Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.07.2015, Az. VI R 51/14

6. Senat | REWIS RS 2015, 8535

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Gegenstand

(Änderung von Steuerbescheiden: Neue Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und unlautere Mittel i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO - Definition der "arglistigen Täuschung" - Abweichende rechtliche Würdigung hinsichtlich der lohnsteuerlichen Behandlung einer Einzahlung in eine Direktversicherung)


Leitsatz

Hat der Steuerpflichtige dem FA den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt im Veranlagungsverfahren vollständig offengelegt, handelt er nicht arglistig und bedient sich auch nicht sonstiger unlauterer Mittel i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO, wenn er sich im Einspruchsverfahren weiterhin auf Angaben in der Lohnsteuerbescheinigung bezieht, denen nach Auffassung des FA eine unzutreffende rechtliche Würdigung des Arbeitgebers zugrunde liegt .

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts des [X.] vom 2. Juli 2014  2 K 716/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4. Februar 2009 hätte geändert werden dürfen.

2

Die Kläger und [X.] (Kläger) sind Ehegatten und wurden für das Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin war im Streitjahr vom 1. Januar bis zum 30. Juni bei der [X.] ([X.]) und vom 1. Juli bis zum 31. Dezember bei der Steuerberaterin [X.] ([X.]) beschäftigt. In ihrer gemeinsamen Einkommensteuererklärung erklärten die Kläger in der [X.]nlage N zu den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger [X.]rbeit einen [X.]ruttoarbeitslohn in Höhe von ./. 20.201 € und Entschädigungen in Höhe von 174.034 €. Die [X.]rbeitgeber der Klägerin übermittelten dem [X.]eklagten und Revisionskläger (Finanzamt --F[X.]--) elektronisch für die [X.] vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2007 einen [X.]ruttoarbeitslohn von ./. 26.980,08 € und einen ermäßigt besteuerten [X.]rbeitslohn in Höhe von 174.034,28 € und vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2007 einen [X.]ruttoarbeitslohn in Höhe von 6.920 €.

3

Nachdem das F[X.] die Kläger aufgefordert hatte, Unterlagen zur [X.]erechnung und Zahlungsweise des ermäßigt besteuerten [X.]rbeitslohns der Klägerin und eine [X.]ufstellung einzureichen, aus der sich der negative [X.]ruttoarbeitslohn der Klägerin ergebe, reichten die Kläger mit Schriftsatz vom 23. September 2008 einen [X.]ufhebungsvertrag der Klägerin mit der [X.] vom 6. Juni 2007 ein. Danach sollte die Klägerin aus [X.]nlass der [X.]uflösung des [X.]rbeitsverhältnisses zum 30. Juni 2007 eine [X.]bfindung in Höhe von 174.034,28 € erhalten, von der ein Teilbetrag in Höhe von 50.017 € in eine Direktversicherung für die Klägerin einbezahlt werden sollte. Des Weiteren reichten die Kläger eine [X.]escheinigung der [X.] vom 19. September 2008 mit einer "[X.]ufstellung der bescheinigten Summe in der Lohnsteuerbescheinigung Zeile 3" ein. Danach hatte die [X.] bei der [X.]erechnung des in Zeile 3 der Lohnsteuerbescheinigung eingetragenen [X.]ruttoarbeitslohns die "Einzahlung aus [X.]bfindung in Direktversicherung" in Höhe von 50.017 € als [X.]bzugsposten berücksichtigt und gelangte so zu einem Wert in Höhe von ./. 26.980,08 €.

4

Mit Einkommensteuerbescheid vom 25. November 2008 setzte daraufhin das F[X.] die Einkommensteuer fest. In den Erläuterungen wies das F[X.] darauf hin, dass der [X.]ruttoarbeitslohn der Klägerin 29.956 € betrage. Der [X.]etrag für die Direktversicherung in Höhe von 50.017 € sei nach § 3 Nr. 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerfrei und von der [X.]bfindung abzuziehen, so dass 124.017 € als ermäßigt besteuerter [X.]rbeitslohn zu berücksichtigen seien. Ein [X.]bzug des steuerfreien [X.]etrags vom [X.]ruttoarbeitslohn sei nicht vorzunehmen, da die Zahlungen im Rahmen der [X.]uflösung des Dienstverhältnisses erfolgt und auch von der vereinbarten [X.]bfindung einbehalten worden seien.

