Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.07.2010, Az. III R 77/08

3. Senat | REWIS RS 2010, 4779

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Gegenstand

Kindergeldanspruch eines türkischen Staatsbürgers nach dem Vorläufigen Abkommen über soziale Sicherheit


Leitsatz

NV: Ab einem Aufenthalt im Bundesgebiet von sechs Monaten besteht nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit vom 11. Dezember 1953 für türkische Staatsbürger ein Anspruch auf Kindergeld unter denselben Voraussetzungen wie für eine deutschen Staatsbürger.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist [X.] [X.]taatsangehörige. Als Minderjährige reiste sie 1989 in die [X.] ([X.]) ein. Nachdem ein Asylantrag und ein [X.] abgelehnt worden waren und die Klägerin eine Duldung erhalten hatte, stellte das [X.] ein Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 7 [X.]atz 1 des Aufenthaltsgesetzes fest. Die Klägerin war in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht; seit dem 1. Februar 2002 hat sie eine eigene Wohnung.

2

Anträge auf Kindergeld für den im März 1998 geborenen [X.] lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) durch Bescheide vom 30. April 1998 bzw. 17. Oktober 2000 ab. Auf erneuten Antrag setzte die Familienkasse mit Bescheid vom 21. Dezember 2000 das Kindergeld auf 0 DM fest; im Einspruchsverfahren gewährte sie Kindergeld für die Monate November und Dezember 2000, der Festsetzung von Kindergeld für die Vergangenheit stehe die Bestandskraft des Bescheides vom 17. Oktober 2000 entgegen.

3

Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse antragsgemäß, Kindergeld für [X.] ab März 1998 bis Oktober 2000 und ab Januar 2001 bis April 2004 zu bewilligen (Urteil vom 15. August 2008  18 K 1548/06 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 418). Die Klägerin könne nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des [X.] über [X.] [X.]icherheit unter Ausschluss der [X.]ysteme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11. Dezember 1953 --Vorläufiges [X.] ([X.])-- ([X.] 1956, 507) i.V.m. § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (E[X.]tG) Kindergeld beanspruchen. [X.]ie habe nach § 9 [X.]atz 2 der Abgabenordnung ([X.]) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der [X.]; zusätzliche Anforderungen an den Aufenthalt seien nach dem [X.] nicht zu stellen. Der Festsetzung von Kindergeld für die [X.] vor November 2000 stehe nicht die Bestandskraft der [X.] vom 30. April 1998 und 17. Oktober 2000 entgegen, da sich nicht feststellen lasse, dass die Bescheide der Klägerin bekannt gegeben worden seien.

4

Zur Begründung ihrer Revision beruft sich die Familienkasse auf die Geschäftsanweisung der [X.] vom 3. Dezember 2002, [X.]/2002, Anlage 2 [X.]. 2.5 Abs. 4 (abgedruckt bei [X.]/[X.], [X.], Kommentar, Fach D, III. Rundschreiben, 3.). Danach setze der Begriff "Wohnen" in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d [X.] voraus, dass der Betreffende über eine eigene Wohnung verfüge.

5

Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Zutreffend hat das [X.] die Familienkasse verpflichtet, Kindergeld für [X.] ab März 1998 bis Oktober 2000 und ab Januar 2001 bis April 2004 zu bewilligen.

8

1. Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. [X.] haben [X.] [X.]taatsangehörige, die seit wenigstens sechs Monaten in der [X.] wohnen, wie [X.] [X.]taatsangehörige einen Anspruch auf Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 E[X.]tG. Obwohl sie nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer sind, gelten für sie aufgrund des [X.] die Einschränkungen des § 62 Abs. 2 E[X.]tG nicht.

9

Nach dem Urteil des [X.]enats vom 17. Juni 2010 [X.]/09 ([X.], 337)  (nachzulesen unter [X.]) ist der Begriff "Wohnen" in Art. 2 Abs. 1 Buchst. [X.] nicht einschränkend in dem [X.]inn auszulegen, dass nur der Aufenthalt in einer eigenen Wohnung zu Leistungen berechtigt. Vielmehr umfasst der Begriff "Wohnen" auch den Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft. Auch nach der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 2009 --DA-FamE[X.]tG 2009-- (B[X.]tBl I 2009, 1033) 62.4.3 Abs. 3 [X.]atz 6 folgt aus dem [X.] nach einem sechsmonatigen Aufenthalt im [X.] ein Anspruch auf Kindergeld für [X.] [X.]taatsangehörige (so bereits Verfügung vom 13. Juni 2007 zur Änderung der DA-FamE[X.]tG 2004, B[X.]tBl I 2007, 489, 492).

2. Die Klägerin hat seit 1989 in der [X.] ihren gewöhnlichen Aufenthalt i.[X.]. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 E[X.]tG; [X.] ist in der [X.] geboren und hält sich bei der Klägerin auf. Nach § 9 [X.]atz 2 [X.] ist als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich der [X.] stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen. Aufgrund der unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung des § 9 [X.]atz 2 [X.] (vgl. [X.]enatsurteil vom 11. [X.]eptember 1987 [X.], [X.], 46, B[X.]tBl II 1988, 14) kommt es nicht darauf an, ob in einem Übergangswohnheim ein gewöhnlicher Aufenthalt i.[X.]. des § 30 Abs. 3 des Ersten Buches [X.]ozialgesetzbuch begründet werden kann (bejahend Urteil des [X.] vom 18. März 1999  5 C 11/98, [X.], [X.]ammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des [X.], 436.0, § 107 B[X.]HG Nr. 1; ablehnend für die Dauer des Asylverfahrens noch Urteil des [X.] vom 31. Januar 1980  8b [X.] 4/79, B[X.]GE 49, 254).

Die Entscheidung des [X.], der Festsetzung von Kindergeld für die [X.] vor November 2000 stehe nicht die Bestandskraft der [X.] vom 30. April 1998 und 17. Oktober 2000 entgegen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Meta

III R 77/08

15.07.2010

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 15. August 2008, Az: 18 K 1548/06 Kg, Urteil

§ 9 S 2 AO, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 1997, Art 2 Abs 1 Buchst d KV/UVEuVorlAbk, § 30 Abs 3 SGB 1

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.07.2010, Az. III R 77/08 (REWIS RS 2010, 4779)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4779

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