Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.11.2021, Az. EnVR 69/21

Kartellsenat | REWIS RS 2021, 776

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Energiewirtschaftsrechtliche Verwaltungssache: Antrag auf Erlass einer prozessualen Zwischenverfügung zur erneuten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde eines Anbieters von Kraftwerkskapazitäten auf dem Regelarbeitsmarkt gegen eine Entscheidung der Bundesnetzagentur über die Herabsetzung der ursprünglich genehmigten Preisobergrenze für Regelarbeitsgebote


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer prozessualen Zwischenverfügung wird abgelehnt.

Gründe

1

A. Die Antragstellerin bietet [X.] ihrer Schwestergesellschaft und Dritter unter anderem auf dem [X.] an. Sie wendet sich gegen eine Entscheidung der [X.], mit der diese die ursprünglich genehmigte Preisobergrenze für [X.] herabgesetzt hat.

2

Die [X.] Übertragungsnetzbetreiber haben gemäß Art. 18 der Verordnung ([X.]) 2017/2195 vom 23. November 2017 zur Festlegung einer Leitlinie über den Systemausgleich im Elektrizitätsversorgungssystem (nachfolgend: [X.]) 2017 einen Vorschlag für einen nationalen [X.] (nachfolgend: [X.]) unterbreitet. Die [X.] wurden nach Konsultationen von der [X.] genehmigt. Ihnen liegt ein Modell der freien Preisbildung nach dem [X.] zugrunde. Ziffer 38 Abs. 4 (i) der [X.] sah in der von der [X.] mit Beschluss vom 2. Oktober 2019 ([X.]-18-004-RAM) genehmigten Fassung vor, dass das Angebot des [X.] einen Arbeitspreis bis zur Höhe der technischen Preisobergrenze von 99.999 €/MWh enthält.

3

Der [X.] begann am 2. November 2020. In dem Zeitraum bis zum 16. Dezember 2020 kam es zu hohen Preisniveaus für [X.]. An 33 Tagen wiesen mindestens ein Drittel der bezuschlagten [X.] einen Arbeitspreis über 9.999 €/MWh aus. Am 2. Dezember 2020 kam es in dem [X.] von 10:30 Uhr bis 10:45 Uhr zu einem Abruf von [X.] von 1.357 MW, wobei das höchste abgerufene Gebot bei 61.141,16 €/MWh lag und der mittlere bezuschlagte Arbeitspreis 33.874,70 €/MWh betrug.

4

Mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 (nachfolgend: Beschluss) änderte die [X.] die Regelung des § 38 Abs. 4 (i) [X.] dahin, dass die ursprünglich genehmigte Preisgrenze für [X.] auf 9.999,99 €/MWh herabgesetzt wurde. In einer Telefonkonferenz am 15. Dezember 2020 waren die Übertragungsnetzbetreiber zu der beabsichtigten Absenkung der Preisgrenze angehört worden.

5

Die Antragstellerin hat Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt. Sie macht geltend, dieser sei ohne Rechtsgrundlage und in einem Verfahren ergangen, das die in der [X.] und im [X.] vorgesehenen Verfahrensregeln missachtet habe. Nachdem im Beschwerdeverfahren am 3. November 2021 mündlich verhandelt worden war, hat das Beschwerdegericht auf einen Antrag der Antragstellerin vom 8. November 2021 am 18. November 2021 die aufschiebende Wirkung der Beschwerde angeordnet, befristet bis zur Anhängigkeit eines Rechtsmittelverfahrens vor dem [X.]. Mit Beschluss vom 24. November 2021 hat das Beschwerdegericht die streitgegenständliche Entscheidung aufgehoben. Die [X.] hat am gleichen Tag die zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt. Die Antragstellerin beantragt, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen den Beschluss (erneut) anzuordnen und eine solche Anordnung zudem auch im Wege einer prozessualen Zwischenverfügung bis zur Entscheidung über den Eilantrag zu treffen.

