Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.02.2012, Az. III B 54/10

3. Senat | REWIS RS 2012, 8722

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Gegenstand

Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht - Zurückverweisung wegen Verfahrensmangels - Haushaltsaufnahme eines Kindes


Leitsatz

1. NV: Das FG hat dem Amtsermittlungsgrundsatz besondere Bedeutung beizumessen, soweit es sich um Feststellungen handelt, denen nach seinem materiell-rechtlichen Standpunkt entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt. In diesen Fällen muss das FG jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachgehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängen.

2. NV: Es entspricht fehlerfreier Ermessensausübung, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, wenn der geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt und es im Falle der Zulassung des Revisionsverfahrens voraussichtlich zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG gekommen wäre.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) begehrt für seinen im Januar 1989 geborenen [[X.].] [[X.].] Kindergeld ab Oktober 2007.

2

Der Kläger wohnt in der [[X.].] --[[X.].]-- ([[X.].]) und ist als Beamter beschäftigt. [[X.].]eit August 2006 ist er mit [[X.].] verheiratet. [[X.].], welche die [[X.].] [[X.].]taatsangehörigkeit besitzt, ist die Mutter der Kinder [[X.].], A und [[X.].]. Der Kläger ist nicht deren leiblicher Vater. [[X.].]r hat die Kinder auch nicht adoptiert.

3

Der Kläger beantragte im Oktober 2006 bei der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) Kindergeld für A, [[X.].] und [[X.].]. [[X.].]r teilte der Familienkasse mit, [[X.].] lebe mit den drei Kindern in einer --im gemeinsamen [[X.].]igentum von ihm und der [[X.].] stehenden-- [[X.].]igentumswohnung in [[X.].] ([[X.].]). Der Kläger sei dort mit Zweitwohnsitz gemeldet. [[X.].] beziehe für ihre Kinder in [[X.].] Kindergeld. Daraufhin setzte die Familienkasse im November 2006 gegenüber dem Kläger Kindergeld für A, [[X.].] und [[X.].] ab August 2006 in Höhe von jeweils 134,83 € vorläufig fest.

4

Nach der Anmeldebestätigung der [[X.].] sind [[X.].] sowie ihre beiden Kinder A und [[X.].] [[X.].]nde Juni 2007 in die Wohnung des [[X.].] in der [[X.].] gezogen. Der in [[X.].] verbliebene [[X.].] studierte an der [[X.].] ([[X.].]).

5

Mit Bescheid vom [[X.].]eptember 2007 hob die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für [[X.].] ab Oktober 2007 nach § 70 Abs. 3 des [[X.].]inkommensteuergesetzes in der für den [[X.].]treitzeitraum geltenden Fassung ([[X.].][[X.].]tG) auf, weil [[X.].] nicht in den Haushalt des [[X.].] aufgenommen sei. Der [[X.].]inspruch blieb erfolglos.

6

Das Finanzgericht ([X.]) wies die daraufhin erhobene Klage ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, nach der anwendbaren Verordnung ([[X.].]WG) Nr. 1408/71 des [[X.].]ates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der [[X.].]ysteme der sozialen [[X.].]icherheit auf Arbeitnehmer und [[X.].]elbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [[X.].] zu- und abwandern ([[X.].] 1408/71), seien die [[X.].] Kindergeldvorschriften heranzuziehen (Art. 1, 2, 4, 13 Abs. 2 der [[X.].] 1408/71). Nach Art. 73 der [[X.].] 1408/71 habe der Kläger als ein in [[X.].] wohnender Arbeitnehmer für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnten, Anspruch auf Familienleistungen nach den [[X.].]echtsvorschriften seines Wohnsitzstaates. Dabei sei [[X.].] zwar als Familienangehöriger des [[X.].] nach Art. 1 Buchst. f der [[X.].] 1408/71 zu beurteilen, weil er vom Kläger überwiegend unterhalten werde. Hieraus folge aber nicht zugleich, dass [[X.].] auch als ein Haushaltsangehöriger im [[X.].]inne des maßgeblichen [[X.].] Kindergeldrechts anzusehen sei. Vielmehr bleibe es bei der Prüfung des [[X.].] [[X.].]echts. Danach scheide eine Berücksichtigung des [[X.].] aus, weil er nicht --wie § 63 Abs. 1 [[X.].]atz 1 Nr. 2 [[X.].][[X.].]tG für [[X.].]tiefkinder voraussetze-- in den Haushalt des [[X.].] in der [[X.].] oder in einen solchen in [X.] ([[X.].]) aufgenommen sei.

