BT-Drucksache 14/3030

Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Europa stellen

Vom 23. März 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/3030
14. Wahlperiode 23. 03. 2000

Antrag
der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Ursula Lötzer, Uwe Hiksch, Dr. Barbara Höll,
Ulla Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, Heidi Lippmann, Manfred Müller (Berlin),
Kersten Naumann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner,
Rosel Neuhäuser, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Europa stellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I.

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zählt zu den dringendsten Heraus-
forderungen, vor denen die EU steht. Ziel der Wirtschafts- und Beschäftigungs-
politik in der Europäischen Union muss die Schaffung von Vollbeschäftigung
sein. Hierbei müssen vor allem Langzeit-, Frauen- und Jugendarbeitslosigkeit
bekämpft werden und besondere Maßnahmen zur Integration von Menschen
mit Behinderungen ergriffen werden.

Die Hoffungen auf den notwendigen wirtschaftspolitischen Kurswechsel haben
sich bisher aber nicht erfüllt. Hauptproblem europäischer und nationaler Voll-
beschäftigungspolitik ist das Fehlen einer konsistenten makroökonomischen
Strategie. Vor allem aus diesem Grund hat sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt
in der EU nicht wesentlich entspannt. Die Erwerbstätigenquote in der EU stag-
niert bei 60 bis 61 % oder 152 Millionen Menschen, davon haben 13 % einen
nur befristeten Arbeitsvertrag, 17 % arbeiten in Teilzeit. Die Quote der offiziell
registrierten Erwerbslosen liegt bei 10 % oder 17,3 Millionen Menschen (da-
von stellt Deutschland ein knappes Viertel!). 25 % der Erwerbslosen sind unter
25 Jahren. Die Quote der Frauenarbeitslosigkeit ist 2,9 Prozentpunkte höher als
die der Männer. Nach wie vor verdienen Männer für vergleichbare Tätigkeiten
durchschnittlich 24 % mehr als Frauen. Der zu begrüßende Anstieg der Frauen-
erwerbsquote verdeckt zumeist, dass Frauen zunehmend in Teilzeit- und pre-
käre Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt werden.

Vernachlässigt bleibt das riesige ökonomische Potenzial Ostdeutschlands und
seines hochqualifizierten Arbeitskräftereservoirs, das mit einer Quote von
knapp 20 % in der Arbeitslosigkeit belassen wird. Trotz der Ziel-1-Einbindung
der neuen Bundesländer in die EU-Strukturfonds sind Erfolge in der Wirt-
schafts-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bisher ausgeblieben.

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1. Die wirtschaftliche Lage in der Europäischen Union

Nach der Rezession 1993 hat sich die europäische Konjunktur nur langsam
und ohne eindeutigen Aufwärtstrend entwickelt. Die Wachstumsraten der
Union erreichten bis 1998 nicht das Niveau von 1994, um im Jahr 1999 wie-
derum hinter der Vorjahresrate zurückzubleiben. Das Wirtschaftswachstum in
Deutschland bleibt seit 1993 hinter dem der EU zurück. Auch für das Jahr 2000
ist in Deutschland von einem Wachstum von knapp 2,5 % auszugehen. Damit
wird Deutschland erneut hinter der Wachstumsrate der EU von ca. 3 % zurück-
bleiben. Ein Vergleich verdeutlicht, dass Frankreich 1999 u. a. aufgrund der
stärker binnenmarktorientierten Wirtschaftspolitik einen Rückgang der Ar-
beitslosenquoten von 1,1 Prozentpunkten verzeichnen kann.

Aufgrund der instabilen Weltkonjunktur, bei der die Folgen der wirtschaftli-
chen Krise in Japan keinesfalls überwunden sind und von einem Rückgang der
kontinuierlichen Wachstumssteigerungen in den USA ausgegangen werden
muss, wird die Verantwortung der EU und ihrer Mitgliedstaaten für die Stabili-
sierung und Verbesserung der weltweiten Wirtschafts- und Beschäftigungsent-
wicklung im Jahr 2000 erheblich steigen.

