug zu einem ein-
heitlichen Steuersatz. Der Steuersatz ist so zu bemessen, dass der überwie-
gende Teil der Steuerpflichtigen abgedeckt wird.

Nach der Lohn- und Einkommensteuerstatistik für das Jahr 1995 hatten rund
88 % der Steuerpflichtigen ein zu versteuerndes Einkommen von unter 100000
DM, so dass ein einheitlicher Steuersatz von 45 % als angemessen erscheint.
Im Ergebnis erhalten Familien unabhängig von der Höhe des Einkommens na-
hezu die Hälfte der Kinderbetreuungskosten erstattet.

3. Finanzierung des Familienlastenausgleichs

Mit dem Über gang zu einer von der Lebensweise unabhängigen Besteuerung
und der Streichung von kindbedingten Entlastungen zur Steuerfreistellung des
Existenzminimums wird der überwiegende T eil des erforderlichen Finanzauf-
kommens erbracht. Ein darüber hinausgehender Finanzierungsbedarf ist durch
die leistungsgerechte Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs und durch die
Streichung unsozialer Abzugsmöglichkeiten wie z. B. dem sog. Dienstmäd-
chenprivileg abzudecken. Einsparungen er geben sich darüber hinaus bei ver -
schiedenen Sozialleistungen, insbesondere der Sozialhilfe.

Berlin, den 30. Mai 2001

Dr. Barbara Höll
Rosel Neuhäuser
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Heidemarie Ehlert
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Heidi Knake-Werner
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Dr. Uwe-Jens Rössel
Dr. Ilja Seifert
Roland Claus und Fraktion
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Begründung

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf den
Familien das Einkommen zur Finanzierung existenzieller Aufwendungen nicht
entzogen werden. Bei der Einkommensbesteuerung ist demzufolge das Exis-
tenzminimum von Eltern und Kindern steuerfrei zu stellen.

In früheren Beschlüssen orientierte das Bundesverfassungsgericht die untere
Grenze des Existenzminimums an dem durchschnittlichen Niveau der Leistun-
gen nach dem Bundessozialhilfegesetz. Nach dem jüngsten Urteil vom Novem-
ber 1998 muss dieser Betrag um den Betreuungs- und Erziehungsbedarf des
Kindes ergänzt werden. Damit anerkennt das Bundesverfassungsgericht, dass
zum Existenzminimum eines Kindes nicht nur Essen, Kleiden und Wohnen ge-
hören, sondern Güter und Leistungen, die eine Mindestteilhabe an der gesell-
schaftlicher Kommunikation, Kultur, Bildung und Erziehung gewährleisten.

Doch wirft die Erweiterung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums
durch einen – von den konkreten Aufwendungen unabhängigen – Bedarf viel-
fältige steuerrechtliche und soziale W idersprüche auf. Die Umsetzung des Ur -
teils durch die Bundesregierung verstärkte diese W idersprüche und die damit
einhergehenden Ungerechtigkeiten. Die Einführung eines in der Höhe und im
Verhältnis zur Höhe des Kinderfreibetrags völlig willkürlich festgesetzten
Betreuungsfreibetrags führt bei gleichzeitig unveränderten Leistungen der
Sozialhilfe zu einem Existenzminimum erster und zweiter Klasse. Familien, die
Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz beziehen, wird ein deutlich nied-
rigeres Existenzminimum zuerkannt als allen anderen Familien.

