Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.09.2023, Az. I R 35/20

1. Senat | REWIS RS 2023, 9079

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Gegenstand

Wegzugsbesteuerung bei einem Wegzug in die Schweiz und Freizügigkeit


Leitsatz

Auch wenn nach unionsrechtlichen Vorgaben in Verbindung mit dem sogenannten Freizügigkeitsabkommen der Europäischen Union und der Schweiz bei einem im Jahr 2011 erfolgten Wegzug in die Schweiz die im Wegzugszeitpunkt entstehende nationale Steuer auf den Vermögenszuwachs (Wegzugsteuer) dauerhaft und zinslos zu stunden ist (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Wächtler vom 26.02.2019 - C-581/17, EU:C:2019:138, Internationales Steuerrecht 2019, 260), hindert dies die Festsetzung der Steuer nicht.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.], [X.], vom 31.08.2020 - 2 K 835/19 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Im Streit steht, ob in Folge des Umzugs des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) von der [X.] ([X.]) in die [X.] die sogenannte [X.] gemäß § 6 des Außensteuergesetzes in der für das [X.] (Streitjahr) geltenden Fassung ([X.]) festgesetzt werden darf.

2

Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und seit 2008 Geschäftsführer der [X.] (GmbH) mit Sitz in der [X.]. An dieser GmbH ist er seit Gründung der [X.] (im Juli 2007) mit einer Stammkapitaleinlage von … [X.] (damit zu 50 %) beteiligt. Im Streitjahr war der Kläger zwar verheiratet, beantragte aber eine getrennte Veranlagung zur Einkommensteuer.

3

Im März 2011 verzog er in die [X.], wo er seitdem wohnhaft ist. Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt --[X.]--) informierte den Kläger, dass es in Folge des Umzugs einen steuerpflichtigen fiktiven Gewinn gemäß § 6 Abs. 1 [X.] in Höhe von … € ansetzen werde. Der Kläger wies darauf hin, dass eine Besteuerung nicht mit dem Abkommen zwischen der [X.] und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der [X.]erischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21.06.1999 ([X.] 2001, 811) --Freizügigkeitsabkommen ([X.])--, in [X.] getreten am [X.] ([X.] 2002, 1692), in Einklang stehe. Die Besteuerung nicht realisierter stiller Reserven sei geeignet, eine Person vom Wegzug in die [X.] abzuhalten. [X.] habe es versäumt, für den Bereich des [X.] eine der Stundungsregelung des § 6 Abs. 5 [X.] entsprechende Regelung vorzusehen. Daher finde die Wegzugsbesteuerung keine Anwendung.

4

Mit Bescheid vom 18.11.2014 setzte das [X.] gegenüber dem Kläger die Einkommensteuer für 2011 in Höhe von … € fest. Bei den Besteuerungsgrundlagen berücksichtigte es unter anderem Einkünfte aus Gewerbebetrieb im Sinne des § 6 [X.] i.V.m. § 17 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (EStG) in Höhe von … €. Mit seinem dagegen erhobenen Einspruch machte der Kläger unter anderem geltend, dass das Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG) fehlerhaft nicht angewendet worden sei.

5

Das [X.] erließ einen Änderungsbescheid, mit dem die Einkommensteuer in Höhe von … € festgesetzt wurde. Die Einkünfte des Klägers gemäß § 6 [X.] i.V.m. § 17 EStG reduzierte das [X.] auf … € (= 60 % von … €). Am 30.01.2015 erging erneut ein Änderungsbescheid mit einer reduzierten Einkommensteuerfestsetzung. Den fiktiven Veräußerungsgewinn berücksichtigte das [X.] nunmehr mit … €.

6

Mit der Einspruchsentscheidung reduzierte das [X.] die Einkommensteuer aus nicht im Streit stehenden Gründen erneut auf nunmehr … €. Im Übrigen wies das [X.] den Rechtsbehelf als unbegründet zurück. Der Kläger zahlte die [X.] während des Verfahrens "vorläufig" und hat keine Stundung mehr beantragt.

