Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.05.2022, Az. III R 32/20

3. Senat | REWIS RS 2022, 4600

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Gegenstand

Anspruch auf Kindergeld in den Wohnsitz-Wohnsitz-Fällen


Leitsatz

NV: Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 25.04.2019 - 6 K 1720/17 (Kg) wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist der Anspruch auf Kindergeld für die Monate Januar 2014, Februar 2015 und Januar 2016.

2

Der aus der [X.] ([X.]) stammende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hatte in [X.] ein Gewerbe als selbstständiger Eisenflechter angemeldet. Er lebte in den Zeiten, in denen er in der [X.] ([X.]) seiner Erwerbstätigkeit nachging, in einer angemieteten Wohnung in [X.], ansonsten bei seiner in [X.] wohnhaften Familie. Der Kläger und seine nicht erwerbstätige Ehefrau haben vier Kinder, die in den streitigen Monaten noch minderjährig waren. Für die [X.] und 2016 wurden der Kläger und seine Ehefrau gemeinsam nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.

3

Der Kläger bezog für die Kinder Kindergeld. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) hob die Festsetzung durch Bescheid vom 29.09.2017 für vier einzelne Monate auf, da der Kläger nicht nachweisen konnte, dass er in diesen Zeiten in [X.] erwerbstätig war. Dagegen wandte sich der Kläger ohne Erfolg mit Einspruch. Im anschließenden Klageverfahren beschränkte er sein Begehren auf die Monate Januar 2014, Februar 2015 und Januar 2016. Er trug vor, er sei in diesen Monaten durchaus einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Er habe Termine bei seinem Steuerberater wahrgenommen und mit planerischen Überlegungen sein Gewerbe betrieben.

4

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage statt. Es war angesichts der vom Kläger vorgelegten Nachweise davon überzeugt, dass dieser auch in den streitigen Monaten in [X.] einen Wohnsitz hatte (§ 8 der Abgabenordnung --AO--). Die unzutreffende Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG durch das Finanzamt ([X.]) hatte nach Ansicht des [X.] kindergeldrechtlich keine Bindungswirkung. In den fraglichen Monaten sei der Kläger in [X.] keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Ein Anspruch auf Familienleistungen nach [X.] Recht bestehe wegen des Überschreitens der Einkommensgrenze nicht.

5

Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse vor, das [X.] habe die § 62 und § 65 EStG sowie die Art. 11 und Art. 68 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des [X.] ([X.] 2004 Nr. [X.] 166, S. 1) --VO Nr. 883/2004-- unzutreffend ausgelegt. Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] 883/2004 komme auch dann zur Anwendung, wenn im anderen Mitgliedstaat der [X.] ([X.]) kein Anspruch auf Familienleistungen bestehe.

6

Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

8

Die Revision der Familienkasse ist unbegründet und wird deshalb zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zutreffend einen Anspruch des [X.] auf Kindergeld nach [X.] Recht für die streitigen Monate bejaht.

9

1. Der im Inland wohnende Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für seine in [X.] lebenden Kinder, die in den streitigen Zeiträumen noch minderjährig waren.

a) Der Kläger hatte nach den Feststellungen des [X.] in den streitigen Monaten in [X.] einen Wohnsitz (§ 8 AO). Der Umstand, dass er und seine Ehefrau antragsgemäß --zu [X.] für die [X.] und 2016 vom [X.] nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurden, steht der Annahme eines inländischen Wohnsitzes nicht entgegen. Das [X.] hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Behandlung durch das [X.] nach § 1 Abs. 3 EStG für die Familienkasse insoweit bindend ist, als es um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG geht, nicht aber, soweit das [X.] fälschlich davon ausgegangen ist, dass der Anspruchsberechtigte im Inland keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat (vgl. Senatsurteil vom 24.05.2012 - III R 14/10, [X.], 239, [X.], 897). Der Anspruch des [X.] auf Kindergeld für die Monate Februar 2015 und Januar 2016 beruhte somit sowohl auf § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 als auch auf Nr. 2 Buchst. b EStG.

b) [X.] leben im gemeinsamen Haushalt des [X.] und seiner Ehefrau in [X.], einem EU-Mitgliedstaat.

2. Der Anspruch des [X.] auf Gewährung von Kindergeld ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] 883/2004 ausgeschlossen.

a) Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist eröffnet, denn der Kläger fällt als Staatsangehöriger eines [X.] nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung. Das Kindergeld nach dem EStG ist eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist (Senatsurteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, [X.], 98, [X.], 1237).

b) Der Kläger unterliegt gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der [X.] 883/2004 den Rechtsvorschriften [X.]s. Er übte nach den Feststellungen des [X.] in den streitigen Monaten keine Erwerbstätigkeit aus (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] 883/2004) und bezog als Selbstständiger keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c der [X.] 883/2004). Die Ehefrau des [X.] und Kindsmutter unterlag aufgrund ihres Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats [X.], da auch sie in den streitigen Monaten keiner Erwerbstätigkeit nachging.

c) Wird der Anspruch im anderen Mitgliedstaat ebenfalls durch den Wohnort ausgelöst und ist dieser Mitgliedstaat --wie im Streitfall der Mitgliedstaat [X.]-- zugleich der Wohnort der Kinder, ist der Kindergeldanspruch in [X.] nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii der [X.] 883/2004 nachrangig. Im Falle der Nachrangigkeit des [X.] wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der [X.] 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der nachrangig zuständige Staat hat nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der [X.] 883/2004 einen etwaigen Differenzbetrag zu gewähren, allerdings nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] 883/2004 nicht für die in einem Mitgliedstaat wohnenden Kinder, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (Senatsurteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, [X.], 214, [X.] 2018, 717, Rz 28 f.).

d) Hierzu hat der Senat in den Urteilen vom 18.02.2021 - III R 27/19 ([X.], 60, [X.] 2022, 183) sowie [X.] ([X.]NV 2021, 942) und vom [X.] ([X.], 536, [X.] 2022, 186) entschieden, dass die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] 883/2004 nur dann anwendbar ist, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche bestehen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 der [X.] 883/2004. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat ergänzend auf die genannten Entscheidungen.

e) Im Streitfall hat nach den bindenden Feststellungen des [X.] (§ 118 Abs. 2 [X.]O) weder der Kläger noch die Kindsmutter einen Anspruch auf [X.] Familienleistungen, sodass keine Ansprüche auf Familienleistungen in verschiedenen Mitgliedstaaten zu koordinieren sind. Es verbleibt bei der Anspruchsberechtigung des [X.] nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG.

3. [X.] folgt aus § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 32/20

19.05.2022

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 25. April 2019, Az: 6 K 1720/17 (Kg), Urteil

§ 62 Abs 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 32 EStG 2009, Art 68 Abs 2 S 3 EGV 883/2004, § 8 AO, EStG VZ 2014, EStG VZ 2015, EStG VZ 2014

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.05.2022, Az. III R 32/20 (REWIS RS 2022, 4600)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 4600

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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