Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.12.2022, Az. 4 StR 178/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2022, 9915

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 10. Dezember 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) in den Fällen II. 1. b) [X.]) bis cc) der Urteilsgründe,

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und fünf Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

2

Das [X.] hat – soweit hier von Belang – im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. [X.]r Angeklagte zog im Jahr 1994 zu seiner Lebensgefährtin, der Zeugin D.     , in eine Doppelhaushälfte in [X.]    , in der sie mit ihren Töchtern, der am 10. [X.]zember 1985 geborenen      [X.](im Folgenden: Zeugin [X.]), der am 22. April 1987 geborenen     B.     (im Folgenden: Nebenklägerin B.     ) und der am 21. Februar 1990 geborenen       [X.].    (im Folgenden: Nebenklägerin [X.].    ) lebte. Am 1. Juli 1996 wurde eine gemeinsame Tochter geboren. Während der berufsbedingten Abwesenheiten der Zeugin [X.].    in den Abendstunden und an den Wochenenden betreute der arbeitslose Angeklagte die Töchter. Dabei kam es zu nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten zwischen dem 1. Februar 1999 und dem Auszug des [X.] zu folgenden Vorfällen:

4

a) An einem Abend betrat der Angeklagte [X.] der damals mindestens acht und höchstens zwölf Jahre alten Nebenklägerin [X.].    , die im Bett lag, aber noch nicht schlief. [X.]r nur mit einer kurzen Hose bekleidete Angeklagte setzte sich auf den Boden neben das Bett und berührte die Nebenklägerin unter ihrem Schlafanzug am Körper, entblößte den Genitalbereich des Kindes und streichelte es an der Scheide; dabei führte er einen Finger in die Vagina des Kindes ein und manipulierte dabei an seinem Penis (Fall [X.]) [X.]) der Urteilsgründe).

5

b) An einem weiteren Abend begab sich der Angeklagte erneut in [X.] der Nebenklägerin [X.].    und führte die gleichen sexuellen Handlungen aus, wobei er das Kind zusätzlich mit dem Mund im Vaginalbereich „stimulierte“; aufgrund seiner Bartstoppeln führte dies zu einer Hautreizung und Schmerzen (Fall [X.]) [X.]) der Urteilsgründe).

6

c) An einem weiteren Abend, jedenfalls vor dem 14. Geburtstag der damals mindestens elfjährigen Nebenklägerin B.     , begab sich der Angeklagte in das zu diesem Zeitpunkt von ihr gemeinsam mit der Zeugin [X.] bewohnte Zimmer. Er ging zum Bett der Nebenklägerin, kniete dort nieder und beabsichtigte, sie im Bereich ihrer Scheide zu berühren. Die Nebenklägerin, der diese Vorgehensweise bereits bekannt war, versuchte dies zu verhindern, indem sie ihre Knie eng zusammenpresste. [X.]r Angeklagte schob die Beine gegen den Widerstand der Nebenklägerin auseinander und berührte sie unter der Hose im Bereich der Scheide, wobei er mit dem Finger in diese eindrang (Fall [X.]) cc) der Urteilsgründe).

7

2. [X.]r Angeklagte hat die Tatbegehung bestritten. Die insoweit sachverständig nicht beratene [X.] hat ihre Überzeugung von seiner Täterschaft auf die Angaben der Nebenklägerinnen [X.].    und B.     sowie der Zeugin [X.] gestützt, die sie als erlebnisbasiert und glaubhaft angesehen hat. Auf der Grundlage ihrer Angaben hat sich das [X.] ‒ über die drei verfahrensgegenständlichen Taten hinaus ‒ von einer Vielzahl weiterer, gleichartiger Übergriffe zu Lasten der beiden Nebenklägerinnen sowie der im Tatzeitraum mindestens 13 und höchstens 17 Jahre alten Zeugin [X.] überzeugt. In Anwendung des Zweifelssatzes ist das [X.] von mindestens zehn weiteren Übergriffen auf jedes der drei Mädchen ausgegangen, die sich über den gesamten Tatzeitraum erstreckten. Bei der Bemessung der Einzelstrafen hat das [X.] „deutlich zu Lasten des Angeklagten“ berücksichtigt, dass die konkret angeklagten Taten „nicht die Gesamtheit der damals von ihm begangenen sexuellen Übergriffe darstellen, sondern nur einen Bruchteil“.

