Bundesfinanzhof, Beschluss vom 03.11.2010, Az. II B 55/10

2. Senat | REWIS RS 2010, 1728

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Gegenstand

Entscheidung über zulässige Klage durch Prozessurteil als Verfahrensmangel - Rechtsschutzgewährende Auslegung eines Schreibens als Einspruch


Leitsatz

1. NV: Ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt vor, wenn über eine zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird.

2. NV: Außerprozessuale Verfahrenserklärungen --auch von rechtskundigen Personen-- sind entsprechend § 133 BGB auszulegen. Lässt die Äußerung eines rechtskundig vertretenen Steuerpflichtigen ungewiss, ob er einen Rechtsbehelf einlegen will, so ist die Erklärung im Allgemeinen als Rechtsbehelf zu betrachten, um zugunsten des Steuerpflichtigen den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern.

Tatbestand

1

I. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --[X.]--) setzte gegenüber dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) mit Bescheid vom 9. September 1994 Schenkungsteuer in Höhe von 40.451 DM fest. Dagegen legte der Kläger Einspruch ein und beantragte eine Aussetzung der Vollziehung (AdV), die das [X.] ablehnte. Die nach einer Teilzahlung verbliebene [X.] in Höhe von 29.796 DM wurde zum 4. Juli 1995 mit dem [X.] 1993 verrechnet.

2

Am 26. bzw. 30. Oktober 1995 beantragte der Kläger beim Finanzgericht ([X.]) eine AdV des [X.]. Das [X.] setzte am 27. März 2001 die Vollziehung des [X.] in Höhe von 29.796 DM vom Fälligkeitstag an aus. Dadurch erledigte sich das beim [X.] anhängige AdV-Verfahren.

3

Das Einspruchsverfahren wegen Schenkungsteuer endete mit Ergehen des Änderungsbescheids vom 1. Oktober 2004, in dem die Schenkungsteuer auf 10.655 DM herabgesetzt wurde. Das [X.] von 29.796 DM (15.234,46 €) wurde im Oktober 2004 erstattet.

4

Mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 8. Oktober 2004, das im Betreff den geänderten Schenkungsteuerbescheid vom 1. Oktober 2004 auswies, beantragte der Kläger Prozesszinsen gemäß § 236 der Abgabenordnung ([X.]) für die [X.] vom 30. Oktober 1995 bis zum Erstattungstag im Oktober 2004. Das [X.] lehnte im Schreiben vom 26. Oktober 2004 den Antrag auf Zinsfestsetzung nach § 236 [X.] ab. Eine Rechtsbehelfsbelehrung war nicht beigefügt.

5

Mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 23. November 2004 begehrte der Kläger --unter Hinweis auf den Schenkungsteuerbescheid vom 1. Oktober 2004, seinen Antrag auf Zinsabrechnung vom 8. Oktober 2004 und das Schreiben des [X.] vom 26. Oktober 2004-- eine Zinsfestsetzung für die [X.] vom 1. Juli 1995 bis zum Erstattungstag im Oktober 2004. Zur Begründung führte er unter Darstellung des Sachverhalts aus, dass das [X.] mit der [X.] verrechnet worden sei, obwohl über die Beschwerde gegen die Ablehnung der AdV des [X.] noch nicht entschieden gewesen sei. Das [X.] hätte somit erstattet werden müssen. Da eine Erstattung erst im [X.] erfolgt sei, sei das [X.] auch gemäß § 233a [X.] zu verzinsen. Eine Verzinsung sei jedoch lediglich für die [X.] vom 1. April 1995 bis zum 30. Juni 1995 erfolgt.

6

Das [X.] lehnte den Antrag auf Zinsfestsetzung vom 23. November 2004 im Schreiben vom 3. Mai 2005 ab. Das Schreiben war nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen.

7

Am 28. Juni 2005 beantragte der Kläger unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 23. November 2004 und das Schreiben des [X.] vom 3. Mai 2005 die Verzinsung des [X.]s 1993 von 15.234,46 € (29.796 DM) für die [X.] vom 1. Juli 1995 bis zum Erstattungstag im Oktober 2004. Mit Bescheid vom 21. Juli 2005 lehnte das [X.] die Festsetzung von Zinsen mit der Begründung ab, dass Erstattungszinsen zur Einkommensteuer 1993 nach § 233a [X.] festgesetzt worden seien und eine weiter gehende Zinsfestsetzung nach den Vorschriften der [X.] nicht in Betracht komme. Der Einspruch wurde in der Einspruchsentscheidung vom 19. Januar 2006 als unbegründet zurückgewiesen.