7

Im Rahmen des Klageverfahrens richtete das Finanzgericht ([X.]) [X.] ein Vorabentscheidungsersuchen an den [X.] ([X.]), über das dieser mit Urteil Wächtler vom 26.02.2019 - [X.]/17 ([X.]:[X.], Internationales Steuerrecht --IStR-- 2019, 260; im Folgenden: [X.]-Urteil Wächtler) entschieden hat.

8

Das [X.] gab der Klage mit Urteil vom 31.08.2020 - 2 K 835/19 statt (Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2021, 20).

9

Mit seiner Revision macht das [X.] geltend, dass die Festsetzung der [X.] gemäß § 6 [X.] zulässig sei. Über die Frage, ob diese Steuer aus Gründen übernationalen Rechts gestundet werden müsse, sei nicht im Steuerfestsetzungs-, sondern im Steuererhebungsverfahren zu entscheiden.

Das [X.] beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das dem Revisionsverfahren gemäß § 122 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) beigetretene [X.] ([X.]) hat keinen Antrag gestellt. In der Sache unterstützt es das Anliegen des [X.].

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des [X.] ist begründet und führt zur Aufhebung des [X.] und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.]O). Auch wenn auf der Grundlage des im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens ergangenen [X.]-Urteils Wächtler § 6 [X.] geltungserhaltend mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass die [X.] im Rahmen des Steuererhebungsverfahrens dauerhaft und zinslos von Amts wegen zu stunden ist, kann sie im (hier angegriffenen) Einkommensteuerbescheid festgesetzt werden.

1. Nach Maßgabe des nationalen Rechts (§ 6 [X.]) ist die [X.] im Streitfall durch Einkommensteuerbescheid festzusetzen und nicht zu stunden.

Im Streitfall sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] erfüllt. Die unbeschränkte Steuerpflicht des Klägers, der er mehr als zehn Jahre lang im Inland unterlag, endete durch die mit dem Umzug in die [X.] einhergehende Aufgabe des inländischen Wohnsitzes. Deshalb ist auf die von ihm gehaltene Beteiligung an der GmbH auch ohne Veräußerung § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG anzuwenden, was zum Ansatz eines fiktiven Veräußerungsgewinns führt. Eine dauerhafte Stundung der [X.] sieht § 6 [X.] nicht vor. Die in § 6 Abs. 4 [X.] zugestandene zeitlich befristete [X.] hat der Kläger ausdrücklich nicht (mehr) beantragt; vielmehr hat er die festgesetzte [X.] entrichtet, ohne sich auf die in § 6 Abs. 4 [X.] tatbestandlich vorausgesetzte "erhebliche Härte" zu berufen. Im Übrigen kommt eine Stundung nach § 6 Abs. 5 [X.] nur bei einem Wegzug in einen Mitgliedstaat der [X.] oder einen Vertragsstaat des Abkommens über den [X.] in Betracht und ist daher im Streitfall ([X.]) nicht einschlägig. Da über diese Rechtsgrundsätze nach Maßgabe des nationalen Rechts zwischen den Beteiligten im Übrigen kein Streit besteht, sieht der [X.] von näheren Ausführungen ab.

2. Die Vorinstanz hat entschieden, dass das [X.] der Festsetzung der [X.] im angegriffenen Einkommensteuerbescheid entgegenstehe. Auf der Grundlage der im Klageverfahren eingeholten Vorabentscheidung des [X.] ([X.]-Urteil Wächtler) sei der Kläger Selbständiger im Sinne des [X.], womit der persönliche Anwendungsbereich eröffnet sei. Durch die [X.]besteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Einkommensteuer werde der Kläger in seinem dort verbrieften Recht auf Gleichbehandlung und damit seinem Niederlassungsrecht [X.]. I Art. 15 i.V.m. Art. 9 [X.]) verletzt. Im Streitfall sei nicht erst das Leistungsgebot im angegriffenen Steuerbescheid rechtswidrig, sondern bereits die Steuerfestsetzung. Dies folge aus dem Tenor des [X.]-Urteils Wächtler, der das "Steuersystem" bestehend aus Komponenten der Steuerfestsetzung und -erhebung betreffe. Das nationale Recht kenne aber kein System, das die Feststellung der [X.] im [X.]zeitpunkt bei gleichzeitiger dauerhafter Stundung der festgesetzten Steuer vorsehe. Es sei auch nicht möglich, die vom [X.] formulierten übernationalen Vorgaben im Wege der sogenannten geltungserhaltenden Reduktion in die bestehenden nationalen Vorschriften hineinzulesen.