6

B. Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer prozessualen Zwischenverfügung hat keinen Erfolg.

7

I. Ob eine Zwischenentscheidung erforderlich ist, weil zu befürchten ist, dass bis zur abschließenden gerichtlichen Eilentscheidung unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) vollendete Tatsachen geschaffen werden, ist im Wege einer Interessenabwägung zu ermitteln. Der Erlass einer Zwischenverfügung ist, wenn keine anderen überwiegenden Interessen eine sofortige Vollziehung des im Eilverfahren angegriffenen Bescheids erfordern, zulässig und geboten, wenn der Eilantrag nicht von vornherein offensichtlich aussichtslos ist und ohne die befristete Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gefährdet wäre, weil irreversible Zustände oder schwere und unabwendbare Nachteile einzutreten drohen (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Oktober 2013 - 1 BvR 2616/13, NVwZ 2014, 363 Rn. 7; [X.], Beschluss vom 20. August 2012 - 7 VR 7/12, juris Rn. 2; [X.], Beschluss vom 14. Oktober 2019 - 9 S 2643/19, juris Rn. 6 mwN; [X.], Beschluss vom 7. Oktober 2014 - 8 B 1686/14, NVwZ 2015, 447 Rn. 15).

8

II. Nach diesem Maßstab liegen die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten Zwischenverfügung nicht vor.

9

1. Es lässt sich nicht feststellen, dass der vorläufige Rechtsschutzantrag der Antragstellerin offensichtlich unzulässig oder unbegründet wäre.

a) Der Antrag ist zulässig. Für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist gemäß § 88 Abs. 5, § 77 Abs. 3 und 4 [X.] in Verbindung mit § 80 Abs. 5 VwGO der [X.] zuständig. Zwar wird in § 88 Abs. 5 [X.] nicht ausdrücklich auf § 77 Abs. 3 und 4 [X.] Bezug genommen. Die Verweisung kann § 88 Abs. 5 [X.] aber entsprechend dem Rechtsgedanken des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, wonach für einen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung das Gericht der Hauptsache zuständig ist, entnommen werden (vgl. [X.] in [X.], Energierecht, § 77 [X.] Rn. 58 [Stand: April 2021]; [X.] in [X.]/[X.]/Hermes, [X.], 3. Aufl., § 77 Rn. 11; [X.]/Roesen in Säcker, [X.] Kommentar zum Energierecht, 4. Aufl., § 77 Rn. 17; zum Kartellverwaltungsverfahren: [X.], Beschluss vom 8. Dezember 1998 - KVR 23/98, [X.]/[X.] [juris Rn. 5] - Tariftreueerklärung; [X.] in [X.]/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl., § 76 GWB Rn. 13; [X.] in [X.] Wettbewerbsrecht, 3. Aufl., § 74 GWB Rn. 5).

b) Der Antrag ist nicht offensichtlich unbegründet. Insbesondere im Hinblick auf die den Bescheid aufhebende Entscheidung des [X.] sind die Erfolgsaussichten vielmehr derzeit offen.

2. Die nach den genannten Maßstäben vorzunehmende Interessenabwägung geht jedoch zu Lasten der Antragstellerin aus.

a) Die Antragstellerin macht geltend, eine prozessuale Zwischenentscheidung sei erforderlich, damit es nicht binnen weniger Tage zu einer erneuten Änderung der Preisgrenzen im [X.] komme. Die Suspendierung der von der Antragsgegnerin verfügten Preisgrenze sei von den Übertragungsnetzbetreibern bereits im Markt kommuniziert worden. Die Übertragungsnetzbetreiber und Marktbeteiligten stellten sich auf diese Änderung ein. Es sei nicht nur für einen effektiven Rechtsschutz der Antragstellerin erforderlich, sondern auch für die Übertragungsnetzbetreiber und andere Marktbeteiligte wichtig, dass es zwischenzeitlich nicht zu einer erneuten Absenkung der [X.] komme.

