BT-Drucksache 14/2298

Bundesstiftung "Entschädigung für NS-Unrecht" gründen und Entschädigungen von NS- Opfern der Zwangssterilisation und der "Euthanasie" in die Wege leiten

Vom 2. Dezember 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/2298
14. Wahlperiode 02. 12. 99

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Heinrich Fink,
Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, Heidemarie Lüth,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ gründen und Entschädigung
von NS-Opfern der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ in die Wege leiten

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mit der anstehenden Gründung einer Bundesstiftung „Entschädigung für
NS-Zwangsarbeit“ ist nunmehr auch die Gründung der ebenfalls in der Koa-
litionsvereinbarung der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
vorgesehenen Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ für die sog.
vergessenen (also bisher nicht oder nur unzureichend bei Entschädigungs-
leistungen berücksichtigten) Opfer dringend erforderlich. Zu diesen Opfern
gehören solche Verfolgte wie Homosexuelle, Zwangssterilisierte und „Eu-
thanasie“-Geschädigte, Sinti und Roma, Deserteure, sog. Asoziale u. a. so-
wie solche, die z. B. infolge des Kalten Krieges zielgerichtet von Leistungen
des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) ausgeschlossen wurden.

2. Allein in der Bundesrepublik Deutschland leben noch etwa 20 000 NS-Op-
fer der Zwangssterilisation sowie ca. 7 000 bis 8 000 „Euthanasie“-Geschä-
digte; eine kleine Anzahl dieser Opfer lebt in europäischen Nachbarstaaten.
Als „Euthanasie“-Geschädigte sind Personen zu betrachten, die als Kind im
Zuge der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen einen oder beide
Elternteile verloren haben. Der Begriff Euthanasie wurde vom Nazi-Regime
zur Verschleierung der systematischen Aussonderung, Verfolgung und Er-
mordung von Menschen benutzt. Grundlage dieser „Euthanasie“-Verbre-
chen war das nur wenige Monate nach dem Machtantritt des Nazi-Regimes
am 14. Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-
wuchses“, dessen juristische Begründung auf der nationalsozialistischen
Rassendoktrin und -politik beruhte. Dieses Gesetz stellte eines der ersten
Massenvernichtungsgesetze der Nazis dar. Es bildete die Grundlage für die
am 1. September 1939 vom nationalsozialistischen Regime beschlossene
„Aktion T 4“ (so benannt nach dem Ort der Beschlussfassung in der Berliner
Tiergartenstrasse 4) zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Zwangsste-
rilisation war ebenfalls Bestandteil der verbrecherischen „Aktion T 4“, mit
der die Verfolgung systematisch auf Insassen von Heil- und Pflegeanstalten
ausgedehnt wurde. Seit 1933 wurden etwa 400 000 Menschen zwangssterili-
siert.

Drucksache 14/2298 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Der Verfolgung in den Tötungsanstalten Hadamar, Bernburg, Sonnenstein,
Grafeneck und Hartheim im Rahmen der „Euthanasie“ fielen Menschen zum
Opfer, die krank oder behindert waren oder dafür gehalten wurden. Durch
Gas, überdosierte Medikamente und Verhungernlassen wurden mehr als
200 000 Menschen ermordet. Diese Verbrechen waren die erprobte Vorstufe
für den millionenfachen Mord in den Vernichtungslagern Auschwitz, Maj-
danek Sobibor u. a.

3. „Euthanasie“-Geschädigte und Zwangssterilisierte sind im Bundesentschä-
digungsgesetz (BEG) nicht ausdrücklich berücksichtigt, da nach diesem Ge-
setz nicht spezifische Opfergruppen, sondern Verfolgungsgründe und -schä-
den als Grundlagen für einen Anspruch auf Entschädigung geltend gemacht
werden können. Rassenverfolgung, Verletzung des Körpers und daraus re-
sultierende Schäden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen gehö-
ren jedoch zu den im Bundesentschädigungsgesetz (BEG) §§ 1 und 2 ge-
nannten Gründen und Schäden, von denen „Euthanasie“-Geschädigte und
Zwangssterilisierte zwischen 1933 und 1945 betroffen waren. Das hätte na-
hegelegt, davon auszugehen, dass „Euthanasie“-Geschädigte und Zwangs-
sterilisierte einer rassisch begründeten Verfolgung unterlagen, aus der ein
juristischer und moralischer Anspruch auf Entschädigung – ähnlich der an-
derer Gruppen von Verfolgten – abzuleiten ist.