Allein diese Unterschiedlichkeit in der Bewertung des Existenzminimums
macht deutlich, dass sich der Familienlastenausgleich nicht auf eine gerechte
Verteilung von Steuerlasten zwischen Haushalten mit und ohne Kinder be-
schränken kann. Zudem bildet die Einkommensteuer nur einen T eil der Belas-
tungen von Familien. Eltern wenden beträchtliche Teile ihres Einkommens auf,
um ihren Kindern gute Lebens- und Entwicklungsbedingungen zu sichern. Sie
geben den Ausgaben für ihre Kinder eine hohe Priorität, auch wenn das für sie
selbst mit spürbaren Restriktionen verbunden ist. Diese bewusste W ahrneh-
mung elterlicher Sorge rechtfertigt jedoch nicht, dass Haushalte mit Kindern im
Vergleich zu Kinderlosen an den materiellen und ideellen Gütern über ihr ge-
samtes Leben hinweg in geringerem Maße Anteil erhalten. Es ist nicht zu be-
gründen, dass Eltern weniger als kinderlose Menschen die Möglichkeit haben
sollen, erholsamen Urlaub zu machen, sich Bücher zu kaufen oder ins Theater
zu gehen. Gerade wegen der Kinder wäre es erstrebenswert, dass sie sich am
sozialen und kulturellen Leben der Gesellschaft voll beteiligen können. Eltern
und Kinder sind von diesen Gütern und Leistungen nicht grundsätzlich ausge-
schlossen. Aber bis in mittlere Einkommensgruppen stehen Eltern immer wie-
der vor der Frage, was mit Blick auf die Kinder V orrang haben soll und was
nicht unbedingt erforderlich ist. Kinder werden auf diese W eise zum „Luxus-
gut“, vergleichbar mit einer aufwendigen Liebhaberei, für die jene, die sich da-
für entscheiden, in vielen anderen Bereichen zurückstecken müssen (vgl. Zehn-
ter Kinder- und Jugendbericht, B 6.1.3, Drucksache 13/11368).

Mit dem Familienlastenausgleich muss folglich ein höherer Anteil der V ersor-
gungs- und Betreuungskosten an die Familien zurückgegeben werden. Dabei
kann es nicht darum gehen, dass Kinder geld um einige Mark zu erhöhen, son-
dern es muss sich um einen qualitativen Sprung handeln. Angesicht der enor-
men Verarmungsrisiken, denen Familien ausgesetzt sind, muss dieser Sprung
zugleich ein wirksamer Beitrag zur Existenzsicherung von Kindern darstellen.

Der Familienlastenausgleich kann jedoch nicht das einzige Instrument sein, um
Kindern entwicklungsförderliche Lebensbedingungen zu schaffen. Das Kinder-
geld ist kaum geeignet, den vielfältigen Entwicklungserfordernissen von Eltern
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und Kindern gerecht zu werden. Zudem ist es widersinnig, den Familien zu-
nächst Zuwendungen zu geben, die ihnen dann als Eigenleistungen abgenom-
men werden. Familien werden nicht entlastet, wenn – wie in zahlreichen Bun-
desländern – die Erhöhung des Kinder geldes regelmäßig mit einer Erhöhung
der Elternbeiträge für die Betreuung in Kindertagesstätten einhergeht. Auf-
grund der sprunghaften Ausgestaltung der Elternbeiträge verbleibt den Fami-
lien nach einer Kinder gelderhöhung oft sogar weniger Einkommen als ohne
diese.

Zur Sicherung der Entwicklungsbedingungen und einer gleichberechtigten
Teilhabe der Familien sind weiter gehende Konzepte nötig. Dabei geht es nicht
nur um die bedarfsgerechte, sondern auch um die kostengünstige Bereitstellung
von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, von kulturellen, sportlichen und
anderen Freizeitangeboten. Kommunen und Länder allein wären mit diesen
Aufgaben nicht zuletzt aufgrund der Finanzpolitik der Bundesregierung völlig
überfordert. Die Verbesserung der Bedingungen für Familien muss deshalb mit
neuen Finanzierungsmodellen einhergehen, in denen die besondere Verantwor-
tung des Bundes für den Nachwuchs der Gesellschaft deutlich wird.

Zu 1.1.

Durch die Bundesregierung ist im Abstand von zwei Jahren der Bericht über
das Existenzminimum von Erwachsenen und Kindern vorzulegen. Auf der
Grundlage dieses Berichts soll geprüft werden, ob die einkommensteuerlichen
Regelungen ausreichend bemessen sind, um das Existenzminimum von Er-
wachsenen und Kindern von der Einkommensteuer zu befreien.

