Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.03.2010, Az. 3 StR 69/10

3. Strafsenat | REWIS RS 2010, 7916

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Gegenstand

Sicherungsverwahrung: Zur Feststellung der Hangtätereigenschaft, der Allgemeingefährlichkeit und der Verwendung statistischer Prognoseinstrumente bei der Gefährlichkeitsprognose eines Sexualstraftäters


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 8. Oktober 2009 im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Zugleich hat es die Sicherungsverwahrung angeordnet. Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des Angeklagten mit der allgemeinen Sachbeschwerde. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.

2

Nach den Feststellungen missbrauchte der damals 57 oder 58 Jahre alte Angeklagte zwei Mädchen im Alter von zehn oder elf bzw. von zwölf Jahren, die er im unmittelbaren Wohnumfeld kennengelernt und um die er sich im Einverständnis mit den Eltern als hilfsbereiter Nachbar gekümmert hatte. Er holte die Kinder von der Schule ab, machte Ausflüge mit ihnen und ließ sie in seiner Wohnung das [X.] nutzen. In den Sommerferien 2008 waren die Kinder ständig von morgens bis abends bei ihm. Die Taten beging der Angeklagte "in dem Zeitraum von Anfang Juni bis Ende August 2008". Eine nähere Eingrenzung war der Kammer - von zwei Taten abgesehen, die am 15. und 16. August 2008 stattfanden - nicht möglich.

3

Die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die Strafzumessung - insbesondere die Annahme eines besonders schweren Falles des sexuellen Kindesmissbrauchs (§ 176 Abs. 3 StGB) im Fall II. 2. der [X.]eilsgründe sowie die Verhängung von drei [X.] von einem Jahr, denen jeweils ein Zungenkuss des Angeklagten mit der zehn- oder elfjährigen M. zugrunde liegt - ist angesichts der Gesamtumstände zwar eher streng, verlässt aber den Bereich des Schuldangemessenen noch nicht.

4

Die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann hingegen nicht bestehen bleiben, da das [X.] weder einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch eine auf ihm beruhende zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten tragfähig begründet hat.

5

1. Das Merkmal "Hang" im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des [X.], der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. [X.] ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der [X.] ist und aus innerer Haltlosigkeit [X.] nicht zu widerstehen vermag. Der Hang als "eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Seine Feststellung obliegt - nach sachverständiger Beratung - unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des [X.] und seiner Taten maßgebenden Umstände dem [X.] in eigener Verantwortung ([X.], [X.]. vom 17. Dezember 2009 - 3 StR 399/09 - Rdn. 4).

6

Dem wird das angefochtene [X.]eil nicht gerecht. Es führt - unter pauschaler Bezugnahme auf "gutachterliche Feststellungen" des Sachverständigen - lediglich aus, dass "bei dem Angeklagten die aus [X.] Sicht für einen [X.] sprechenden Risikofaktoren für die Begehung weiterer sexueller Missbrauchstaten von Kindern nach Anzahl und Gewicht (überwiegen). Dieses ließe erwarten, dass der Angeklagte auch weitere im mittleren bis schweren Bereich anzusiedelnde sexuelle Missbrauchstaten begehen wird." Damit ist nicht nur zu besorgen, das [X.] habe unter Verkennung der Kompetenz- und Verantwortungsbereiche die Entscheidung über den Hang dem Sachverständigen überlassen, es fehlt auch an der notwendigen Gesamtwürdigung von Taten und Täterpersönlichkeit. Diese ist mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen, wenn - wie hier - bei Vorliegen der formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB in Ermangelung von symptomatischen Vortaten und neuerlicher Delinquenz trotz erfolgter Strafverbüßung die Tatsachengrundlage besonders schmal ist (vgl. [X.]R StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 1). In die Würdigung wäre hier u. a. einzustellen gewesen, dass der nicht vorbestrafte Angeklagte bislang ein unauffälliges Leben führte und aus mehreren, zum Teil langjährigen Beziehungen mit Frauen insgesamt vier erwachsene Kinder hatte. Zudem handelte es sich um einen äußerst kurzen Tatzeitraum.