8

Mit der am 26. April 2007 beim [X.] eingegangenen Klage beantragte der Kläger, den Bescheid vom 21. Juli 2005 aufzuheben und das [X.] zu verpflichten, weitere Zinsen in Höhe von 8.426 € festzusetzen. Hilfsweise stellte er den Antrag festzustellen, dass es sich bei den Schreiben des [X.] vom 26. Oktober 2004 und vom 3. Mai 2005 nicht um Verwaltungsakte handelt. Die Klage wurde mangels eines Vorverfahrens als unzulässig abgewiesen. Das [X.] behandelte das Schreiben des [X.] vom 26. Oktober 2004 als [X.] und legte dieses als Verwaltungsakt aus. Demgegenüber wurden weder die Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 23. November 2004 und vom 28. Juni 2005 noch der Einspruch vom 18. August 2005 als Einsprüche gegen den Bescheid vom 26. Oktober 2004 verstanden. Die hilfsweise erhobene Feststellungsklage war nach Auffassung des [X.] ebenfalls unzulässig, weil es insoweit an einem Feststellungsinteresse des Klägers gefehlt habe.

9

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensfehler und Divergenz geltend.

Das [X.] beantragt, die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. [X.] ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat die Klage zu Unrecht durch Prozessurteil abgewiesen statt durch Sachurteil zu entscheiden. Hierin liegt ein Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O).

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] ([X.]) stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O dar, wenn über eine zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (vgl. [X.]-Beschluss vom 29. Juli 2009 [X.]/09, [X.]/NV 2009, 1822). In einem solchen Fall wird zugleich der Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verletzt (vgl. [X.]-Beschluss vom 23. April 2009 [X.]/08, [X.]/NV 2009, 1443, m.w.N.).

2. Im Streitfall hat das [X.] die Klage rechtsfehlerhaft als unzulässig abgewiesen, weil es das Schreiben des Prozessbevollmächtigten des [X.] vom 23. November 2004 unzutreffend nicht als Einspruch gegen das als Ablehnungsbescheid gewertete Schreiben des [X.] vom 26. Oktober 2004 ausgelegt und deshalb entschieden hat, für die Klage fehle es nach § 44 [X.]O an einem Vorverfahren.

a) Das [X.] ist bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, dass [X.] --abweichend vom ausdrücklich gestellten Antrag des [X.]-- nicht der Bescheid des [X.] vom 21. Juli 2005 ist, sondern --entsprechend dem auf die Festsetzung von [X.] (§ 236 [X.]) gerichteten Klageziel des [X.]-- das Schreiben des [X.] vom 26. Oktober 2004, das vom [X.] als verbindliche Ablehnung einer Festsetzung von [X.] ausgelegt wurde. Soweit der Kläger als Verfahrensfehler rügt, das [X.] habe den Sachverhalt entgegen § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O nicht vollständig berücksichtigt, weil im Bescheid vom 21. Juli 2005 eine "weitergehende" Zinsfestsetzung, also auch eine solche nach § 236 [X.] abgelehnt worden sei, kann das Urteil nicht darauf beruhen. Denn der gegen den Bescheid vom 21. Juli 2005 eingelegte Einspruch wurde in der Einspruchsentscheidung vom 19. Januar 2006 zurückgewiesen. Die am 26. April 2007 beim [X.] eingegangene Klage wäre, wenn sie sich gegen diese Einspruchsentscheidung gerichtet hätte, verspätet gewesen (vgl. § 47 Abs. 1 [X.]O) und damit unzulässig. Mit der Einspruchsentscheidung hat das [X.] nach § 367 Abs. 1 [X.] insgesamt über den vom Kläger eingelegten Einspruch vom 18. August 2005 entschieden. Die Möglichkeit, vorab über Teile des Einspruchs zu entscheiden, wurde erst mit Wirkung vom 19. Dezember 2006 eingeführt (vgl. § 367 Abs. 2a [X.] i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2007 vom 13. Dezember 2006, [X.], 2878, [X.], 28). Ein noch offener Einspruch gegen den Bescheid vom 21. Juli 2005 wäre deshalb zum Zeitpunkt der Klageerhebung nicht mehr beim [X.] anhängig gewesen.

Aus diesem Grund ist es nicht zu beanstanden, dass das [X.] als [X.] den Bescheid vom 26. Oktober 2004 angesehen hat.

b) Dem [X.] ist auch darin zu folgen, dass das Schreiben des [X.] vom 26. Oktober 2004 als verbindliche Ablehnung einer Festsetzung von [X.] auszulegen war.

Die Auslegung der öffentlich-rechtlichen Willenserklärung einer Behörde bestimmt sich maßgeblich danach, wie der Adressat nach den ihm bekannten Umständen den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. [X.]-Urteil vom 24. Juni 2008 [X.], [X.]/NV 2008, 1676). Maßgebend ist ein "objektiver Verständnishorizont" (vgl. [X.]-Urteil vom 11. Juli 2006 [X.], [X.]E 214, 18, [X.], 96). Dies gilt auch für die Frage, ob einer Erklärung Regelungscharakter zukommt. Nicht entscheidend ist, was die Finanzbehörde mit ihrer Entscheidung gewollt hat (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 214, 18, [X.], 96, m.w.N.).