Ausgangspunkt für die jüngste Berechnung des Existenzminimums (Drucksa-
che 14/1926) ist der gewichtete Durchschnitt der nach Alter gestaffelten Regel-
sätze des Jahres 1999. Damit verschleiert die Bundesregierung, dass die Regel-
sätze seit 1993 nicht entsprechend der Bedarfsentwicklung angepasst wurden
und somit weit hinter der Entwicklung der Lebenshaltungskosten zurückgeblie-
ben sind. Abgesehen davon wird aufgrund von Unzulänglichkeiten in der Be-
rechnungsmethode sogar der gegenwärtig im Sozialrecht anerkannte durch-
schnittliche Bedarf völlig unzureichend abgebildet.

a) Bei der Berechnung des Durchschnittsniveaus der Regelsätze und der ein-
maligen Leistungen werden nur Kinder bis unter 18 Jahren berücksichtigt.
Da sich Kinderfreibetrag und Kinder geld an der Berechnung des Existenz-
minimums durch die Bundesregierung orientieren, bleiben die vergleichs-
weise höheren Regelsätze und einmaligen Leistungen für volljährige Kinder
unberücksichtigt. Dies steht im W iderspruch zum Einkommensteuerrecht,
wonach durch diese Entlastungen auch die existenziellen Unterhaltsleistun-
gen an volljährige Kinder abgedeckt sein sollen.

b) Aufgrund der Haushaltsersparnis ist davon auszugehen, dass das Existenz-
minimum von Kindern Alleinerziehender höher als dasjenige von Kindern
ist, die mit beiden Eltern in einem Haushalt leben. Abgesehen vom Ansatz
der Unterkunftskosten bleibt dieser erhöhte Bedarf bei der Berechnung des
Existenzminimums unberücksichtigt. Doch angesichts des hohen und stei-
genden Anteils von Kindern Alleinerziehender an den sozialhilfebeziehen-
den Kindern muss deren erhöhter Bedarf auch bei der Berechnung des
durchschnittlichen Regelsatzes seinen Niederschlag f nden.

c) Im Bericht der Bundesregierung wird das Existenzminimum weiterhin
durch den unzureichenden Ansatz von Unterkunftskosten zu niedrig ausge-
wiesen. Die Berechnung der Unterkunftskosten geht von den Quadratmeter-
mieten für W ohnungen mit einfacher Ausstattung – also von W ohnungen
ohne Sammelheizung und/oder ohne Bad aus. Die Quadratmetermieten wer-
den aus der W ohngeldstatistik (Tabellenwohngeld in den alten Bundeslän-
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dern) abgeleitet. Angesichts des sehr geringen Anteils von W ohnungen mit
einfacher Ausstattung am gesamten Wohnungsbestand dürften die Haushalte
kaum die freie W ahl zwischen einer komplett ausgestatten W ohnung (mit
höheren Quadratmetermieten) und einer W ohnung mit einfacher Ausstat-
tung haben. Demzufolge sind die Quadratmetermieten zu niedrig angesetzt.
Darüber hinaus sind nicht nur die W ohnungen der Empfänger und Empfän-
gerinnen von T abellenwohngeld, sondern auch von Lastenzuschüssen und
pauschaliertem W ohngeld zu berücksichtigen. Letztere weisen ebenfalls
höhere Quadratmetermieten auf (vgl. Kaltenborn/Buslei, Berechnungen des
Existenzminimums für die Einkommensbesteuerung 1996, in Discussion
Paper No. 95-08 des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung).

Wird die Berechnung des Existenzminimums durch die Bundesregierung inso-
weit korrigiert, er gibt sich ab 2002 ein Betrag von monatlich rund 730 DM.
Durch die Sozialhilfe werden jedoch Güter und Leistungen, die eine Min-
desteilhabe an kulturellen, sportlichen und Freizeitaktivitäten sowie an moder-
nen Kommunikationsmitteln ermöglichen, völlig unzureichend gewährt. Dieser
Betrag ist deshalb durch einen pauschalen Zuschlag zu ergänzen. Die Höhe des
Zuschlags richtet sich nach dem in der Einkommens- und Verbrauchstichprobe
1993 ausgewiesenen Verhältnis von Aufwendungen für Bildung, Unterhaltung
und Freizeit zu allen anderen Aufwendungen für Kinder von Haushalten mit
niedrigem Einkommen.

Zu 1.2.