3. Dieser Auffassung des [X.] ist nicht uneingeschränkt zu folgen.

a) Rechtsfehlerfrei hat das [X.] berücksichtigt, dass es im Rahmen der zu treffenden Sachentscheidung selbst --wie im Übrigen darüber hinaus auch die konkret am vorliegenden Rechtsstreit Beteiligten und auch der [X.] ([X.]) als Revisionsgericht (s. insoweit allgemein [X.]-Urteil vom 11.02.2003 - VII R 1/01, [X.]/NV 2003, 1100)-- an die im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Entscheidung des [X.] gebunden ist. Dabei ist der Tenor des [X.]-Urteils Wächtler im Lichte der ihm zugeordneten Entscheidungsgründe auszulegen (s. allgemein [X.]/Hauptzollamt [X.] vom 16.03.1978 - Rs. 135/77, [X.]:[X.]; Kommission/[X.] vom 19.01.1993 - [X.]/91, [X.]:[X.], Rz 14, [X.] 1995, 105; s.a. Ehricke in [X.], [X.]V/A[X.]V, 3. Aufl., Art. 267 A[X.]V Rz 68; [X.]feld/[X.], Steuer und Wirtschaft --StuW-- 2022, 70; [X.] in [X.]/[X.]/[X.] [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in [X.] 1918-2018, Festschrift für den [X.], 2018, S. 895, 906). Für diese Auslegung kommt es nicht darauf an, ob der [X.] in früher ergangenen oder späteren Entscheidungen zu vergleichbaren Sachumständen nach denselben Maßgaben erkannt hat.

b) Gemessen daran kann kein Zweifel bestehen, dass der [X.] in seinem Urteil Wächtler das [X.], aus Regelungen für die Steuerfestsetzung und Regelungen für die Steuererhebung bestehende und insbesondere in § 6 Abs. 1, 4 und 5 [X.] kodifizierte "System" der [X.]besteuerung bei [X.] in die [X.] verworfen hat, weil es das [X.]-Niederlassungsrecht der betroffenen Steuerpflichtigen verletzt. Mithin ist, wie vom [X.] richtig erkannt, eine dauerhafte und zinslose Stundung des gesamten Betrags der festgesetzten [X.] geboten (gleicher Auffassung z.B. [X.], [X.] --[X.]-- 2020, 17; [X.]/[X.], [X.] 2019, 253; [X.] in Hummel/[X.] [Hrsg.], Neue Herausforderungen im [X.], 2022, S. 1, 6 f.; [X.], [X.] 2021, 97, 98 f.; [X.], Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2019, 129; Oellerich, E[X.] 2021, 25; Schlücke, [X.] 2019, 264; [X.], [X.] 2019, 117; s.a. [X.]feld/[X.], [X.], 70, 77 ff.; [X.] Köln, Beschluss vom 11.05.2021 - 2 V 1929/20, juris; a.A. [X.]-Schreiben vom 13.11.2019, [X.], 1212).

aa) Nach dem Tenor des [X.]-Urteils Wächtler sind "Die Bestimmungen des … [[X.]] dahin auszulegen, dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der [X.]erischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die [X.] verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d.h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt."