Nach dem objektiven Erklärungsinhalt konnte der Kläger das Schreiben des [X.] vom 26. Oktober 2004 dahin verstehen, dass damit sein Antrag auf Festsetzung von [X.] rechtsverbindlich abgelehnt wird. Dies ergibt sich daraus, dass ausdrücklich dem Antrag auf Zinsabrechnung nicht entsprochen und hierfür eine ausführliche Begründung gegeben wurde. Anhaltspunkte dafür, dass das Schreiben vom 26. Oktober 2004 eine lediglich unverbindliche Stellungnahme des [X.] sein könnte, sind nicht ersichtlich. Dem Schreiben war zwar keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung führt aber nur dazu, dass sich die Einspruchsfrist nach § 356 Abs. 2 [X.] verlängert.

c) Entgegen der Auffassung des [X.] ist jedoch das Schreiben des Prozessbevollmächtigten des [X.] vom 23. November 2004 als Einspruch gegen den Bescheid vom 26. Oktober 2004 auszulegen.

Außerprozessuale Verfahrenserklärungen sind entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auszulegen. Dies gilt auch für Erklärungen rechtskundiger Personen (vgl. [X.]-Urteil vom 26. Oktober 2004 [X.], [X.]/NV 2005, 325). Entscheidend ist, wie das [X.] als Erklärungsempfänger den objektiven Erklärungswert des Schreibens verstehen musste. Dabei ist bei auslegungsfähigen Rechtsbehelfen grundsätzlich davon auszugehen, der Steuerpflichtige habe denjenigen Rechtsbehelf einlegen wollen, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft (vgl. [X.]-Urteil in [X.]/NV 2008, 1676). Die unrichtige Bezeichnung des Einspruchs allein schadet nach § 357 Abs. 1 Satz 4 [X.] nicht. Lässt deshalb die Äußerung eines Steuerpflichtigen ungewiss, ob er einen Rechtsbehelf einlegen will, so ist die Erklärung im Allgemeinen als Rechtsbehelf zu betrachten, um zugunsten des Steuerpflichtigen den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern (vgl. [X.]-Urteil in [X.]/NV 2005, 325).

Im Streitfall entspricht es dem Gebot zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. Beschluss des [X.] vom 2. September 2002  1 BvR 476/01, [X.], 835), das Schreiben des Prozessbevollmächtigten des [X.] vom 23. November 2004 als Einspruch auszulegen. Aus der Bezugnahme auf den Schenkungsteuerbescheid vom 1. Oktober 2004, den Antrag auf Zinsabrechnung vom 8. Oktober 2004 und das Schreiben vom 26. Oktober 2004 sowie aus dem Inhalt des Schreibens vom 23. November 2004 wird hinreichend deutlich, dass der Kläger weiterhin Zinsen für die verspätete Auszahlung des Guthabens von 15.234,46 € (29.796 DM) begehrt. Dem Schreiben kann nicht entnommen werden, dass ausschließlich eine Verzinsung gemäß § 233a [X.] beansprucht werden soll. Der Kläger verlangt vielmehr "auch" eine Verzinsung nach § 233a [X.]. Im Zusammenhang mit der Erweiterung des Zinszeitraumes (ab 1. Juli 1995) können die Ausführungen im Schreiben vom 23. November 2004 dahin verstanden werden, dass nach Auffassung des [X.] mehrere Rechtsgrundlagen für den geltend gemachten Zinsanspruch in Frage kommen. Die Auslegung des Schreibens als Einspruch entspricht daher dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung (vgl. hierzu [X.]-Urteil vom 9. November 2005 [X.], [X.]/NV 2006, 750, m.w.N.).

Da das [X.] über diesen Einspruch ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes nicht in angemessener Frist entschieden hat, war die Klage gemäß § 46 Abs. 1 [X.]O abweichend von § 44 [X.]O ohne vorherigen Abschluss des Vorverfahrens zulässig.

3. Der Senat hält es für angebracht, die Vorentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Damit erhält das [X.] die Gelegenheit, bezüglich der streitigen Zinsen eine Sachentscheidung zu treffen.

Meta

II B 55/10

03.11.2010

Bundesfinanzhof 2. Senat

Beschluss

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 15. April 2010, Az: 10 K 22213/07, Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 44 FGO, § 236 AO, § 357 AO, § 367 Abs 1 AO, § 367 Abs 2a AO, § 133 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 03.11.2010, Az. II B 55/10 (REWIS RS 2010, 1728)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 1728

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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