Da das Kindergeld fast vollständig auf die Sozialhilfe angerechnet wird, er ge-
ben sich für Haushalte mit besonders niedrigem Einkommen auch aus der Er-
höhung des Kinder geldes auf 410 DM keine oder nur geringfügige V erbesse-
rungen. Lediglich Familien, deren Einkommen über oder knapp unterhalb des
Sozialhilfeniveaus liegt, hätten daraus einen Vorteil. Zur Vermeidung von Ein-
kommensarmut und Sozialhilfeabhängigkeit ist deshalb durch das Kindergeld
in Abstimmung mit anderen Transferleistungen die Existenzsicherung von Kin-
dern zu gewährleisten.

Die Regelsätze der Sozialhilfe betragen für Kindern unter 7 Jahren 50 %, für
Kindern unter 14 Jahren 65 % und für Kinder unter 18 Jahren 90 % des Regel-
satzes eines „Haushaltsvorstands“ (Eckregelsatz). Darüber hinaus ist der sozial-
hilferechtlich gewährte Mehrbedarf von Alleinerziehenden mit einem Kind un-
ter 7 Jahren oder mehreren Kindern unter 14 Jahren in die Berechnung des
Existenzminimums einzubeziehen. Für Kinder unter 7 bzw . unter 14 Jahren
wurde deshalb ein Regelsatz von rund 62 % bzw. 76 % des Eckregelsatzes zu-
grunde gelegt. Mit diesem Verfahren wird zugleich die kaum zu rechtfertigende
hohe Spreizung der Regelsätze für jüngere und ältere Kinder reduziert.

Zu 1.3.

Mit der Zahlung des Kinder geldes wird dem Unterhaltsanspruch des Kindes
gegenüber seinen Eltern Rechnung getragen. Insoweit Kinder über eigene Ein-
künfte verfügen, entfällt dieser Unterhaltsanspruch gegenüber den Eltern. Das
Kindergeld ist konsequenterweise insoweit zu kürzen, wie Kinder über eigene
existenzsichernde Einkünfte und Bezüge verfügen. Zugleich soll diese Rege-
lung der Steuervermeidung durch Verlagerung von Einkommen auf Kinder ent-
gegenwirken.

Zu 2.1.

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Beschluss vom 10. November 1998 die
geltenden Regelungen zur Steuerfreistellung des Existenzminimums von Kin-
dern als unzureichend erkannt. Da die Leistungsfähigkeit der Eltern nicht nur
durch den existenziellen Sachbedarf (sog. sächliches Existenzminimum) und
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den erwerbsbedingten Betreuungsbedarf, sondern auch durch allgemeinen Be-
treuungs- und Erziehungsbedarf des Kindes gemindert wird, müsse dieser als
Bestandteil des Existenzminimums ebenfalls von der Besteuerung verschont
bleiben. Die Höhe des steuerfrei zu stellenden Erziehungsbedarfs orientierte
das Bundesverfassungsgericht am Haushaltsfreibetrag von 5 616 DM. Der zu
berücksichtigende Betreuungsbedarf wurde dagegen nicht weiter konkretisiert.

Abgesehen von steuersystematischen Problemen – das Einkommensteuerrecht
berücksichtigt konkrete Aufwendungen und nicht von diesen unabhängige
Bedarfe – belässt der Beschluss einen widersprüchlichen Interpretations- und
Gestaltungsspielraum. Nicht nachvollziehbar ist beispielsweise die Unterschei-
dung von Betreuungs- und Erziehungsbedarfen. Besuchen Kinder eine
Tagesstätte, einen Hort oder Sportverein werden sie dort zugleich „betreut“ und
„erzogen“. Darüber hinaus sind diese Bedarfe sowohl von der konkreten
Lebenssituation als auch von den stark dif ferierenden Kosten für Betreuung,
Kultur und Freizeit abhängig. Die Festsetzung eines allgemeinen Freibetrags,
der angemessen Betreuungs- und Erziehungsaufwendungen abdeckt, ist somit
kaum möglich. Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts f nden sich folg-
lich auch keine Anhaltspunkte dafür , warum es bei der Bemessung des Erzie-
hungsbedarfs gerade auf die Höhe des Haushaltsfreibetrags orientiert.

Unter anderem wegen dieser Widersprüche kann sich die Berechnung des Exis-
tenzminimums nicht konsequent an der Logik des Bundesverfassungsgerichts
ausrichten. Ungeachtet dessen ist davon auszugehen, dass die resultierende
Höhe des Kinder geldes auch dann einer grundgesetzlichen Prüfung standhält,
wenn die Steuerfreistellung des Existenzminimums ausschließlich durch ein
Kindergeld – also unter Wegfall entsprechender Freibeträge – erfolgt.