Das greift aus tatsächlichen Gründen nicht durch. Die [X.] hat auf die Veröffentlichung der betroffenen Übertragungsnetzbetreiber vom 25. November 2021 hingewiesen, wonach die aufschiebende Wirkung der Rechtsmittel nach Einlegung der Rechtsbeschwerde wieder entfallen sei und die technische Preisobergrenze für Regelarbeit in Höhe von 9.999,99 €/MWh weiter zur Anwendung komme (https://www.regelleistung.net). Es trifft folglich nicht zu, dass sich die Marktbeteiligten auf die Änderung einstellen und die Gefahr besteht, dass es binnen weniger Tage erneut zu einer Änderung der Preisgrenzen kommen werde. Die Marktteilnehmer gehen vielmehr - wie während des bisherigen Verfahrens auch - davon aus, dass die Preisobergrenze 9.999,99 €/MWh beträgt.

b) Soweit die Antragstellerin zur Begründung ihres Antrags auf Erlass einer prozessualen Zwischenverfügung ferner vorträgt, diese sei für einen effektiven Rechtsschutz erforderlich und die weitere Vollziehung des Beschlusses stelle eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte im Sinne von § 77 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 [X.] dar, führt die insoweit gebotene Interessenabwägung nicht zum Erlass der begehrten Zwischenverfügung, weil andere überwiegende Interessen die weitere Vollziehung des Bescheids erfordern und die Interessen der Antragstellerin nach der gebotenen Gesamtabwägung dahinter zurücktreten.

aa) Die Antragstellerin macht geltend, die Folgen der verfügten Preisgrenze könnten angesichts der Funktionsweise des [X.]s im Nachhinein nicht beseitigt werden. Aufgrund des aktuell hohen Strompreisniveaus und der erheblichen Volatilitäten gerade auch im [X.] seien die Opportunitätskosten für die Teilnahme am [X.] nochmals gestiegen. Die aktuelle Preisgrenze beschränke eine freie und kostenbasierte Preisbildung daher mehr denn je. So betrage die Abrufwahrscheinlichkeit von 1.300 MW nur 0,13%. Bei dieser geringen Abrufwahrscheinlichkeit beliefen sich die Opportunitätskosten auf das 775fache des [X.], was schon bei einem [X.] von nur 50 €/MWh einen [X.] von 38.775 €/MWh ergebe. Die [X.]e lägen jedoch nicht selten über 100 €/MWh.

bb) Die [X.] hat das Absenken der Preisgrenze damit begründet, dass es angesichts des unerwartet geringen Angebots und der hohen Anbieterkonzentration auf dem [X.] entgegen der bei seiner Einführung bestehenden Erwartung nicht zu sinkenden, sondern zu sehr hohen Arbeitspreisen gekommen sei, die dauerhaft und bei unkritischen Systemzuständen zu beobachten seien. Dabei seien insbesondere die Anbieter mit den größten Marktanteilen in erheblichem Umfang für die hohen Preise verantwortlich. Durch die sehr hohen Arbeitspreise komme es zu höchsten finanziellen Risiken für die [X.], die existenzbedrohend sein könnten. Gerade bei volatiler Einspeisung ließen sich [X.] auch bei bester Prognose nicht völlig vermeiden. Sei aber der Direktvermarkter selbst bei geringen Fehlprognosen höchsten Ausgleichsenergiepreisen ausgesetzt, werde er diese Risiken auf Dauer an seine Vertragspartner weitergeben müssen. Durch höhere Direktvermarktungskosten verringere sich die Wirtschaftlichkeit von bestehenden erneuerbaren Energieanlagen und verteuere sich der weitere Ausbau erneuerbarer Energien. Gleiches gelte für Bilanzkreise, über die physikalische Letztverbraucherentnahmen abgewickelt würden. Auch hier müssten die Ausgleichsenergiepreisrisiken an die Endkunden weitergegeben werden. Demgegenüber führe die Preisobergrenze von 9.999 €/MWh nicht zu einer unangemessenen Belastung der Regelreserveanbieter. Der Beschlusskammer lägen keine Erkenntnisse dafür vor, dass dies nicht auskömmlich sei.