5

Dagegen legten die Kläger Einspruch ein, den sie damit begründeten, dass die Klägerin eine [X.]bfindung in Höhe von 174.034,28 € erhalten habe, die nach R 34.1 der [X.] zu berücksichtigen sei. Hierzu reichten sie eine [X.]erechnung der Einkommensteuer, des Solidaritätszuschlags und der Kirchensteuer ein, in der sie für die Klägerin einen [X.]ruttoarbeitslohn in Höhe von ./. 20.061 € und einen ermäßigt besteuerten [X.]rbeitslohn in Höhe von 174.034 € ansetzten. Eine andere Sachbearbeiterin des F[X.] half dem Einspruch mit Änderungsbescheid vom 4. Februar 2009 ab.

6

[X.]m 14. Mai 2009 stellte das F[X.] im Rahmen einer bei der [X.] durchgeführten Lohnsteuer-[X.]ußenprüfung fest, dass durch eine falsche Lohnsteuerverschlüsselung [X.]eiträge zur Direktversicherung nicht mit der [X.]bfindung, sondern mit dem [X.]ruttoarbeitslohn verrechnet worden waren. Dadurch wurde auf der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung ein negativer [X.]ruttoarbeitslohn ausgewiesen. Tatsächlich hätte [X.] einen [X.]ruttoarbeitslohn in Höhe von 23.036,92 € und eine [X.]bfindung in Höhe von 124.017,28 € bescheinigen müssen.

7

Daraufhin erließ das F[X.] am 8. [X.]pril 2010 einen nach § 173 [X.]bs. 1 Nr. 1 der [X.]bgabenordnung ([X.]) geänderten Einkommensteuerbescheid und berücksichtigte dabei --wie im ursprünglichen [X.]escheid vom 25. November 2008-- einen [X.]ruttoarbeitslohn der Klägerin in Höhe von 29.956 € und eine Entschädigung in Höhe von 124.017 €.

8

Der hiergegen erhobenen Klage gab das [X.] ([X.]) statt.

9

Mit der Revision rügt das F[X.] die Verletzung materiellen Rechts.

Es beantragt,
das Urteil des [X.] aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet und daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zurückzuweisen. Das [X.] hat zu Recht entschieden, dass der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4. Februar 2009 weder nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] noch nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. [X.] geändert werden durfte.

1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.

a) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 18. Dezember 2014 VI R 21/13, [X.], 116; Urteil des [X.] --BFH-- vom 19. Februar 2013 IX R 24/12, [X.], 265, [X.], 484, m.w.[X.], und [X.] vom 19. Oktober 2011 [X.], [X.], 227, m.w.[X.]). Nicht unter den Tatsachenbegriff fallen dagegen Schlussfolgerungen aller Art, rechtliche Würdigungen und Bewertungen, Rechtsansichten und juristische Subsumtionen, bei denen auf Grund von Tatsachen anhand gesetzlicher Vorschriften ein bestimmter Schluss gezogen wird (BFH-Urteile vom 13. Oktober 1983 I R 11/79, [X.], 2, [X.] 1984, 181; vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, [X.], 485, [X.] 1984, 785; vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89, [X.], 1, [X.] 1993, 569; vom 23. November 2001 VI R 125/00, [X.], 387, [X.] 2002, 296; vom 28. Juni 2006 III R 13/06, [X.], 287, [X.] 2007, 714; vom 27. Januar 2011 III R 90/07, [X.], 485, [X.] 2011, 543). Nachträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist. Grundsätzlich kommt es dabei auf den Wissensstand der zur Bearbeitung des Steuerfalls berufenen Dienststelle an, wobei aktenkundige Tatsachen stets als bekannt gelten (Senatsurteil vom 13. Juni 2012 VI R 85/10, [X.], 295, [X.], 5, m.w.[X.]).

b) Nach diesen Grundsätzen konnte der Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4. Februar 2009 durch das [X.] nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] geändert werden.

aa) Denn dem [X.] waren bereits bei Erlass des Einkommensteuerbescheids vom 4. Februar 2009 sämtliche für die Besteuerung maßgeblichen Tatsachen bekannt. Tatsachen sind in diesem Zusammenhang, dass die Klägerin mit der A am 6. Juni 2007 einen Auflösungsvertrag geschlossen hatte, dass nach diesem die Klägerin aus Anlass der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum 30. Juni 2007 von der A eine Abfindungssumme in Höhe von 174.034,28 € erhielt und dass die A von dieser Abfindungssumme einen Teilbetrag in Höhe von 50.017 € in eine Direktversicherung für die Klägerin einzubezahlen hatte. Tatsache ist des Weiteren, dass die A in der Lohnsteuerbescheinigung bei der Berechnung des [X.] der Klägerin die Einzahlung in die Direktversicherung in Höhe von 50.017 € als Abzugsposten berücksichtigt hat. Diese Tatsachen waren bereits seit Einreichung des Klägerschriftsatzes vom 23. September 2008 aktenkundig und damit dem [X.] bekannt. Auf die individuelle Kenntnis der neu zuständigen Sachbearbeiterin kommt es nicht an (Senatsurteil in [X.], 295, [X.], 5).

