Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.04.2017, Az. 2 StR 466/16

2. Strafsenat | REWIS RS 2017, 12483

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Gegenstand

Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Strafverurteilung u.a. wegen sexuellen Kindesmissbrauchs: Notwendige Urteilsfeststellungen zur Ermessensausübung; strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung in Ansehung gesetzlicher Neuregelung; Berücksichtigung statistischer Prognoseelemente


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 3. Juni 2016 im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 21 Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, [X.] kinderpornographischer Schriften in fünf Fällen, davon in vier Fällen tateinheitlich mit Verschaffen kinderpornographischer Schriften, sowie wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Revision des Angeklagten, mit der die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird, führt zur Aufhebung des [X.], im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet.

2

1. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

3

a) Die Urteilsgründe lassen schon nicht erkennen, dass sich das [X.] bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung bewusst war, eine Ermessensentscheidung zu treffen (vgl. [X.], [X.], 438, 439; [X.], Beschluss vom 13. Juni 2012 - 2 [X.]/12).

4

Das [X.] ist zutreffend davon ausgegangen, dass die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegeben sind, hat aber nicht mitgeteilt, auf welche der im Gesetz vorgesehenen Alternativen es die Anordnung der Maßregel gestützt hat. Tatsächlich liegen lediglich die formellen Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 66 Abs. 2 und 3 Satz 1 StGB vor, die die Entscheidung über den [X.] von einer Ermessensentscheidung des Tatrichters abhängig machen. In diesen Fällen müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen das Gericht von seiner Entscheidungsbefugnis in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat. Das Tatgericht muss im Rahmen der Ermessensausübung erkennbar auch diejenigen Umstände erwägen, die gegen die Anordnung der Maßregel sprechen können. Das gilt vor allem im Hinblick auf den gesetzgeberischen Zweck der Vorschrift, dem Tatgericht die Möglichkeit zu geben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des [X.] zum Zeitpunkt der [X.] auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt.

5

Das [X.] hat weder ausdrücklich eine Ermessensentscheidung getroffen, noch kann dem Zusammenhang der Urteilsgründe hinreichend entnommen werden, dass es sich dem ihm bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung eingeräumten Ermessen bewusst war.

6

Es finden sich in den Urteilsgründen zwar Ausführungen zum möglichen Einfluss der zu verbüßenden Freiheitsstrafe sowie zum Lebensalter des Angeklagten, wobei es sich auch um Kriterien handelt, die nach der Rechtsprechung des [X.] im Rahmen der Ermessensentscheidung regelmäßig zu berücksichtigen sind (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], [X.], 270, 272). Diese Ausführungen der [X.] beziehen sich aber ausdrücklich nur auf die Frage, ob unter Berücksichtigung der genannten Umstände schon die Gefährlichkeit des Angeklagten ausgeschlossen werden kann und lassen nicht erkennen, dass die [X.] die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht als zwingend angesehen hat.

7

b) Das [X.] hat in seiner ohnehin wenig aussagekräftigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht bedacht, dass § 66 StGB nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne des Urteils des [X.] vom 4. Mai 2011 ([X.] 128, 326) anzuwenden war. Der Angeklagte hat die Taten, auf die das [X.] die Anordnung der Sicherungsverwahrung gestützt hat, vor dem 31. Mai 2013 (und jedenfalls auch nach dem 31. Dezember 2010) begangen. Nach Art. 316f Abs. 2 Satz 1 [X.] i.V.m. Art. 316e Abs. 1 Satz 1 [X.] ist für in diesen Tatzeitraum fallende Taten § 66 Abs. 2 und 3 StGB i.d.[X.] des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 anwendbar, für den nach der Weitergeltungsanordnung des [X.] in seiner genannten Entscheidung eine strikte, vom Gesetzgeber insoweit übernommene Verhältnismäßigkeitsprüfung gilt ([X.] NJW 2014, 1316). Der [X.] kann - entgegen der Ansicht des [X.] - nicht ausschließen, dass die im Ermessen der [X.] stehende Anordnung der Unterbringung auf diesem Rechtsfehler beruht. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es nach August 2012 (bis zu seiner Inhaftierung im Februar 2015 von einem weniger gewichtigen Übergriff im August 2013 abgesehen) nicht mehr zu Missbrauchshandlungen gekommen ist.

8

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der [X.] darauf hin, dass die Gefährlichkeitsprognose, ggf. unter Einschaltung eines anderen Sachverständigen, noch sorgfältigerer Begründung bedarf. [X.] kommt zwar lediglich ein geringer Beweiswert zu, gleichwohl kann ihnen - auch nicht mit der pauschalen Erwägung, die positiven Faktoren könnten der „dranghaften“ pädophilen Neigung nur wenig entgegensetzen - nahezu jegliche Aussagekraft abgesprochen werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die [X.] an anderer Stelle erwähnt, der Angeklagte habe seit August 2012 Missbrauchshandlungen unterlassen, ohne sich mit den Gründen für die „[X.]“ von den sexuellen Übergriffen zu befassen.

[X.]   

        

   Eschelbach   

        

Zeng   

        

Frau R'in[X.] Dr. Bartel
ist an der Unterschriftsleistung
gehindert.

                          
        

[X.]

        

[X.]   

        

Meta

2 StR 466/16

12.04.2017

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Gießen, 3. Juni 2016, Az: 60 Js 950/14 - 1 KLs

§ 66 Abs 2 StGB vom 22.12.2010, § 66 Abs 3 S 1 StGB vom 22.12.2010, § 176 StGB, § 176a StGB, Art 1 Nr 2 Buchst b SichVNOG, Art 1 Nr 2 Buchst c DBuchst aa SichVNOG, § 261 StPO, § 267 StPO, Art 20 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.04.2017, Az. 2 StR 466/16 (REWIS RS 2017, 12483)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 12483

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Referenzen
Wird zitiert von

4 StR 168/18

2 StR 466/16

3 Ws 308/18

3 Ws 54/18

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