cc) Bei der Interessenabwägung ist zunächst zu berücksichtigen, dass die weitere Vollziehung des Beschlusses insoweit irreversible Zustände schafft, als die Preisobergrenze weiterhin bis zu einer Entscheidung über den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung Geltung hat und die Antragstellerin angesichts der Funktionsweise des [X.]s Gewinne, die sie bei einer höheren Preisobergrenze realisieren könnte, daher nicht erwirtschaften kann. Andererseits treten aber auch die Risiken und Nachteile, die die [X.] insbesondere für die [X.], aber auch für das Ziel einer preisgünstigen, effizienten und umweltverträglichen Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität (§ 1 Abs. 1 [X.]) festgestellt hat, ebenso irreversibel wieder ein, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde angeordnet wird.

dd) Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin bisher weder dargelegt noch glaubhaft gemacht hat, dass die ihr entstehenden Nachteile höher zu gewichten seien als diejenigen, die der Allgemeinheit und den anderen Marktteilnehmern entstehen. Sie hat vielmehr erst am 8. November 2021 und damit nach der mündlichen Verhandlung vor dem Beschwerdegericht einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Diese ist vom Beschwerdegericht auf der Grundlage von § 77 Abs. 3 Satz 4 in Verbindung mit Satz 1 Nr. 2 [X.] wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung, nicht aber wegen des Vorliegens einer unbilligen Härte angeordnet worden. Soweit die Antragstellerin nunmehr vorträgt, aufgrund des aktuell hohen Strompreisniveaus und der erheblichen Volatilitäten gerade auch im [X.] seien die Opportunitätskosten für die Teilnahme am [X.] nochmals gestiegen, ergibt sich daraus schon nicht, in welchem Maße sie dadurch belastet wird. Dem Vortrag lässt sich insbesondere nicht entnehmen, dass die Annahme der [X.], die festgelegte Preisgrenze führe nicht zu einer unangemessenen Belastung der Regelreserveanbieter und sei nach wie vor auskömmlich, nicht mehr zutrifft. Angesichts des Fehlens schwerer Nachteile gibt für die gebotene Interessenabwägung den Ausschlag, dass der Gesetzgeber der Beschwerde gemäß § 76 Abs. 1 [X.] keine aufschiebende Wirkung beimisst (vgl. [X.], Beschluss vom 12. November 2020 - 4 VR 6.20, BeckRS 2020, 31888 Rn. 6).

[X.]     

        

[X.]     

        

Tolkmitt

        

Rombach     

        

Vogt-Beheim     

      

Meta

EnVR 69/21

29.11.2021

Bundesgerichtshof Kartellsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

vorgehend OLG Düsseldorf, 24. November 2021, Az: VI-3 Kart 49/21 (V)

Art 19 Abs 4 GG, Art 76 EnWG, Art 77 Abs 3 S 1 Nr 3 EnWG, Art 77 Abs 4 EnWG, § 88 Abs 5 EnWG, § 80 Abs 5 S 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.11.2021, Az. EnVR 69/21 (REWIS RS 2021, 776)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 776

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

EnVR 69/21 (Bundesgerichtshof)

Systemausgleich im Elektrizitätsversorgungssystem: Änderung der genehmigten Modalitäten für Regelreserveanbieter durch die Bundesnetzagentur


3 Kart 49/21 (Oberlandesgericht Düsseldorf)


3 Kart 49/21 (Oberlandesgericht Düsseldorf)


3 Kart 806/18 (V) (Oberlandesgericht Düsseldorf)


3 Kart 806/18 (V) (Oberlandesgericht Düsseldorf)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvR 2616/13

9 S 2643/19

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.