Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.05.2021, Az. 1 StR 147/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 5738

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Gegenstand

Strafverurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.: Feststellung der Schuldunfähigkeit; strafschärfende Berücksichtigung einer fehlenden Entschuldigung beim Geschädigten und Doppelverwertungsverbot


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 29. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten aufrechterhalten.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und wegen Beleidigung in drei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten unter [X.] im Übrigen verurteilt. Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat es abgelehnt. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s war gegen den Angeklagten bereits zweimal die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Infolge einer verfestigten paranoiden Schizophrenie war zu den damaligen [X.] im August 1997 bzw. November 2004 die Fähigkeit des Angeklagten aufgehoben, das Unrecht der von ihm versuchten Brandstiftungen einzusehen.

3

a) In den hier verfahrensgegenständlichen Fällen sprühte der Angeklagte bei erhaltener Einsichtsfähigkeit, aber im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit ohne Anlass am 31. März 2020 einer Mitarbeiterin der M.    er Straßenreinigung Pfefferspray in die Augen, so dass die Geschädigte unter anderem nur noch schwer atmen konnte und gerötete Augen hatte. Einer auf den Vorfall aufmerksam gewordenen Polizistin versuchte der Angeklagte ebenfalls Pfefferspray ins Gesicht zu sprühen; die Beamtin konnte indes ausweichen. Den flüchtenden Angeklagten hielt ein Passant von hinten fest; diesem sprühte der Angeklagte ebenfalls Pfefferspray ins Gesicht, wodurch dessen Augen stark schmerzten. Zudem erlitt der Passant Schmerzen an der Hüfte und am Rücken durch einen Sturz im Gerangel. In anderen Fällen beleidigte der Angeklagte Mitglieder des [X.] M.       bzw. einen Polizeibeamten.

4

b) Nach der Würdigung des [X.]s, das sich den Ausführungen des bestellten Sachverständigen angeschlossen hat, habe der Angeklagte bei Begehung der Taten zwar nicht unter einem Schub seiner paranoiden Schizophrenie gestanden. Indes habe sich seine Persönlichkeit durch die langjährige psychische Grunderkrankung verändert: Sein Aggressionspotential und seine [X.] hätten sich verfestigt; daher seien seine Affekt- und Impulskontrolle zu den [X.] erheblich eingeschränkt gewesen.

5

c) Von der Anordnung der Maßregel des § 63 StGB hat das [X.] abgesehen: Mit dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen seien künftig keine weiteren Körperverletzungen, sondern nur Beleidigungen zu erwarten, die nicht als ausreichend erheblich einzustufen seien.

6

2. Das Urteil hält sachlichrechtlicher Nachprüfung überwiegend nicht stand.

7

a) Die Ausführungen des [X.]s lassen besorgen, dass es den Unterschied zwischen vollständig aufgehobener (§ 20 StGB) und erheblich verminderter (§ 21 StGB) Steuerungsfähigkeit nicht bedacht hat. Insbesondere in der Strafzumessung wird nämlich mehrfach formuliert, der Angeklagte sei nicht in der Lage gewesen, "sein Verhalten gemäß dieser Einsicht zu steuern"; ʺein Widerstehen der Tatanreizeʺ sei [X.] ihn nicht möglichʺ gewesen ([X.], 35, 38, 41, 45). Dann wäre aber die Steuerungsfähigkeit vollständig aufgehoben (§ 20 StGB) und der Angeklagte von den Anklagevorwürfen freizusprechen gewesen.

8

b) Die Strafzumessung in den vom [X.] als gewichtigsten gewerteten Fällen, der gefährlichen Körperverletzung zu Lasten der Mitarbeiterin der städtischen Reinigung und zu Lasten des Passanten, unterliegt ebenfalls durchgreifenden Bedenken.

9

aa) Im erstgenannten Fall hat das [X.] bei den straferschwerenden Umständen angeführt, der Angeklagte habe sich bei der Geschädigten nicht entschuldigt ([X.]); damit hat es das Nichtvorliegen eines möglichen Strafmilderungsgrundes rechtsfehlerhaft strafschärfend berücksichtigt.

bb) Bei der zu Lasten des Passanten begangenen gefährlichen Körperverletzung hat das [X.] straferschwerend gewertet, der Geschädigte habe sich ʺin einer durch das Gesetz privilegierten Positionʺ befunden ([X.]), als dieser von dem Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO Gebrauch machte. Dies war indes bereits erforderlich, um ein eigenes Notwehrrecht des Angeklagten (§ 32 Abs. 1, 2 StGB) auszuschließen. Damit hat das [X.] in durchgreifend bedenklicher Weise einen Umstand straferschwerend in seine Strafzumessung eingestellt, der nötig war, um eine rechtswidrige Tat festzustellen (vgl. § 46 Abs. 3 StGB).

c) Die aufgezeigten Rechtsfehler betreffen nicht die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, die daher aufrechterhalten bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass einer Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht entgegensteht, dass nur er Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; [X.], Beschlüsse vom 8. Juli 2020 - 3 [X.] Rn. 15 und vom 6. Februar 2019 - 3 [X.] Rn. 20).

Raum     

        

Jäger     

        

Hohoff

        

Leplow     

        

Pernice     

        

Meta

1 StR 147/21

19.05.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 29. Dezember 2020, Az: 111 Js 167342/19 - 12 KLs

§ 20 StGB, § 21 StGB, § 32 StGB, § 46 Abs 3 StGB, § 224 StGB, § 127 Abs 1 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.05.2021, Az. 1 StR 147/21 (REWIS RS 2021, 5738)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5738

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Referenzen
Wird zitiert von

202 StRR 117/21

Zitiert

3 StR 154/20

3 StR 479/18

Zitieren mit Quelle:
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