7

Mit der hiergegen eingelegten Beschwerde wegen Nichtzulassung der [[X.].]evision macht der Kläger geltend, die [[X.].]echtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Daneben [X.] der [X.] erfordere die Fortbildung des [[X.].]echts und die [[X.].]icherung einer einheitlichen [[X.].]echtsprechung eine [[X.].]ntscheidung des [X.] --BFH-- (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 [X.]O). [[X.].]chließlich behauptet der Kläger das Vorliegen eines [X.], weil das [X.] gegen seine [[X.].]achaufklärungspflicht verstoßen habe (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O).

Entscheidungsgründe

8

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [[[[X.].].].] ist zulässig und begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [[[[X.].].].] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 [[[[X.].].].]O).

9

1. Es liegt ein von dem Kläger in der erforderlichen Form (§ 116 Abs. 3 [[[[X.].].].]atz 3 [[[[X.].].].]O) dargelegter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des [[[[X.].].].] beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [[[[X.].].].]O). Denn das [[[[X.].].].] hat seine aus § 76 Abs. 1 [[[[X.].].].]atz 1 [[[[X.].].].]O folgende Pflicht zur [[[[X.].].].]achaufklärung verletzt.

a) Nach dieser Vorschrift hat das Gericht den [[[[X.].].].]achverhalt von Amts wegen aufzuklären. Diesen Amtsermittlungsgrundsatz hat das [[[[X.].].].] --unbeschadet der Mitwirkungspflicht der [[[[X.].].].] besonders zu beachten, soweit es sich um Feststellungen handelt, denen nach seinem materiell-rechtlichen [[[[X.].].].]tandpunkt entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt. In diesen Fällen muss es jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachgehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängen (z.B. [[[[X.].].].] vom 17. [[[[X.].].].]eptember 2003 [[[[X.].].].], [[[[X.].].].], 207, m.w.N.).

b) Im [[[[X.].].].]treitfall hat das [[[[X.].].].] --ohne eigene Aufklärungsmaßnahmen (s. dazu z.B. § 79, § 79b Abs. 2 [[[[X.].].].]O) ergriffen zu haben- eine Aufnahme von [[[[X.].].].] in einen Haushalt des [[[[X.].].].] in [[[X.].].] ([[[[X.].].].]) mit der Begründung abgelehnt, es fehle bereits an einem entsprechenden Vortrag des [[[[X.].].].]. [[[[X.].].].]o habe der Kläger nicht hinreichend dargelegt, [[[[X.].].].] sei in den dortigen Haushalt eingebunden gewesen. Aber selbst wenn dies bejaht werden müsste, habe der Kläger --so das [[[[X.].].].]-- nicht dargetan, dort überhaupt einen gemeinsamen Haushalt mit E geführt zu haben. Er habe nicht substantiiert behauptet, dass er seine Wohnung in [[[X.].].] ([[[[X.].].].]) regelmäßig aufgesucht und dort auch ein hauswirtschaftliches Leben stattgefunden habe.