Anfang 1999 widerstand die Europäische Zentralbank (EZB) zunächst der
häufig geäußerten Forderung angesichts der beschworenen Gefahren einer
„weichen“ Gemeinschaftswährung eine noch restriktivere Geldpolitik als die
Deutsche Bundesbank einzuschlagen. Die ohnehin schwache konjunkturelle
Entwicklung in der EU wäre mit negativen Konsequenzen für die Beschäfti-
gung dadurch weitgehend zum Erliegen gekommen. Mit der Zinserhöhung am
3. Februar 2000 zeigte die EZB allerdings, dass sie den restriktiven geldpoliti-
schen Kurs der Deutschen Bundesbank fortsetzt. Die leicht anziehende Kon-
junktur in der EU, in Verbindung mit dem fallenden Außenwert des Euros
reichten der EZB als Begründung aus, um die geldpolitischen Zügel zur Inflati-
onsbekämpfung zum zweiten Mal innerhalb von nur 3 Monaten anzuziehen.

Die Finanzpolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten steht weiter unter den rest-
riktiven Vorgaben des Maastrichter Konvergenzprogramms bzw. des Stabili-
täts- und Wachstumspakts. Durch diese restriktive Ausgabenpolitik bewegen
sich die öffentlichen Investitionen in der gesamten EU weiterhin auf einem ins-
gesamt niedrigen Niveau.

Nach wie vor ist die Steuerpolitik der Mitgliedstaaten von einem schädlichen
Steuerwettbewerb gekennzeichnet. Versuche, innerhalb der EU wenigstens zu
einer einheitlichen Zinsbesteuerung zu kommen, sind bisher am britischen Veto
gescheitert.

In den 90er Jahren ist es nahezu EU-weit zu einer Beschleunigung der Umver-
teilung des Volkseinkommens zu Lasten von Löhnen und Gehältern gekom-
men. Der verteilungspolitische Spielraum der produktivitätsorientierten
Lohnpolitik wird seit den 80er Jahren selten ausgeschöpft. Wurde in den 80er
Jahren die Lohnzurückhaltung v. a. von kleineren Mitgliedstaaten (Niederlan-
den, Irland) als Mittel zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit ein-
gesetzt, so hat sich Deutschland als wirtschaftlich stärkster EU-Staat Mitte der
90er Jahre an die Spitze der Lohndumpingbewegung gesetzt. Lohnzurückhal-
tung der Beschäftigten ebenso wie die Kürzung sozialer Leistungen führen aber
nicht zu neuen Arbeitsplätzen, sondern vermindern die Massenkaufkraft und
dämpfen damit mögliche wirtschaftliche Wachstumsimpulse.

Innerhalb der EU finden gegenwärtig die weltweit größten Fusionen statt. Auf
die ständig beschleunigten Übernahmen durch internationale Konzerne muss
die EU eine Antwort finden. Bei diesen Fusionen handelt es sich um gezielte
Strategien der Marktbeherrschung, die in der Regel mit einem massiven Ar-

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beitsplatzabbau einhergehen. Die Interessen der Beschäftigten, Mitbestim-
mungsrechte der Betriebsräte und Absicherung von Arbeitsplätzen müssen in
diesem verschärften Übernahmewettlauf wieder in den Mittelpunkt der Politik
gestellt werden.

Unter regionaler Perspektive sind in der EU zunehmende Ungleichheiten zu
beobachten. Die Angleichung der Lebens- und Einkommensverhältnisse in
der EU muss künftig vor dem Hintergrund der Währungsunion und des Erwei-
terungsprozesses bewertet werden. Es besteht die Gefahr, dass der langfristige
Prozess der Einkommensangleichung unter den Bedingungen der Währungsu-
nion zum Erliegen kommt bzw. auch die nationalen Ungleichgewichte wieder
zunehmen.