II.

8

1. Die auf die Sachrüge gebotene Nachprüfung des Urteils führt zur Aufhebung der Verurteilung in den Fällen [X.]) [X.]) bis cc) der Urteilsgründe. [X.]nn die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung hält auch unter Berücksichtigung des einschränkten revisionsgerichtlichen [X.] (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 29. Januar 2020 – 4 [X.] Rn. 7; [X.] in [X.], 9. Aufl., § 261 Rn. 188; [X.]. [X.]) rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

9

a) In Fällen, in denen – wie hier – „Aussage gegen Aussage“ steht, sind besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung als solche und deren Darstellung in den schriftlichen Urteilsgründen zu stellen. Das Tatgericht ist gehalten, alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, einzubeziehen und in einer Gesamtschau zu würdigen (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 16. [X.]zember 2021 ‒ 3 StR 302/21 Rn. 36; Urteil vom 25. April 2018 – 2 [X.], [X.], 42; Beschluss vom 10. Januar 2017 – 2 StR 235/16 Rn. 16). Diese Beweiskonstellation erfordert eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben des Belastungszeugen, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von [X.], [X.]tailliertheit und Plausibilität der Angaben (vgl. [X.], Urteil vom 13. Oktober 2020 – 1 [X.] Rn. 8; Beschluss vom 19. Mai 2020 ‒ 2 StR 7/20 Rn. 4 [X.]). Die dabei angestellten tragenden Erwägungen sind sodann in den schriftlichen Urteilsgründen so darzulegen, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (vgl. [X.], Beschluss vom 18. März 2021 ‒ 4 StR 480/20 Rn. 3 [X.]).

b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.

[X.]) Es fehlt bereits an einer nachvollziehbaren Darstellung einer Analyse der Aussageinhalte der drei Zeuginnen.

In den Urteilsgründen ist dazu lediglich ausgeführt, dass die „inhaltliche Qualität und [X.]tailliertheit“ der Angaben aller drei Zeuginnen nicht besonders hoch sei und sie lediglich zur Schilderung typischer, wiederkehrender Geschehensabläufe in der Lage gewesen seien; daher sei auch in Betracht zu ziehen, dass alle drei Zeuginnen fähig gewesen wären, ihre Angaben zu erfinden. Unter Berücksichtigung des Zeitablaufs von mindestens 20 Jahren und des Umstands, dass es sich nach den Schilderungen der Zeuginnen um Vorgänge gehandelt haben soll, die sich immer wieder in gleicher Art und Weise wiederholten, sei aber festzustellen, dass die Angaben der drei Zeuginnen „auch nicht vollkommen allgemein“ gehalten seien, sondern eine „durchaus erhebliche Anzahl konkreter Angaben und [X.]tails“ enthielten. Dabei hat das [X.] auf Einzelheiten der Angaben der Nebenklägerin [X.].    und der Zeugin [X.] verwiesen. Eine Inhaltsanalyse im Hinblick auf die Bekundungen der Nebenklägerin B.    kann den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht entnommen werden.

Auf der Grundlage dieser Angaben kann die tatgerichtliche Wertung, die Aussagen aller drei Zeuginnen wiesen einen [X.]taillierungsgrad auf, der als Qualitätsmerkmal auf den Erlebnisbezug ihrer Angaben hindeute, nicht nachvollzogen werden.

[X.]) Auch die vom [X.] vorgenommene [X.]analyse (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 28. April 2022 – 4 [X.] Rn. 8; Beschluss vom 16. März 2022 – 4 StR 30/22 Rn. 6; Beschluss vom 4. April 2017 – 2 [X.], [X.], 551, 552; Beschluss vom 5. April 2016 – 1 StR 53/16 Rn. 3; Beschluss vom 7. Juli 2014 ‒ 2 StR 94/14, [X.], 120) ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Die Urteilsgründe beschränken sich auf die Wiedergabe der Wertung, dass sich inhaltlich „eine sehr hohe [X.] verglichen mit den Angaben der Zeuginnen bei der Polizei“ ergeben habe.

cc) Angesichts der Schwierigkeit der Beweislage vermag der Senat nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesen [X.] beruht. Das Urteil unterliegt daher insoweit bereits auf die Sachrüge hin der Aufhebung. Auf die hierauf bezogene und allein den Strafausspruch zu diesen Taten betreffende Verfahrensrüge einer Verletzung der Hinweispflicht kommt es daher nicht an.

