BT-Drucksache 14/1694

Zügige Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und Errichtung einer Bundesstiftung

Vom 29. September 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/1694
14. Wahlperiode 29. 09. 99

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke-Reymann, Dr. Heinrich Fink,
Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, Dr. Evelyn Kenzler,
Heidemarie Lüth, Petra Pau, Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Ilja Seifert,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Zügige Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und
Errichtung einer Bundesstiftung

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der Zeit des NS-Regimes wurden nach jüngsten Untersuchungen ca. zehn
Millionen Menschen zur Zwangsarbeit in deutschen Unternehmen, Kommunen
und Landwirtschaftsbetrieben gezwungen;

Unternehmen haben über Jahrzehnte die Entschädigungsansprüche der ehema-
ligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zurückgewiesen. Der Volkswa-
gen- und der Siemens-Konzern sind bislang nahezu die einzigen Unternehmen,
die Zahlungen vorgenommen haben. Insgesamt ist die Industrie aber nach wie
vor nicht bereit, die Rechtmäßigkeit der Forderungen anzuerkennen, obwohl es
um berechtigte Ansprüche der Opfer auf Entschädigung und nicht lediglich um
eine humanitäre Geste geht;

die massenhafte Versklavung durch Zwangsarbeit führte zu unermesslichem
Leid für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Davon betroffen waren
Menschen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten ost- und westeuro-
päischen Ländern; unter ihnen waren viele Kinder Opfer der Deportationen. Sie
haben mindestens ebenso nachhaltige Schäden davongetragen;

durch das Bundesentschädigungsgesetz und andere Regelungen der Bundesre-
publik Deutschland wurde nur zum Teil individuelle Entschädigung geleistet.
Die Zwangsarbeit ist dabei unberücksichtigt geblieben. Globale Entschädigun-
gen, unabhängig, ob diese als ausreichend oder unzulänglich beurteilt werden,
soweit sie an Staaten geleistet wurden, sind den Betroffenen in der Regel nicht
persönlich zugute gekommen;

die deutsche Wirtschaft trägt wesentliche Verantwortung dafür, dass dieses
menschenverachtende NS-System brutalster Ausbeutung installiert und auf-
recht erhalten werden konnte. Sie trägt nicht nur moralische Verantwortung für
die aktive Unterstützung bei der Errichtung der NS-Diktatur, sondern viele Un-

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ternehmen waren zudem Mitorganisatoren und Nutznießer des Systems der
Zwangsarbeit;

den Unternehmen, die in Kooperation mit dem NS-Regime Zwangsarbeite-
rinnen und Zwangsarbeiter ausbeuteten, sind aus dieser nicht oder völlig unzu-
reichend entlohnten Tätigkeit besondere Gewinne erwachsen, zudem hat der
Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern es ermöglicht, Kriegs-
schäden zu minimieren;

im Koalitionsvertrag verspricht die Regierungskoalition aus SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN, eine Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“
für die vergessenen Opfer sowie unter Beteiligung der deutschen Industrie eine
Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ auf den Weg zu bringen.
Beides steht noch aus. Es ist eine historische Verantwortung unseres Landes,
am Ende dieses Jahrhunderts, in dem zwei Weltkriege von Deutschland ausgin-
gen, und über 50 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur jenen endlich Gerech-
tigkeit zukommen zu lassen, die unter dem System der NS-Zwangsarbeit ge-
litten haben. Sie haben Jahrzehnte auf den abschließenden Friedensvertrag
gewartet und warten nun bereits erneut 9 Jahre auf eine angemessene Entschä-
digungsregelung. Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
sind bereits verstorben, ohne dass ihnen Gerechtigkeit widerfahren ist. Vor
allem in Anbetracht des hohen Alters der noch lebenden ca. 1,5 Millionen
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ist es allerhöchste Zeit für indivi-
duelle Ausgleichszahlungen;