Noch schwieriger stellt sich das Problem im Zuge des EU-Erweiterungspro-
zesses. Auch wenn die neuen Mitgliedstaaten erst mittelfristig der Währungs-
union beitreten werden, unterliegen sie bereits mit dem Beitritt den restriktiven
Vorgaben der Maastrichter Konvergenzpolitik. In Verbindung mit dem steigen-
den Wettbewerbsdruck in der Union droht sich die Dynamik zur Schaffung
ökonomisch, sozial und ökologisch ruinöser Wettbewerbsbedingungen in Ost-
europa zu verschärfen. Gerade im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung ist
bisher keine kohärente wirtschaftspolitische Strategie zur Angleichung der Le-
bensverhältnisse erkennbar.

2. Beschäftigungspolitik

Die andauernde hohe und verfestigte Arbeitslosigkeit in Deutschland und ande-
ren Ländern der EU zeigt, dass die Prozesse von Luxemburg, Cardiff und
Köln, die zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit in der EU beitragen sollten,
bisher unwirksam waren.

Die Gründe liegen erstens darin, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten weiter
auf einen Modernisierungsprozess durch angebotsseitige Strukturreformen im
Umfeld eines restriktiven gesamtwirtschaftlichen Rahmen setzen. Das Haupt-
hindernis einer Vollbeschäftigungspolitik bleiben die restriktiven Bedingungen,
die eine beschäftigungswirksame Ausrichtung der makroökonomischen Instru-
mente verhindern. Konsum und Investitionen bleiben zu gering um Wachstum
und Beschäftigung in der EU entscheidend zu erhöhen.

Die momentane konjunkturelle Entwicklung in der EU reicht keinesfalls aus,
um die Beschäftigung in Europa nachhaltig zu erhöhen. Eine expansive Aus-
richtung der Geldpolitik wird durch die einseitige Fixierung der EZB an der
Preisstabilität blockiert, ein Kurswechsel in der Finanzpolitik durch den Stabi-
litäts- und Wachstumspakt mit dem Ziel des Budgetausgleichs verhindert.

Zweitens zeigen die Arbeitslosenzahlen, dass das beschäftigungspolitische In-
strumentarium – Gemeinsamer Bericht, Leitlinien, Nationale Aktionspläne und
Empfehlungen der Kommission – in seiner gegenwärtigen Ausrichtung nicht
ausreicht. Hinzu kommt die mangelhafte Umsetzung durch einige Regierun-
gen. So z. B. durch die Bundesregierung, die auch noch berechtigte Kritik an
ihrer Umsetzung der Leitlinien zurückweist und damit ein ohnehin nur schwa-
ches europäisches Regularium weiter entschärft. Dabei sind deutsche Defizite
auf den von der Kommission angesprochenen Gebieten Langzeitarbeitslosig-
keit, der nur geringen Beschäftigung älterer Arbeitnehmer und der Minderbe-
zahlung von Frauen unübersehbar.

Die vier Säulen der Beschäftigungspolitischen Leitlinien – Verbesserung der
Beschäftigungsfähigkeit, Entwicklung des Unternehmergeistes, Förderung der
Anpassungsfähigkeit der Unternehmen und ihrer Beschäftigten, Förderung der
Chancengleichheit von Frauen und Männern – setzen nicht an den Ursachen

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der Massenarbeitslosigkeit in Europa an und werden deshalb keinen wirklichen
Umschwung auf dem Arbeitsmarkt herbeiführen können.

Darüber hinaus orientieren sie sich einseitig an der „Verbesserung der individu-
ellen Beschäftigungsfähigkeit“, überschätzen die beschäftigungspolitischen
Auswirkungen neuer Technologien und einer verbesserten Arbeitsorganisation
und schreiben dem Dienstleistungssektor überirdische Fähigkeiten bei der
Schaffung neuer Arbeitsplätze zu. Sie sind nur auf die Verbesserung der Be-
schäftigungsbedingungen und nicht direkt auf die Schaffung neuer Arbeits-
plätze, geschweige denn auf die Schaffung von Vollbeschäftigung gerichtet.

Den Leitlinien fehlen klare und überprüfbare Zielvorgaben z. B. für den Be-
schäftigungsgrad, für die Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen, für nach-
haltige und zwingende Förderung der Ausbildung und der Erwerbsarbeit junger
Menschen und die Möglichkeit zu Sanktionen bei Nichterfüllung.