Früheren Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts ist zu entnehmen, dass
bei Ersetzung des Kinderfreibetrags durch ein Kinder geld die Anwendung
eines Steuersatzes von 40 bis 45 % als untere Grenze in Betracht kommt. Wird
umgekehrt das Kinder geld von 410 DM mit einem Steuersatz von 45 % in
einen Kinderfreibetrag umgerechnet, er gibt sich ein Betrag von jährlich
10 933 DM.

Im „Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien
für das Jahr 2001“ ermittelte die Bundesregierung ein „sächliches“ Existenz-
minimum von 6 768 DM. Auch wenn davon auszugehen ist, dass sich bis zum
Jahr 2002 das „sächliche“ Existenzminimum nach Berechnung durch die Bun-
desregierung geringfügig erhöhen wird, verbleiben mehr als 4 000 DM, um – in
der Logik des Bundesverfassungsgerichts – den darüber hinausgehenden Be-
treuungs- und Erziehungsbedarf als Bestandteil des Existenzminimums von
Kindern abzudecken.

Zu 2.2.

Die Möglichkeit zur Zusammenveranlagung von Ehepartnern ist keine Rege-
lung, die der Entlastung oder Förderung von Familien dient. Allein in der Zeit
von 1994 bis 1999 erhöhte sich der Anteil von Kindern, die außerhalb beste-
hender Ehen leben, von 16,7 auf 19,2 %. 1999 waren in der Bundesrepublik
Deutschland von 22,4 Millionen Haushalten 44,6 % Ehepaare mit Kindern,
42,4 % Ehepaare ohne Kinder und 13,1 % Alleinerziehende – wobei als Allein-
erziehende auch Partner in einer nichtehelichen Beziehung zu verstehen sind.
Der Anteil von Ehepaaren ohne Kinder ist in den alten Bundesländern von
1957 bis 1999 um 13,6 auf 42,7 % gestiegen. In den neuen Bundesländern stieg
der Anteil von Ehepaaren ohne Kinder von 1991 bis 1999 um 4,8 auf 41,0 %.

Vielmehr werden zahlreiche Familien steuerlich diskriminiert. Das betrifft ins-
besondere allein erziehende Mütter und Väter aber auch Eltern, die verheiratet
sind und die Möglichkeit der Zusammenveranlagung wählen können. Da bei-
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spielsweise die steuerliche Entlastung aufgrund des Ehegattensplittings nicht
nur vom Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau, sondern auch von
der Höhe der jeweiligen Einkommen abhängt, nimmt die Entlastung mit stei-
genden Einkommen zu.

Um die Diskriminierung Alleinerziehender einzuschränken, wird ihnen der Ab-
zug des Haushaltsfreibetrags ermöglicht. Doch führt dieser nicht zu einer
steuerlichen Gleichstellung von Familien. Derzeit beträgt die maximale Entlas-
tung aus einem Haushaltsfreibetrag rund 2 724 DM. Der Vorteil allein aus dem
Ehegattensplitting beträgt dagegen bis zu 19 325 DM. Haben jedoch beide
Ehepartner gleich hohe oder nur wenig abweichende Einkommen, ist ihre
Steuerlast höher als die unverheirateter Eltern. Erwirbt beispielsweise der Ehe-
partner ein Einkommen von 40 000 DM und die Ehepartnerin ein Einkommen
von 30 000 DM, vermindert sich der Splittingvorteil auf 56 DM. Die steuer-
liche Entlastung durch den Haushaltsfreibetrag beträgt bei ver gleichbaren Ein-
kommen unverheirateter Eltern bis zu 1 296 DM. Diese Diskrepanz erhöht sich,
wenn 2 Kinder im Haushalt unverheirateter Eltern leben und der Haushaltsfrei-
betrag zweifach in Anspruch genommen wird.

Mit dem so genannten Realsplitting für eingetragene Lebenspartnerschaften
wird diese ungleiche Belastung verstärkt. Je nach Einkommenssituation haben
eingetragene Lebenspartnerschaften mehr oder weniger Einkommensteuer zu
zahlen als Ehepaare. Vor allem aber verschärft sich die Diskriminierung Allein-
erziehender und heterosexueller, unverheirateter Paare.