die Errichtung der Stiftungsinitiative „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“
unter Beteiligung der deutschen Industrie gestaltet sich äußerst langwierig und
ist geprägt von wenig Einsicht und Mitgefühl sowie dem Bemühen, den Op-
fern die Bedingungen für ihre Entschädigungen zu diktieren. Es ist deshalb zu
befürchten, dass weder diese Initiative rasch zu einer den Opfern gerecht wer-
denden Regelung führen, noch dass sich alle betreffenden Unternehmen, die
sich am System der NS-Zwangsarbeit beteiligt hatten und noch existieren, an
der Initiative beteiligen werden. Daher ist es eine vordringliche Aufgabe der
Bundesregierung, sich entsprechend ihrer historischen Verantwortung bei ih-
rer vermittelnden Tätigkeit engagierter für die Interessen der Opfer einzuset-
zen;

ungeachtet der finanziellen Beteiligung durch die deutsche Industrie bleibt die
Verpflichtung aus dem Koalitionsvertrag zur Gründung einer Bundesstiftung
„Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ bei der Bundesregierung. Aus dem Vo-
lumen der Bundesstiftung sollten auch Regelungen für Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter der Kommunen, der landwirtschaftlichen Betriebe, der
staatseigenen Betriebe etc. getroffen werden. Im Koalitionsvertrag hat die Bun-
desregierung ihre politische Verantwortung für die Regelung der Entschädi-
gung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern anerkannt. Dieser Verant-
wortung muss die Bundesregierung endlich gerecht werden.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. dem Deutschen Bundestag noch 1999 den Entwurf eines Gesetzes über die
Errichtung einer Bundesstiftung des öffentlichen Rechts „Entschädigung für
NS-Zwangsarbeit“ zur Beratung vorzulegen. Zweck der Stiftung soll eine
angemessene finanzielle Entschädigung für durch Zwangsarbeit erlittenes
NS-Unrecht sein;

2. der Bundesstiftung aus dem Haushalt für das Jahr 2000 ein Startkapital in
Höhe von 1 Mrd. DM aus Bundesmitteln zur Verfügung zu stellen, damit die
Zahlungen an die überlebenden Opfer unverzüglich beginnen können; in den

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Bundeshaushalt jährlich die erforderlichen finanziellen Mittel einzustellen
und weitere Quellen zur Finanzierung mit öffentlichen und privaten Mitteln
zu eröffnen;

3. den Kreis der Begünstigten so zu bestimmen, dass alle ehemaligen Zwangs-
arbeiterinnen und Zwangsarbeiter anspruchsberechtigt werden. Darunter
sollen ohne Differenzierung nach dem Einsatzbereich ehemalige Zwangsar-
beiterinnen und Zwangsarbeiter fallen, die in staatlichen und kommunalen
Betrieben und Einrichtungen, in der Landwirtschaft, in privaten Haushalten
und in nicht mehr existenten Betrieben und Einrichtungen ohne Rechtsnach-
folger beschäftigt waren. Anspruchsberechtigt sollen auch Kriegsgefangene
und KZ-Häftlinge sein, die Zwangsarbeit leisten mussten. Ferner sollen Ehe-
und Lebenspartner verstorbener Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
anspruchsberechtigt werden, wenn die Ehe oder Lebensgemeinschaft wäh-
rend der Zeit der Zwangsarbeit bestand oder begründet wurde. Ferner müs-
sen auch Kinder von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die vor
oder während der Zeit der Zwangsarbeit geboren wurden sowie mitver-
schleppte Angehörige entschädigt werden;

4. eine Unterscheidung der Höhe der Entschädigung nach Herkunftsländern
oder jetzigen Wohnsitzländern nicht zuzulassen und keine Mindestdauer
der Zwangsarbeit als Voraussetzung für Leistungen festzulegen. Jeder
Zwangsarbeiter und jede Zwangsarbeiterin soll zunächst unabhängig von
der Dauer der Zwangsarbeit eine Einmalzahlung von 10 000 DM erhalten.
Für jeden über ein Jahr hinausgehenden Monat geleisteter Zwangsarbeit
sollen mindestens jeweils weitere 600 DM gezahlt werden. Die Höhe der
Entschädigungen ist schließlich so zu bemessen, dass alle Schadenstatbe-
stände im Zusammenhang mit der geleisteten Zwangsarbeit (Schaden an
Leben, Körper und Gesundheit, Schaden am beruflichen Fortkommen,
Schaden an Eigentum und Vermögen) angemessene Berücksichtigung fin-
den und der Genugtuungs- und Sühnefunktion der Entschädigung Rech-
nung getragen wird;