Die gegenwärtigen Leitlinien und die Nationalen Aktionspläne enthalten keine
politischen Aussagen und keine Maßnahmen der europäischen Regierungen,
um die Gefahren von Niedriglohnsektoren, von prekärer Beschäftigung und
Sozialdumping sowie das Auseinanderdriften und Zurückbleiben ganzer Regi-
onen einzuschränken bzw. zu verbannen. Äußerst mangelhaft nur lassen die
Leitlinien erkennen, dass sich die europäischen Regierungen um hohe soziale
Standards, um soziale Sicherheit überhaupt oder um unverzichtbare Normen
der Beschäftigung kümmern wollen.

Arbeitszeitverkürzungen und Überstundenabbau kommen in den Leitlinien
überhaupt nicht vor. Für eine Neuakzentuierung der Solidarität zwischen Män-
nern und Frauen, zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen ist neben dem
Schaffen neuer Arbeitsplätze vor allem das Umverteilen von Arbeitszeit we-
sentlich. Gleichzeitig muss der Dienstleistungssektor ausgebaut werden, um
Frauen von – unentgeltlich geleisteter – Betreuungsarbeit zu entlasten.

Drittens orientieren sich auch die auf dem Kölner-Gipfel beschlossenen Vorga-
ben des zweimal jährlich stattfindenden makroökonomischen Dialogs zwischen
den Vertretern des EU-Rates, der EZB, den europäischen Arbeitgebern und Ge-
werkschaften keineswegs an dem Ziel der dringend erforderlichen gesamtwirt-
schaftlichen Nachfragebelebung der EU.

Durch die Einbeziehung der Lohnpolitik in das restriktive Korsett der europäi-
schen Wirtschaftspolitik wird den europäischen Gewerkschaften auferlegt,
Lohnabschlüsse unterhalb der Produktivitätsentwicklung anzustreben. Im „Be-
richt an den Europäischen Rat über einen Europäischen Beschäftigungspakt“
heißt es, dass sich „die Lohnentwicklung (...) auf einem verlässlichen Pfad be-
wegen (muss), die mit der Wahrung von Preisstabilität und der Schaffung von
Arbeitsplätzen vereinbar ist“. Gemeint ist eine klare Unterordnung der
Lohn- unter die Geldpolitik. Dies kann – und soll wohl auch – nur als eine
Drohung an die Adresse der europäischen Gewerkschaften verstanden werden,
sich künftig bei Tarifverhandlungen mit Lohnforderungen zurückzuhalten.

Dementsprechend verlor das „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe-
werbsfähigkeit“ seinen eigentlichen Sinn, Maßnahmen zum Abbau der Mas-
senarbeitslosigkeit zu vereinbaren. Als Ort von Tarifpoker und als Klagemauer
dient es der Bundesregierung lediglich als Alibi für ihre sozial ungerechte und
arbeitnehmerfeindliche Politik. Entgegen den Versprechungen sitzen Organisa-
tionen der Arbeitslosen als die eigentlich Betroffenen nicht mit am Tisch.

Die wirtschaftspolitischen Leitlinien der EU-Kommission sehen darüber hin-
aus eine stärkere Lohndifferenzierung durch den Ausbau des Niedriglohnsek-
tors in Europa vor. Derlei Maßnahmen, die auch Gegenstand des deutschen
„Bündnis für Arbeit“ sind, spalten die Gesellschaft und führen zu einer Lohnni-

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vellierung, die das Lohnniveau nach unten drückt und eine beschäftigungsför-
dernde Erhöhung der Endnachfrage begrenzen. Internationale Studien belegen
zudem, dass die Arbeitslosigkeit der geringqualifizierten Beschäftigten in Län-
dern mit hoher Lohndifferenzierung größer sind als in Ländern mit geringerer
Lohndifferenzierung. Dies zeigt, dass die Niedriglohnstrategie auch volkswirt-
schaftlich ungeeignet ist, um Arbeitslosigkeit wirksam abzubauen.