bb) Keine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] ist dagegen, dass das [X.] nach erneuter Prüfung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Einzahlung in die Direktversicherung mit der Entschädigung und nicht mit dem [X.] zu verrechnen ist. Es geht nunmehr davon aus, dass die Einzahlung in die Direktversicherung nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei und statt vom [X.] von der Entschädigungssumme in Höhe von 174.034,28 € abzuziehen war. Diese Beurteilung ist das Ergebnis einer Subsumtion des § 3 Nr. 63 EStG und einer Auslegung des [X.] und nicht Folge neuer, nachträglich bekannt gewordener Tatsachen. Das [X.] ist vielmehr zu einer anderen rechtlichen Würdigung gelangt, als es im Abhilfebescheid vertreten hat.

2. Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. [X.] darf ein Steuerbescheid geändert werden, soweit er durch unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist.

a) Unter arglistiger Täuschung i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. [X.] ist die bewusste und vorsätzliche Irreführung zu verstehen, wie jedes vorsätzliche Verschweigen oder Vortäuschen von Tatsachen, durch das die Willensbildung der Behörde unzulässig beeinflusst wird (Wedelstädt in [X.], [X.] § 172 Rz 194, m.w.[X.]). Für Arglist reicht bereits das Bewusstsein aus, wahrheitswidrige Angaben zu machen. Nicht erforderlich ist dagegen die Absicht, damit das Finanzamt zu einer Entscheidung zu veranlassen (BFH-Urteil vom 14. Dezember 1994 XI R 80/92, [X.], 308, [X.] 1995, 293). Ein Mitverschulden der Finanzbehörde ist unerheblich, insbesondere der Umstand, dass es die Unrichtigkeit hätte durchschauen können (Wedelstädt, a.a.O., [X.] § 172 Rz 197; [X.]/[X.], [X.], 12. Aufl., § 172 Rz 55).

b) Diesen Grundsätzen entsprechend durfte der Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4. Februar 2009 nicht nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. [X.] geändert werden.

Eine arglistige Täuschung liegt im Streitfall nicht vor. In der (erneuten) Bezugnahme auf die Angaben in der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung im Rahmen des [X.] ist keine Irreführung über Tatsachen oder das Bewusstsein, wahrheitswidrige Angaben zu machen, zu sehen. Denn nachdem der Sachverhalt dem [X.] bereits vollständig offengelegt war, haben die Kläger hierdurch dem [X.] lediglich eine andere rechtliche Würdigung hinsichtlich der lohnsteuerlichen Behandlung der Einzahlung in die Direktversicherung mitgeteilt. Der schlichte Vortrag einer anderen Rechtsauffassung im Rahmen des [X.] ist jedoch nicht "arglistig" oder in sonstiger Weise "unlauter". Zudem entfaltet die Lohnsteuerbescheinigung lediglich einen Beweiswert dahingehend, wie der [X.] tatsächlich stattgefunden hat (Senatsurteil vom 30. Oktober 2008 VI R 10/05, [X.], 202, [X.] 2009, 354) und gerade nicht darüber, wie er hätte durchgeführt werden müssen, so dass auch aus diesem Grund durch die Bezugnahme auf die Lohnsteuerbescheinigung keine "unrichtigen (tatsächlichen) Angaben" gemacht wurden. Eine etwaige Hoffnung der Kläger, das [X.] werde sich ohne eine weitere Sachprüfung ihrer Rechtsauffassung anschließen, ist keine arglistige Täuschung ([X.] Köln, Urteil vom 12. Juni 1996  10 K 1473/91, Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 1073).

3. [X.] folgt aus § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VI R 51/14

08.07.2015

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 2. Juli 2014, Az: 2 K 716/11, Urteil

§ 172 Abs 1 S 1 Nr 2 Buchst c AO, § 173 Abs 1 Nr 1 AO, § 3 Nr 63 EStG 2002, § 34 Abs 1 EStG 2002, EStG VZ 2007

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.07.2015, Az. VI R 51/14 (REWIS RS 2015, 8535)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 8535

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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