Dennoch sind „Euthanasie“-Geschädigte und Zwangssterilisierte anderen
nach dem BEG anerkannten NS-Verfolgten nicht gleichgestellt. Für sie gilt
daher, dass für die Prüfung der Anspruchsberechtigung die jeweilige Ein-
kommens- oder Vermögenslage herangezogen wird.

Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen
Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998 wurden zwar die Sterilisati-
onsentscheide der NS- „Erbgesundheitsgerichte“ aufgehoben. Es erfolgte je-
doch keine finanzielle Wiedergutmachung zugunsten der Betroffenen.

4. Erst seit Anfang der 80er Jahre wurden in der Bundesrepublik Deutschland
Maßnahmen getroffen, die – gemessen an dem durch die Verfolgung in der
Nazizeit erlittenen Leid – bescheidene Verbesserungen für die Lage der „Eu-
thanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten im Rahmen von Härteleis-
tungen erbrachten.

Zwangssterilisierte

– konnten seit 1980, wenn sie ihre Operation „glaubhaft“ nachweisen (auf
einen amtsärztlichen Nachweis wird seit Mitte 1998 verzichtet), eine ein-
malige Beihilfe von 5 000 DM erhalten, mussten aber zugleich auf jeg-
liche weitere Ansprüche verzichten;

– erhalten seit 1990 eine laufende monatliche Beihilfe in Höhe von
100 DM, die 1998 auf 120 DM erhöht wurde;

– können entsprechend den von der Bundesregierung 1988 erlassenen
Richtlinien über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen
Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes
(AKG) Beihilfen beantragen, wenn die Voraussetzung gegeben ist, dass
eine wirtschaftliche Notlage vorliegt.

„Euthanasie“-Geschädigte

– konnten nach den AKG-Richtlinien eine einmalige Beihilfe von 5 000
DM beantragen, wenn ihr Familieneinkommen die Einkommensgrenze
(die in der Nähe der Sozialhilfesätze angesiedelt ist) nicht übersteigt.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/2298

„Euthanasie“-Geschädigte und Zwangssterilisierte aus osteuropäischen
Nachbarstaaten können diese Härteleistungen de facto erst seit kurzer Zeit
beantragen, da mit der Gründung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds
eine Veränderung der bis dahin üblichen Verwaltungspraxis durch das Bun-
desministerium der Finanzen eingeleitet wurde, die in der Vergangenheit zu
einem strikten Ausschluss der osteuropäischen Opfer geführt hatte.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf

1. unverzüglich die Gründung der vorgesehenen Bundesstiftung „Entschädi-
gung für NS-Unrecht“ auf den Weg zu bringen und im Rahmen dieser Stif-
tung für eine angemessene Entschädigung aller bisher nicht oder nur unzu-
reichend berücksichtigten NS-Opfer Sorge zu tragen. Im Hinblick auf die
„Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten soll eine Regelung ins-
besondere folgende Punkte enthalten:

– Die NS-Opfer der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ („Euthana-
sie“-Geschädigte) werden als Verfolgte anerkannt, denen ein juristischer
und moralischer Anspruch auf eine Entschädigung für erlittene Verfol-
gung, Verletzung des Körpers und daraus resultierende Schäden im be-
ruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen oder für den Verlust eines
Angehörigen in einer NS-„Euthanasie“-Anstalt zusteht.

– Als Wiedergutmachung erhalten die NS-Opfer der Zwangssterilisation
und der „Euthanasie“ („Euthanasie“-Geschädigte) eine einmalige Ent-
schädigung in Höhe von 10 000 DM. In Anbetracht des fortgeschrittenen
Alters der Opfer erfolgt die Wiedergutmachung mit dem geringstmög-
lichen Antrags- und Verwaltungsaufwand und innerhalb von maximal
12 Monaten nach Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung. Sie erfolgt un-
abhängig von bisher gezahlten Beihilfen sowie unabhängig von eventuel-
len Verzichtserklärungen auf weitergehende Ansprüche. Die Entschädi-
gung wird unabhängig von den jeweiligen Einkommens- und Vermö-
gensverhältnissen der Opfer gezahlt.

2. die Gründungskosten für die Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Un-
recht“ sowie die für die Entschädigung der NS-Opfer der Zwangssterilisa-
tion und der „Euthanasie“ („Euthanasie“-Geschädigte) einmalig anfallenden
Kosten in Höhe von ca. 270 Mio. DM mit dem Ziel in die Bundeshaushalte
für die Jahre 2000 und 2001 einzustellen, die finanzielle Wiedergutmachung
spätestens bis zum 30. September 2001 abzuschließen.