bb) Nach den zur Auslegung heranzuziehenden Entscheidungsgründen stellt der [X.] mit Blick auf die der Rechtsprüfung des [X.] unterliegenden nationalen Vorschriften zur [X.]besteuerung (§ 6 Abs. 1, 4 und 5 [X.] - s. dort Rz 25) den Umstand einer Ungleichbehandlung fest (dort Rz 56 f.). Denn der Kläger, der sein Niederlassungsrecht ausgeübt habe, erleide einen steuerlichen Nachteil gegenüber Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz in [X.] beibehalten hätten. Denn Letztere müssten die Steuer für latente Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen erst zahlen, wenn diese Wertzuwächse realisiert würden, das heißt bei der Veräußerung der Gesellschaftsanteile, während ein Staatsangehöriger wie der Kläger die fragliche Steuer für die latenten Wertzuwächse solcher Gesellschaftsanteile im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die [X.] zahlen müsse, ohne einen Zahlungsaufschub bis zur Veräußerung der Anteile erhalten zu können. Diese Ungleichbehandlung, die einen Liquiditätsnachteil darstelle, sei geeignet, den Kläger davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gemäß dem [X.] tatsächlich Gebrauch zu machen. Und Rz 60 ist zu entnehmen, dass der [X.] im Hinblick auf das von § 6 [X.] verfolgte Ziel die Vergleichbarkeit zwischen einer Person, die ihren inländischen Wohnsitz beibehält, und einer Person, die von [X.] in die [X.] verzieht, bejaht.

Dass die Ungleichbehandlung durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein könne, wird vom [X.] ausgeschlossen (Rz 67). Dazu stellt der [X.] in Rz 64 zunächst fest, dass die Bestimmung der Höhe der fraglichen Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes in die [X.] zwar eine geeignete Maßnahme sei, um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der [X.] und [X.] sicherzustellen. Dieses Ziel sei jedoch keine Rechtfertigung dafür, dass eine Stundung dieser Steuer unmöglich sei. Denn eine solche Stundung bedeute nicht, dass [X.] zugunsten der [X.] auf ihre Befugnis zur Besteuerung der Wertzuwächse, die während des Zeitraums der unbeschränkten Steuerpflicht des Inhabers der Gesellschaftsanteile in [X.] entstanden seien, verzichte. Da aufgrund des bestehenden Informationsaustauschs [X.] Auskünfte über eine etwaige Veräußerung der Gesellschaftsanteile erhalten könne, sei die fehlende Möglichkeit der Stundung der [X.] eine Maßnahme, die über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels der Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen erforderlich sei (Rz 65).

In Rz 66 qualifiziert der [X.] die alsbaldige Einziehung der [X.] im Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung zwar als geeignete Maßnahme, um eine wirksame Steuererhebung zu gewährleisten. Allerdings sei die Maßnahme unverhältnismäßig. Denn im Falle des Fehlens von Mechanismen der gegenseitigen Unterstützung bei der Beitreibung von Steuerforderungen sei zwar ein Risiko der Nichteinziehung der geschuldeten Steuer gegeben. Jedoch könne in diesem Falle der Aufschub der Einziehung dieser Steuer von der Leistung einer Sicherheit abhängig gemacht werden. Schließlich geht der [X.] in Rz 68 auf eine nationale Steuerregelung ein, bei der es sich offenkundig um § 6 Abs. 4 [X.] handelt. Die dort vorgesehene Möglichkeit der Zahlung der [X.] in Teilbeträgen stehe der in Rz 67 getroffenen Feststellung, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuersystem eine ungerechtfertigte Beschränkung des vom [X.] vorgesehenen Niederlassungsrechts darstellt, nicht entgegen. Denn die Maßnahme der Ratenzahlung sei jedenfalls nicht geeignet, den Liquiditätsnachteil aufzuheben, der mit der Verpflichtung zur Zahlung eines Teils der [X.] im [X.]zeitpunkt einhergehe. Außerdem bleibe diese Maßnahme kostspieliger als eine Maßnahme, die die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung der Anteile vorsähe.