Allerdings hat der Kläger mehrfach vorgetragen, in [[[X.].].] ([[[[X.].].].]) eine --im gemeinsamen Eigentum von ihm und E stehende- Eigentumswohnung zu besitzen. Zudem hielt sich [[[[X.].].].] nach Aktenlage während des [[[[X.].].].]treitzeitraums weiterhin in [[[[X.].].].] für [[[[X.].].].]tudienzwecke auf. Danach bestanden ausreichend Anhaltspunkte dafür, dass [[[[X.].].].] möglicherweise in einen gemeinsamen Haushalt des [[[[X.].].].] und E in [[[X.].].] ([[[[X.].].].]) aufgenommen war.

Zur abschließenden Beurteilung dieser Frage bedarf es weiterer Aufklärung. Einen Haushalt besitzt jemand dort, wo er allein oder mit anderen eine Wohnung innehat, in der hauswirtschaftliches Leben herrscht, an dem er sich persönlich oder finanziell beteiligt ([[X.].]-Urteil vom 13. Dezember 1985 VI R 203/84, [[X.].], 551, B[[[[X.].].].]tBl II 1986, 344). Eine Haushaltsaufnahme des Kindes liegt vor, wenn es in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis aufgenommen worden ist ([[[[X.].].].]enatsbeschluss vom 24. Oktober 2006 III [[[[X.].].].] 3/06 (PKH), [[X.].], 238). Neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein ([[X.].]-Urteil vom 20. Juni 2001 VI R 224/98, [[X.].], 564, B[[[[X.].].].]tBl II 2001, 713). Dabei ist ausreichend, dass das Kind in einen gemeinsamen Haushalt des Berechtigten und des mit ihm verheirateten Elternteils aufgenommen wird ([[[[X.].].].] vom 27. August 1998 [[X.].]/97, [[X.].] 1999, 177). Nach alledem sind weitere tatsächliche Feststellungen des [[[[X.].].].] erforderlich.

2. Auch hat der Kläger das Recht zur Rüge mangelnder [[[[X.].].].]achaufklärung nicht verloren. Zwar kann dies bei verzichtbaren Verfahrensmängeln --wie dem der unzureichenden [[[[X.].].].]achverhaltsaufklärung-- auch durch bloßes Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge geschehen (§ 155 [[[[X.].].].]O i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung). Diese Folge wird vom [[X.].] allerdings nur für den Fall angenommen, dass der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren --anders als im [[[[X.].].].]treitfall-- rechtskundig vertreten war ([[[[X.].].].] vom 27. Oktober 2011 [[X.].]/11, [[X.].], m.w.N.).

3. Liegt ein die Zulassung der Revision rechtfertigender Verfahrensmangel vor, kann der [[X.].] statt der Zulassung der Revision das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen (§ 116 Abs. 6 [[[[X.].].].]O). Die Zurückverweisung ist ermessensgerecht, wenn es auch im Falle der Zulassung des Revisionsverfahrens voraussichtlich zur Aufhebung des [[[[X.].].].]-Urteils und zur Zurückverweisung der [[[[X.].].].]ache an das [[[[X.].].].] gekommen wäre ([[[[X.].].].]enatsbeschluss vom 9. November 2009 [[X.].]/08, [[X.].] 2010, 667).

[[[[X.].].].]o verhält es sich hier. Die Vorschrift des § 63 Abs. 1 [[[[X.].].].]atz 1 Nr. 2 E[[[[X.].].].]tG setzt nach ihrem Wortlaut --wovon offensichtlich auch das [[[[X.].].].] ausgegangen ist-- nicht voraus, dass es sich um einen inländischen Haushalt des [[X.].] handelt. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des [[[[X.].].].] könnte der [[[[X.].].].]enat im Falle der Zulassung der Revision aber über die Frage, ob der Kläger [[[[X.].].].] in einen gemeinsamen Haushalt in [[[X.].].] ([[[[X.].].].]) aufgenommen hat, nicht abschließend entscheiden.

Meta

III B 54/10

28.02.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Beschluss

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 11. März 2010, Az: 14 K 323/09, Urteil

§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 3 S 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 63 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.02.2012, Az. III B 54/10 (REWIS RS 2012, 8722)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8722

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