Eine gerechte Verteilung einkommensteuerlicher Lasten kann nicht durch Re-
gelungen erfolgen, die an eine bestimmte Lebensweise anknüpfen. Lediglich
die Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen bis zur Höhe des Existenzmini-
mums lässt sich aus den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes recht-
fertigen. Da im Rahmen der Sozialhilfe bei fehlendem eigenem Einkommen
zur Abdeckung des Existenzminimums zunächst auf das Einkommen des Part-
ners verwiesen wird, sind die entsprechenden Unterhaltsleistungen bei der Er-
mittlung des zu versteuernden Einkommens abzuziehen.

Resultierenden Gestaltungsmöglichkeiten für Angehörige der freien Berufe
oder selbständig Gewerbetreibenden ist durch die weitere Reform sozialversi-
cherungsrechtlicher Vorschriften zu begegnen.

Zu 2.3.

Den vielfältigen Mehrbelastungen, denen Eltern und Kinder ausgesetzt sind,
sollte nicht vorrangig durch eine Erweiterung steuerlicher Entlastungen begeg-
net werden. V ielmehr müssen die Ursachen für diese Mehrbelastungen – die
Nachteile bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, bei der Erzielung eines
leistungsgerechten Erwerbseinkommens usw . – beseitigt werden. Im Mittel-
punkt muss deshalb der Ausbau einer bedarfsorientierten und kostengünstigen
institutionellen Kinderbetreuung stehen. Hierbei handelt es sich jedoch um
einen längerfristigen Prozess. Den Eltern werden somit auch weiterhin erheb-
liche Kosten aus der Betreuung von Kindern erwachsen. Diese Aufwendungen
mindern die Leistungsfähigkeit der Eltern und sind demzufolge steuerlich zu
berücksichtigen.

Da mit dem Kindergeld bereits Aufwendungen von jährlich rund 1 000 DM ab-
gegolten sind, sollen nur die diesen Betrag übersteigenden Kosten bis zu einer
Höchstgrenze von 4 000 DM bei der Berechnung der Einkommensteuer einbe-
zogen werden. Die steuerliche Entlastung erfolgt zu einem einheitlichen Steu-
ersatz, der sich in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts an einem oberen Wert zu orientieren hat. Dieses Verfahren gewährleistet,
dass hohe und niedrige Einkommen in Relation zu den Kinderbetreuungskos-
ten in gleicher Höhe entlastet werden. Da der Steuerabzug bereits bei der Lohn-
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und Einkommensteuervorauszahlung vor genommen werden kann, erfolgt die
Entlastung bereits zu dem Zeitpunkt, in dem die Aufwendungen getätigt wer-
den. Im Vergleich zum Abzug vom Einkommen resultiert zudem für niedrige
und mittlere Einkommen ein höherer Anreiz, die Möglichkeiten von Kinder-
betreuung in Anspruch zu nehmen.

Zu 3.

Aus der Neuregelung des Kindergeldes und der kindbedingten Steuerentlastun-
gen er gibt sich ein Finanzierungsbedarf von ungefähr 34 bis 38 Mrd. DM.
Dagegen steht ein höheres Steueraufkommen aus dem Übergang zu einer von
der Lebensweise unabhängigen Besteuerung in Höhe von 20 bis 23 Mrd. DM.
Sowohl im Rahmen des Einkommensteuertarifs als auch der einkommensteuer-
lichen Bemessungsgrundlage können darüber hinaus erhebliche Reserven zur
Finanzierung der Reform erschlossen werden. W eitere Einsparungen er geben
sich im Bereich der direkten Sozialtransfers. Allein bei der Sozialhilfe ist mit
geringeren Ausgaben von 6 bis 7 Mrd. DM zur rechnen.

Die genauen finanziellen Auswirkungen der Reform hängen von der weitere
Konkretisierung der einzelnen Maßnahmen im entsprechenden Gesetzgebungs-
verfahren ab. Doch weisen die obigen Zahlen darauf hin, dass ein sozial ge-
rechter Familienlastenausgleich annähernd aufkommensneutral erreicht werden
kann.

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