cc) Der [X.] erachtet diese Aussagen des [X.] im Urteil Wächtler als klar und eindeutig. Auch wenn der [X.] in anderen Entscheidungen, die das beigetretene [X.] zur Begründung seiner abweichenden Rechtsauffassung heranzieht, die aber zu anderen Lebenssachverhalten und anderen nationalrechtlichen Bestimmungen ergangen sind, abweichende fallspezifische Rechtsausführungen gemacht haben sollte, stellt das [X.]-Urteil Wächtler die den [X.] "bindende Momentaufnahme" (so allgemein [X.] in [X.]/[X.]/[X.] [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in [X.] 1918-2018, Festschrift für den [X.], 2018, S. 895, 910) hinsichtlich der Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der [X.]besteuerung natürlicher Personen im Anwendungsbereich des [X.] dar. Es besteht wegen der Bindungswirkung (siehe zu a) auch weder Grund noch Anlass für eine (für diesen Rechtsstreit: erneute) Vorlage einer Rechtsfrage an den [X.].

dd) Damit ist, um dem Kläger die Ausübung seines Rechts, sich in der [X.] niederzulassen, zu ermöglichen, eine bis zum Veräußerungszeitpunkt andauernde Stundung der [X.] zulässigerweise festzusetzenden-- gesamten [X.] geboten. Diese Stundung darf gegebenenfalls von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden ([X.]-Urteil Wächtler, Rz 66; s.a. [X.], [X.], 17), nicht aber mit einer Verzinsung einhergehen, weil dies zu einem Liquiditätsnachteil gegenüber einem im Inland verbleibenden Steuerpflichtigen führt, der bis zu einer Veräußerung der Anteile keinen Zahlungspflichten unterliegt (z.B. Oellerich, E[X.] 2021, 25; s.a. [X.]/[X.], [X.] 2019, 253; Schlücke, [X.] 2019, 264; a.A. [X.]-Schreiben vom 13.11.2019, [X.], 1212). Auch insoweit erachtet der [X.] die Aussagen in Rz 57 und 68 des [X.]-Urteils Wächtler für eindeutig und nachvollziehbar. In Rz 68 wird zwar speziell das --nationalrechtlich allerdings mit einer Verzinsung einhergehende-- Teilbetragszahlungskonzept des § 6 Abs. 4 [X.] in den Blick genommen. Allerdings geht mit einer gegebenenfalls viele Jahre andauernden Zinszahlungsverpflichtung ebenfalls ein ganz erheblicher Liquiditätsnachteil einher. Eine verzinsliche Stundung ist im Sinne der Ausführungen unter Rz 68 des [X.]-Urteils Wächtler zweifellos auch deutlich kostspieliger als eine Maßnahme, die schlicht die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung der Gesellschaftsanteile vorsieht.

c) Nicht anschließen kann sich der [X.] allerdings der Meinung des [X.], dass das unter Beachtung der [X.]-Maßgaben Gebotene (dauerhafte, unverzinsliche Stundung) nicht in die nationalen Rechtsvorschriften hineingelesen werden könne, was damit die Rechtswidrigkeit der Festsetzung der [X.] zur Folge habe. Vielmehr führt auch die Verwendung des Begriffs "Steuersystem" im Tenor des [X.]-Urteils Wächtler nicht dazu, dass die Festsetzung der [X.] --wie das [X.] meint-- unzulässig ist.