7

Sollte das [X.] angenommen haben, eine positive Gefährlichkeitsprognose könne die Feststellung eines Hangs ersetzen, wäre auch dies rechtsfehlerhaft. [X.]eigenschaft und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit sind keine identischen Merkmale. Das Gesetz differenziert zwischen den beiden Begriffen sowohl in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB als auch in § 67 d Abs. 3 StGB. Der Hang ist nur ein wesentliches Kriterium der Prognose. Der Hang als "eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Die Gefährlichkeitsprognose schätzt die Wahrscheinlichkeit dafür ein, ob sich der Täter in Zukunft trotz seines Hanges erheblicher Straftaten enthalten kann oder nicht ([X.]St 50, 188, 196; vgl. auch [X.] StV 2008, 301, 320).

8

2. Auch die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten ist rechtlich zu beanstanden. Hier referiert das [X.], der Sachverständige habe "zum einen eine statistische Bewertung des von dem Angeklagten ausgehenden Risikos nach dem Verfahren '[X.]' durchgeführt. … Auf einer bis 10 reichenden Skala habe der Angeklagte einen [X.] von 7 erreicht. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei der Angeklagte damit in den Bereich 'hohes Risiko' einzustufen, der bei dem [X.] 6 beginne."

9

Zutreffend an diesen Ausführungen ist allein, dass es sich bei dem "[X.]" um eines von mehreren Prognoseinstrumenten zur Vorhersage von Rückfällen bei Sexualdelinquenz handelt(vgl. hierzu [X.], Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose in: [X.] u. a.: Handbuch der Forensischen Psychiatrie Bd. 3 S. 1, 32 ff., 41 ff.; [X.] [X.] 2007, 15, 17), dessen Qualität inzwischen auch durch Studien in [X.] getestet worden ist (vgl. [X.], Forensische Psychiatrie 3. Aufl. S. 248; Rettenberger/Eher [X.] 2006, 352, 358; Noll u. a [X.] 2006, 24, 29; [X.] u. a. [X.] Archiv für Neurologie und Psychiatrie 2009, 284; [X.] u. a. [X.] 2009, 210, 216, 219). Es ist aber bereits nicht ersichtlich, wie der Sachverständige bei dem unbestraften, nahezu 60jährigen Angeklagten, der mehrere langjährige Beziehungen zu Frauen hatte, seine durchweg weiblichen Opfer und deren Familien im nachbarschaftlichen Umfeld seit längerem kannte und bei seinen Taten ohne Gewalt vorging, zur Vergabe von sieben [X.] kommen konnte. Die Feststellungen des [X.]s belegen jedenfalls nur einen Risikopunkt (Item-Nummer 8: Opfer und Täter sind nicht verwandt). Hinzu kommt, dass sich das [X.] darauf beschränkt, ein "hohes Risiko" festzustellen, ohne darzulegen, welche Straftaten in welchem Zeitraum mit welcher Wahrscheinlichkeit von dem Angeklagten zu erwarten sind. Nur so könnte nachprüfbar belegt werden, ob der Angeklagte gefährlich ist.

Zuletzt lässt das [X.] außer Acht, dass mit der Feststellung, der Angeklagte weise bei Anwendung irgendeines statistischen Prognoseinstruments eine bestimmte Anzahl von [X.] auf, nichts Entscheidendes gewonnen ist. Solche Instrumente können für die Prognose zwar Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen [X.] liefern, sind indes nicht in der Lage, eine fundierte Einzelbetrachtung zu ersetzen ([X.] [X.] 2007, 15, 24). Zur individuellen Prognose bedarf es über die Anwendung derartiger Instrumente hinaus zusätzlich einer differenzierten Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen. Denn jedes Instrument kann nur ein Hilfsmittel sein, eines von mehreren Werkzeugen, mit denen sich der Gutachter die Prognosebeurteilung erarbeitet (vgl. auch [X.] u. a. NStZ 2009, 478, 481).

Die weiteren, im [X.]eil wiedergegebenen Erwägungen des Sachverständigen vermögen diese Mängel nicht auszugleichen.

3. Der Senat vermag nicht völlig auszuschließen, dass eine neuerliche Verhandlung doch noch zur Feststellung von Umständen führt, die die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnten. Über den [X.] muss deshalb nochmals entschieden werden. Dabei wird sich die Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen empfehlen.

[X.]                                Hubert

                                Schäfer                                  Mayer

Meta

3 StR 69/10

30.03.2010

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mönchengladbach, 8. Oktober 2009, Az: 32 KLs 8/09 - 601 Js 2370/08, Urteil

§ 66 Abs 1 Nr 3 StGB, § 66 Abs 2 StGB, § 66 Abs 3 S 2 StGB, § 67d Abs 3 StGB, § 176 Abs 3 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.03.2010, Az. 3 StR 69/10 (REWIS RS 2010, 7916)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 7916

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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