II.

Der Deutsche Bundestag begrüßt den Versuch Wirtschafts-, Struktur- und Be-
schäftigungspolitik auf EU-Ebene zu koordinieren. Hierdurch können die
Nachfrage in Europa gestärkt und die Weichen für mehr Beschäftigung gestellt
werden. Eine koordinierte Wirtschafts-, Struktur- und Beschäftigungspolitik
kann weniger von den internationalen Märkten konterkariert werden als Allein-
gänge einzelner EU-Staaten. Eine Koordinierung der unterschiedlichen Politi-
ken muss zu einer Beschäftigungs- und Sozialunion führen und die bereits voll-
zogene Währungsunion ergänzen.

Die gegenwärtige Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik der EU ist
grundlegend reformbedürftig. Deshalb begrüßt der Deutsche Bundestag, dass
die portugiesische Präsidentschaft für März 2000 einen Europäischen Rat ein-
berufen hat, der sich vorrangig mit diesen Fragen beschäftigt. Der Deutsche
Bundestag unterstützt die Initiative der portugiesischen Präsidentschaft den Lu-
xemburger, Cardiffer und Kölner Prozess zu koordinieren und gleichzeitig eine
„Neudefinition der europäischen Strategie für Wachstum, Wettbewerbsfähig-
keit und Beschäftigung angesichts der von der Globalisierung, vom technologi-
schen Wandel und von den neuen Gefahren sozialer Ausgrenzung ausgehenden
Herausforderungen“ vorzunehmen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt den Willen der portugiesischen Ratspräsi-
dentschaft eine neue offensive Strategie für Vollbeschäftigung, Innovation und
Wissen zu entwickeln. Damit wird anerkannt, dass die Schaffung eines sozialen
und ökologisch nachhaltigen Europas zentrales Ziel sein muss. Nur sie bildet
den Schlüssel für die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses und für
eine erfolgreiche Osterweiterung der Europäischen Union.

III.

Die Bundesregierung wird aufgefordert,

1. Wirtschaftspolitik

– sich für die gewerkschaftliche Forderung nach einer produktivitätsorientier-
ten Reallohnpolitik auszusprechen,

– für eine Rücknahme der restriktiven Geldpolitik auf europäischer Ebene und
eine Erweiterung der Aufgabenstellung der EZB um das Ziel der Förderung
des Beschäftigungswachstums einzutreten,

– dafür zu sorgen, dass die öffentliche Kontrolle der EZB-Politik durch Aus-
kunft- und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europa-Parlament gestärkt
wird, das Europäische Parlament in den makroökonomischen Dialog einbe-
zogen, sowie die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten der EU über
seine Vereinbarungen und deren Umsetzung umfassend informiert werden,

– sich dafür einzusetzen, den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt
um einen „Pakt für Beschäftigung, Nachhaltigkeit und Solidarität“ zu ergän-
zen,

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– das gesamtwirtschaftlich und beschäftigungspolitisch kontraproduktive Ziel
ausgeglichener und mittelfristig gar überschüssiger Budgets nicht weiter als
Leitbild der Finanzpolitik zu verfolgen,

– dafür einzutreten, dass die EU aktiv in die Auseinandersetzung um die Re-
form des internationalen Währungssystems eingreift,

– für eine Europäische Initiative Zukunftsinvestitionen einzutreten, um die In-
vestitionen der EU in ökologisch nachhaltige Infrastrukturbereiche und in
eine dezentrale Energieversorgung spürbar zu erhöhen und Beschäftigungsi-
nitiativen aus gemeinsam entwickelten und koordinierten Projekten auf nati-
onaler und regionaler Ebene zu stärken,

– sich für eine Harmonisierung der europäischen Steuersysteme – vor allem
bei den Einkommen- und Unternehmenssteuern sowie für europaweit recht-
lich bindende Regelungen, die den Steuerdumpingwettbewerb verhindern –
einzusetzen,