5. in den Gesetzentwurf Regelungen aufzunehmen, die den Anspruchsberech-
tigten die Beweisführung erleichtern. Da die Bedingungen der Zwangsarbeit
allgemein bekannt sind, soll der Nachweis genügen, dass Zwangsarbeit ge-
leistet worden ist;

6. zu sichern, dass aus einer unterschiedlichen Zuordnung zu einer der zu
gründenden Stiftungen der bzw. dem Anspruchsberechtigten keine Nach-
teile entstehen. Ein einheitliches, unkompliziertes und praktikables Verwal-
tungsverfahren ist festzulegen. Dazu sollen Antrags- und Informationsstel-
len in der Bundesrepublik Deutschland und in den Herkunfts- bzw.
Wohnsitzländern der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
auf Kosten der Bundesstiftung und der Stiftung deutscher Unternehmen ein-
gerichtet werden, die Auskünfte erteilen, Anträge entgegennehmen und
weiterleiten sowie die zügige Einleitung der Verwaltungsverfahren unter-
stützen;

7. bei der Bundesstiftung eine neutrale Widerspruchsstelle einzurichten. Für
Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sowie für Verfahren vor den Ver-
waltungsgerichten soll Kostenfreiheit gelten;

8. unabhängig vom weiteren Fortgang der Beteiligung der deutschen Industrie
an der Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ dafür zu sor-
gen, dass ab 1. Januar 2000 eine Einmalzahlung an überlebende Zwangsar-
beiterinnen und Zwangsarbeiter in Höhe von 10 000 DM erfolgt. Die Zah-

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lungen, mit denen die Bundesrepublik Deutschland in Vorleistung tritt,
sollen mit den Ansprüchen gegenüber später gegründeten Stiftungen ver-
rechnet werden.

Berlin, den 28. September 1999

Wolfgang Gehrcke-Reymann
Dr. Heinrich Fink
Dr. Barbara Höll
Sabine Jünger
Ulla Jelpke
Dr. Evelyn Kenzler
Heidemarie Lüth
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Dr. Ilja Seifert
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

– In Anbetracht der Tatsache, dass 53 Jahre nach der Befreiung der europäi-
schen Völker vom deutschen Faschismus die ausländischen Zwangsarbeite-
rinnen und Zwangsarbeiter des NS-Regimes immer noch keine oder keine
angemessene Entschädigung erhalten haben;

– in Erwägung der Unerträglichkeit dieses Zustandes und der politischen, mo-
ralischen und juristischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland
für die Wiedergutmachung der Verbrechen des NS-Regimes an Angehörigen
anderer Völker und Staaten;

– angesichts der Unsicherheit, ob überhaupt und wenn ja, wann, unter welchen
Bedingungen und in welchem Umfang eine Stiftung deutscher Unternehmen
Entschädigungszahlungen vornehmen wird und angesichts des Umstandes,
dass auch im Falle des Wirksamwerdens dieser Stiftung die Entschädigung
von Opfern, die Zwangsarbeit in Bereichen außerhalb der an der Stiftung be-
teiligten Unternehmen leisten mussten, nicht gewährleistet ist;

– unter Berücksichtigung des Alters der Opfer sowie des Gesundheitszustan-
des und der sozialen Notlage vieler von ihnen

ist die unverzügliche Einrichtung der vorgesehenen Bundesstiftung „Entschädi-
gung für NS-Zwangsarbeit“ dringend geboten.

Die im Antrag vorgeschlagenen Regelungen sind darauf gerichtet, eine ge-
rechte Lösung zu befördern und ein Verfahren festzulegen, das den Opfern
Aussicht auf eine schnelle, praktikable, unbürokratische und kostenfreie Bear-
beitung und Entscheidung ihrer Anträge gewährleistet.

Aus humanitären Gründen und als symbolisches Bekenntnis zur Verantwortung
der Bundesrepublik Deutschland sollte im Vorgriff auf endgültige Entscheidun-
gen die von uns vorgeschlagene Einmalzahlung in Höhe von 10 000 DM an
ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sofort und unwiderruflich
ausgezahlt werden.

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