aa) Das [X.] hat die Reichweite der in ständiger Rechtsprechung bei [X.] zugelassenen sogenannten geltungserhaltenden Reduktion des nationalen Rechts zu eng bestimmt. Denn es geht insoweit um eine Gesetzesanwendung, die den Anwendungsvorrang des unmittelbar geltenden Unionsrechts unter größtmöglicher Wahrung des national-rechtlichen Gesetzesbefehls sicherstellt (vgl. auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.] [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in [X.] 1918-2018, Festschrift für den [X.], 2018, S. 895, 911 ff.). Die [X.] führt danach gerade nicht zu einer vollständigen Unanwendbarkeit oder Nichtigkeit der nationalen Vorschrift. Vielmehr ist dem Anwendungsvorrang des Primärrechts vor nationalem Recht durch das "[X.]" der vom [X.] verbindlich formulierten unionsrechtlichen Erfordernisse in die betroffene Norm Rechnung zu tragen (z.B. [X.]surteile vom 03.02.2010 - I R 21/06, [X.]E 228, 259, [X.], 692; vom 15.01.2015 - I R 69/12, [X.]E 249, 99, m.w.N.). Infolgedessen kann es geboten sein, ein "europarechtswidriges Tatbestandsmerkmal" nicht zu beachten ([X.]-Urteile vom 17.07.2008 - X R 62/04, [X.]E 222, 428, [X.], 976; vom 21.10.2008 - X R 15/08, [X.]/NV 2009, 559) oder einen im nationalen Gesetz nicht vorgesehenen Gegenbeweis zuzulassen (z.B. [X.]surteile vom 21.10.2009 - I R 114/08, [X.]E 227, 64, [X.], 774; vom 03.02.2010 - I R 21/06, [X.]E 228, 259, [X.], 692), im Übrigen aber die Vorschrift in ihrem Bestand zu erhalten.

bb) Nach diesen allgemeinen Maßstäben, die im Schrifttum Zustimmung erfahren haben (z.B. [X.], [X.], 301; Kokott/[X.] in [X.]/[X.]/[X.] [Hrsg.], Steuerrecht im Rechtsstaat, Festschrift für [X.], 2011, S. 279, 293 ff.) und auch im Bereich der Anwendung der [X.]-Maßgaben Anwendung finden, um eine materiell-rechtliche Besserstellung der dortigen Regelungsadressaten im Vergleich zu Unionsrechtsbürgern bei Anwendung der Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] zu verhindern, ist es zulässig, im Zeitpunkt des [X.] in die [X.] die [X.] gemäß § 6 Abs. 1 [X.] festzusetzen (a.A. [X.], [X.] 2021, 97, 101 und 103; wohl auch [X.]feld/[X.], [X.], 70, 93). Damit wird auch ermöglicht, auf den Zeitpunkt des [X.] festzuhalten, auf welchen Anteil des Steuersubstrats das Besteuerungsrecht des [X.]staates entfällt (so [X.] Köln, Beschluss vom 11.05.2021 - 2 V 1929/20, juris, Rz 33). Zugleich ist aber den vom [X.] verbindlich formulierten Vorgaben dadurch Rechnung zu tragen, dass die im nationalen Gesetz nicht vorgesehene zinslose und bis zur Anteilsveräußerung andauernde Stundung von Amts wegen zu gewähren ist, um dem Steuerpflichtigen die Ausübung seines Rechts, sich in der [X.] niederzulassen, zu ermöglichen.

4. Die hiernach vom [X.] geforderte Stundung wird im Streitfall nicht durch die Zahlung der [X.] durch den Kläger ausgeschlossen.

Nach der Rechtsprechung des [X.] geht eine nach Entrichtung der Steuer ausgesprochene Stundung nicht "ins Leere". Eine Stundung kann vielmehr auch für bereits vergangene Zeiträume und auch für bereits gezahlte Steuern gewährt werden ([X.]-Urteile vom 22.04.1988 - III R 269/84, [X.]/NV 1989, 428; vom 08.07.2004 - VII R 55/03, [X.]E 206, 309, [X.] 2005, 7).

Im Übrigen ist über die mit dem Stundungsanspruch verbundenen Fragen nicht im vorliegenden --allein die Steuerfestsetzung betreffenden-- Verfahren, sondern gesondert im Rahmen des [X.] zu entscheiden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

I R 35/20

06.09.2023

Bundesfinanzhof 1. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 14. Juni 2017, Az: 2 K 2413/15, EuGH-Vorlage

§ 6 Abs 1 AStG, § 6 Abs 4 AStG, § 6 Abs 5 AStG, EGFreizügAbk CHE, Art 267 AEUV, § 222 AO, Art 49 AEUV

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.09.2023, Az. I R 35/20 (REWIS RS 2023, 9079)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9079

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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