– sich für eine Besteuerung des internationalen Kapitalverkehrs und der Wäh-
rungstransaktionen (Tobin-Tax) einzusetzen,

– sich für verbindliche und einklagbare Sozialstandards, die den Wettbewerb
um die niedrigsten Löhne, Sozialleistungen und sozialen und gewerkschaft-
lichen Standards unterbinden, einzusetzen,

– sich dafür einzusetzen, dass die Grundrechte auf freie gewerkschaftliche Be-
tätigung, Koalitions- und Streikrecht und die Mitbestimmungsrechte der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Interessenvertretungen
grenzüberschreitend gesichert werden,

– in einer Reform der Mitbestimmung ein Vetorecht für Betriebsräte und Ge-
werkschaften gegenüber Übernahmen, Fusionen, Verlagerungen und Be-
triebsschließungen sowie Initiativrechte für Beschäftigungssicherung einzu-
führen,

– einer weiteren Aushöhlung der öffentlichen Infrastruktur durch Deregulie-
rung und Privatisierung entgegenzutreten,

– sich für die verbindliche Verankerung der öffentlichen Daseinsvorsorge in
der EU einzusetzen und die Forderung der europäischen Gewerkschaften
nach einer Charta des öffentlichen Dienstes in Europa zu unterstützen,

– sich für eine gezielte Innovationspolitik für den sozial-ökologischen Umbau
einzusetzen,

– sich für eine Stärkung der Binnenwirtschaft durch einen gezielten Aufbau
regionaler Wirtschaftskreisläufe einzusetzen,

– gezielte Investitionen in qualifizierte Dienstleistungsarbeit zu unterstützen;

2. Beschäftigungspolitik

– auf dem Beschäftigungsgipfel in Lissabon eine kritische Bewertung der ge-
genwärtigen Beschäftigungslage in Europa vorzunehmen, die sich nicht in
der Bewertung der Leitlinien erschöpft, sondern den tatsächlichen Stand der
Erwerbslosigkeit und seine Ursachen analysiert,

– sich nachdrücklich zum Ziel der Vollbeschäftigung mit der Möglichkeit zu
existenzsichernder Arbeit für alle zu bekennen,

– sich dafür einzusetzen, dass die EU von der Ausweitung von prekären Be-
schäftigungsverhältnissen ohne existenzsicherndes Einkommen Abstand

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nimmt und stattdessen das Ziel der Angleichung der Einkommen auf hohem
Niveau verfolgt,

– die mittelfristige Erhöhung der Beschäftigungsquote von derzeit 61 % auf
70 % als verbindliche Zielvorstellung festzulegen und durch Maßnahmen zu
untersetzen,

– Initiativen zu starten, damit das Europäische Parlament künftig verbindlich
und federführend an der Entwicklung beschäftigungspolitischer Leitlinien
beteiligt wird und gemeinsam mit der Kommission ihre Umsetzung kontrol-
liert,

– in der Regierungskonferenz zu fordern, dass die Gewerkschaften, Arbeitslo-
senorganisationen, Kirchen und Unternehmerorganisationen bei der Ausar-
beitung und Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien intensiver
einbezogen werden,

– sich für die Beibehaltung des einjährigen Evaluierungsrhythmus bei den be-
schäftigungspolitischen Leitlinien einzusetzen,

– die Wirksamkeit der beschäftigungspolitischen Leitlinien durch verbindli-
che, quantifizierbare, verifizierbare und gemeinschaftsweite Zielvorgaben
zu erhöhen und Sanktionen bei Nichterfüllung zu vereinbaren,

– für die Ergänzung der vier Säulen der Leitlinien um eine fünfte einzutreten,
in der verbindliche Beiträge der Wirtschaft und der Unternehmen zur Ver-
besserung der Beschäftigungslage für mindestens existenzsichernde Arbeit
festgeschrieben werden,

– Beschäftigungsinitiativen für existenzsichernde Arbeit vor allem auf regio-
naler und lokaler Ebene finanziell stärker zu unterstützten,