2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Feststellungen im Fall II. 2. b) der Urteilsgründe – der Tat zum Nachteil der Nebenklägerin [X.]          im Jahr 2021 ‒ beruhen auf einer tragfähigen Beweiswürdigung. Zwar hat das [X.] den Umstand, dass „die Zeuginnen [X.], B.     und       [X.].    übereinstimmend sehr ähnliche Handlungen des Angeklagten“ schilderten, als Indiz gewertet und angenommen, dass „der Angeklagte bei [X.].   mit derselben Motivation in der ihm noch gut geläufigen Handlungsweise vorging wie ca. 20 Jahre zuvor“. Das [X.] hat seine Überzeugung aber ersichtlich maßgeblich auf die von ihm und von der aussagepsychologischen Sachverständigen als erlebnisbasiert und glaubhaft erachteten ‒ früheren ‒ Angaben des Kindes gestützt. Bei dieser Sachlage schließt der Senat aus, dass das Urteil im Fall II. 2. b) auf diesem Beweisanzeichen beruht.

III.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass sich das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht eingehender als bisher geschehen mit der Entstehungsgeschichte der Erstangaben der Nebenklägerinnen und einem möglichen Falschaussagemotiv bzw. mit der Hypothese eines Komplotts zu beschäftigen haben wird.

Sollte das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wiederum über die drei verfahrensgegenständlichen Taten hinaus Feststellungen zu weiteren Taten des Angeklagten treffen und diese strafschärfend berücksichtigen wollen, wird es zu beachten haben, dass die Verwertung von Taten, deren Verfolgung ein Verfahrenshindernis entgegensteht, im Rahmen der Strafzumessung voraussetzt, dass diese prozessordnungsgemäß und so bestimmt festgestellt sind, dass ihr wesentlicher Unrechtsgehalt abgeschätzt und eine unzulässige strafschärfende Berücksichtigung eines bloßen Verdachts ausgeschlossen werden kann (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 24. April 2018 ‒ 4 StR 60/18 Rn. 4; Beschluss vom 15. Oktober 2015 – 3 [X.], [X.], 558; Beschluss vom 7. Januar 2015 – 2 [X.], 555; Beschluss vom 20. August 2014 – 3 [X.], [X.], 552, 553; Beschluss vom 7. August 2014 – 3 [X.], [X.], 340; Urteil vom 30. November 1990 – 2 [X.], 182; [X.], StGB, 70. Aufl., § 46 Rn. 41; [X.] in [X.]/[X.], 30. Aufl., § 46 Rn. 33; [X.] in [X.], 13. Aufl., § 46 Rn. 159; [X.]. [X.]). Die Feststellung, dass es „eine Vielzahl weiterer, gleichartiger Übergriffe zu Lasten der beiden Nebenklägerinnen und auch zu Lasten der Zeugin [X.] gegeben“ habe, die sich über den gesamten Tatzeitraum erstreckten, genügt dafür schon deshalb nicht, weil sowohl die Zeugin [X.] als auch die Nebenklägerin B.     im Tatzeitraum die Schutzaltersgrenze der §§ 176 und 176a StGB a.F. überschritten.

Quentin     

  

Bartel     

  

Rommel

  

Messing     

  

Momsen-Pflanz     

  

Meta

4 StR 178/22

21.12.2022

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Arnsberg, 10. Dezember 2021, Az: II-6 KLs 34/20

§ 176 StGB, § 176a StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.12.2022, Az. 4 StR 178/22 (REWIS RS 2022, 9915)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 9915

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

4 StR 299/21 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Anforderungen an die Beweiswürdigung bei Konstellation „Aussage gegen Aussage“


4 StR 37/23 (Bundesgerichtshof)


1 StR 604/17 (Bundesgerichtshof)

Revision im Strafverfahren: Rüge der Ablehnung des Antrags auf Vernehmung eines bereits angehörten Zeugen; Ungeeignetheit …


4 StR 118/21 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Umfang der Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers bei Sexualdelikt


4 StR 622/19 (Bundesgerichtshof)

Teileinstellung durch Gerichtsbeschluss bei mehreren Taten: Beseitigung des Verfahrenshindernisses


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.