3. ausländische NS-Opfer, einschließlich die der Zwangssterilisation und der
„Euthanasie“ („Euthanasie“-Geschädigte), grundsätzlich in gleicher Weise
zu entschädigen wie jene, die deutsche Staatsangehörige sind.

4. dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezember 2001 einen Bericht über
Gründung und Tätigkeit der Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Un-
recht“ sowie über den Stand und die Ergebnisse der politischen, juristischen
und finanziellen Wiedergutmachung gegenüber den NS-Opfern, einschließ-
lich denen der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ („Euthanasie“-Ge-
schädigte), vorzulegen.

Berlin, den 30. November 1999

Dr. Ilja Seifert Ulla Jelpke
Eva-Maria Bulling-Schröter Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heinrich Fink Heidemarie Lüth
Dr. Barbara Höll Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 14/2298 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Begründung

1. Für die Dringlichkeit der Gründung einer Bundesstiftung „Entschädigung
für NS-Unrecht“ sind vor allem die folgenden Gründe anzuführen:

– Zu den Aufgaben der Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“
sollte es gehören, dafür Sorge zu tragen, dass für die vom NS-Unrecht be-
troffenen Personen oder Personengruppen keine weiteren Benachteili-
gungen durch langwierige Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren
entstehen. Insofern sollte die zu gründende Bundesstiftung ein Garant für
die schnelle Entschädigung aller betroffenen Opfer sein.

– Die Betroffenen haben bereits ein hohes Lebensalter erreicht. Oftmals be-
mühen sie sich seit Jahrzehnten um eine moralische, juristische und
finanzielle Wiedergutmachung. Diese Bemühungen blieben bisher über-
wiegend ohne Erfolg. Mit der Gründung der Bundesstiftung „Entschädi-
gung für NS-Unrecht“ sollte für die Opfer ein klarer Fahrplan erkennbar
werden, bis wann die Bundesregierung gedenkt, die Entschädigung der
sog. vergessenen Opfer abzuschließen.

2. Regelungen für die Entschädigung der Zwangssterilisierten und „Euthana-
sie“-Geschädigten sind seit Jahrzehnten überfällig. Die bisher erfolgten Här-
teleistungen, vorwiegend im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengeset-
zes (AKG), waren für viele der Opfer eine – wenn auch oft sehr begrenzte –
Hilfe. Sie können aber dennoch keinen Ersatz für eine wirkliche Entschädi-
gung darstellen.
Auch der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vertritt die Auffas-
sung, dass dem bei dem tiefgreifenden Eingriff in die körperliche Unver-
sehrtheit erlittenen Leid und Schmerz mit seinen schweren, ein Leben lang
andauernden Folgen im Rahmen der Wiedergutmachung und Entschädigung
von NS-Unrecht – soweit derartiges Unrecht überhaupt entschädigt werden
kann – angemessen Rechnung zu tragen ist. Ausdrücklich hat der Petitions-
ausschuss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Koali-
tionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 die Rehabilitierung und Verbesse-
rung der Entschädigung für Opfer nationalsozialistischen Unrechts als
fortdauernde Verpflichtung kennzeichnet und vorsieht, eine Bundesstiftung
„Entschädigung für NS-Unrecht“ auf den Weg zu bringen.

3. Zu den NS-Opfern der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ („Euthana-
sie“-Geschädigte) gehört auch eine nicht genau bekannte Anzahl von Op-
fern, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Dabei handelt es
sich fast ausschließlich um Opfer aus osteuropäischen Staaten, die in der
Vergangenheit von jeglichen Entschädigungen und Härteleistungen in
Deutschland ausgeschlossen waren und die sich deshalb mit Petitionen an
den Deutschen Bundestag gewandt hatten. Erst in jüngster Zeit wurde es für
NS-Opfer aus der ehemaligen Tschechoslowakei möglich, Härteleistungen
nach dem AKG zu beantragen, da vor allem mit der Gründung des Deutsch-
Tschechischen Zukunftsfonds eine Veränderung der bis dahin üblichen Ver-
waltungspraxis durch das Bundesministerium der Finanzen eingeleitet
wurde.
Da davon auszugehen ist, dass NS-Opfer der Zwangssterilisation und der
„Euthanasie“ („Euthanasie“-Geschädigte) aus verschiedenen europäischen
Staaten bei einer Entschädigungsregelung Ansprüche geltend machen, sollte
eine Regelung von vornherein vorsehen, eine Entschädigung ausländischer
Opfer grundsätzlich in gleicher Weise vorzunehmen wie für solche mit deut-
scher Staatsangehörigkeit.

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