– eine Analyse der verschiedenen sozialen Sicherungssysteme als Vorstufe zur
Vereinbarung hoher sozialer Standards fertig zu stellen sowie einen beschäf-
tigungs- und sozialpolitisch kontraproduktiven Wettbewerb der verschiede-
nen Systeme mit Lohn- und Sozialdumping als Folge zu unterbinden,

– sich aktiv für die Aufnahme eines Öffentlich Geförderten Beschäftigungs-
sektors (ÖBS) zum Auf- und Ausbau eines Non-Profit-Sektors der Wirt-
schaft und andere Beschäftigungsprogramme in die Leitlinien und die natio-
nalen Aktionspläne einzusetzen,

– das Recht auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz mit existenzsichernder
Arbeit für jeden Jugendlichen zu schaffen und zu einer gesetzlich veranker-
ten generellen Jugendförderung überzugehen,

– eine Umverteilung der gegenwärtigen Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitver-
kürzung in großen Schritten bei vollem Lohnausgleich und den drastischen
Abbau von Überstunden zu unterstützen.

Im Rahmen des nationalen Aktionsplanes wird die Bundesregierung aufgefor-
dert, die Gleichstellung von Männern und Frauen im Erwerbsarbeitsbereich
endlich umzusetzen. Dafür ist es notwendig, dass

– der Zugang von Frauen zu qualifizierten, zukunftssicheren Arbeitsplätzen
erleichtert wird, wobei besondere Schwerpunkte auf die technischen Ein-
satzfelder, die Anwendung und Gestaltung neuer Technologien und ein bes-
serer Zugang zu Führungspositionen zu legen sind,

– Frauen und Männer gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit erhalten und
frauentypische Berufe nicht länger unter ihrem tatsächlichen Wert bezahlt
werden,

Drucksache 14/3030 – 8 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
– für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auf dem Arbeitsmarkt eine
verbindliche, ergebnisorientierte 50 %-Quote für Ausbildungs- und Arbeits-
plätze durchgesetzt wird,

– die volle arbeitsrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Absicherung
der Teilzeitarbeit gesetzlich verankert wird,

– gezielte Wiedereingliederungsprogramme nach einer familiär bedingten Er-
werbsarbeitsunterbrechung oder längerer Arbeitslosigkeit angeboten wer-
den,

– das öffentliche Angebot an sozialen Diensten verbessert wird. Zudem muss
der krasse Fehlbestand an Betreuungsplätzen, insbesondere im Bereich der
Ganztagsbetreuung, abgebaut werden;

– sich für die paritätische Beteiligung beider Geschlechter an der Reprodukti-
onsarbeit und die kollektive Verkürzung der Arbeitszeiten als eine der zen-
tralen Voraussetzungen dafür einzusetzen.

Weiter wird die Bundesregierung aufgefordert, die Gleichstellung von Men-
schen mit und ohne Behinderungen umzusetzen und die erforderlichen Rechts-
und Verwaltungsvorschriften für die Umsetzung der EU-Richtlinie „Zur Fest-
stellung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehand-
lung“ vorzubereiten. Dafür ist es notwendig, dass

– gezielte, langfristig orientierte Eingliederungsprogramme für Menschen mit
Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt ausgearbeitet und umgesetzt
werden,

– die Empfehlungen der Konferenz der Sozialpartner über die Eingliederung
behinderter Personen in die normale Arbeitswelt vom 7./8. Juni 1999 in
Köln umgesetzt und dabei die folgenden Schwerpunkte in den Mittelpunkt
gestellt werden:

– Förderung der Chancengleichheit für behinderte Personen,

– Berücksichtigung der Fähigkeiten und nicht der Behinderung,

– Verbesserung der Arbeitsbeziehungen durch Berücksichtigung behinde-
rungsbedingter Situationen.

Berlin, den 23. März 2000

Dr. Klaus Grehn
Ursula Lötzer
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Evelyn Kenzler
Heidi Lippmann
Manfred Müller (Berlin)
Kersten Naumann
Dr. Ilja Seifert
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Heidi Knake-Werner
Rosel Neuhäuser
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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