Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.04.2016, Az. 1 StR 1/16

1. Strafsenat | REWIS RS 2016, 12714

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Gegenstand

Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen: Tatrichterliche Feststellung der vorenthaltenen Beiträge


Tenor

1. Auf die Revision der Verfallsbeteiligten wird das Urteil des [X.] vom 10. September 2015 mit den Feststellungen zur Höhe der vorenthaltenen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat in dem selbständigen Verfallsverfahren festgestellt, dass die [X.] durch Taten des Angeklagten                   B.    Vermögenswerte im Gesamtwert von 458.407,34 € erlangt hat und der Verfall von [X.] nicht angeordnet werden kann, weil Ansprüche der Verletzten entgegenstehen. Die Revision der [X.]n rügt die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet das Verfahren. Sie hat den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie gemäß § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.

I.

2

Nach den Feststellungen des [X.]s wurde die [X.] – eine [X.] Gesellschaft mit beschränkter Haftung und selbständiger Zweigniederlassung in [X.]       – am 21. Februar 1997 von dem Angeklagten        B.     gegründet, der 95 % der Gesellschaftsanteile hielt. Das Verfahren wurde zunächst gegen den Angeklagten B.     betrieben, wobei die Nebenbeteiligung der [X.]n angeordnet war. Infolge unbekannten Aufenthalts wurde das Verfahren vom [X.] gegen den Angeklagten B.     gemäß § 205 StPO vorläufig eingestellt und gegen die [X.] im selbständigen Verfallsverfahren fortgesetzt. Der Angeklagte B.     war zumindest bis Mitte 2008 alleiniger faktischer Geschäftsführer der [X.]n und formal als Einzelprokurist der selbständigen Zweigniederlassung der [X.]n im Handelsregister eingetragen. Die [X.] beschäftigte von April 2003 bis Mai 2008 insgesamt 98 [X.] Arbeitnehmer im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses auf verschiedenen Baustellen in [X.] und führte mit diesen insgesamt 36 Werkverträge über Rohbauarbeiten aus. Den vorgenannten [X.]n Arbeitnehmern standen im Tatzeitraum nach dem jeweils gültigen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für das Bauhauptgewerbe [X.] (brutto) in Höhe von 10,12 € bis 10,40 € zu. Ihre regelmäßige monatliche Arbeitszeit belief sich auf 200 bis 220 Arbeitsstunden. Sämtliche [X.] Arbeitnehmer wurden für die [X.] in der [X.] ausschließlich für eine Tätigkeit auf [X.] Baustellen angeworben und waren weder vor noch nach dieser Beschäftigung für die [X.] in der [X.] tätig. Gegenüber den [X.]n und [X.] Behörden wurde die Tätigkeit aller 98 [X.]n Arbeitnehmer mit Wissen und Wollen des Angeklagten B.     als sog. "Entsendefall" dargestellt; d.h. als ein Sachverhalt, bei welchem ein Arbeitnehmer eines Unternehmens mit Sitz in der [X.] vorübergehend zur Arbeitsleistung in das Gebiet der Bundesrepublik [X.] entsandt wird, um dort eine Arbeit für Rechnung dieses Unternehmens auszuführen. Die [X.]n Behörden stellten den [X.]n Arbeitnehmern auf Antrag der [X.]n bzw. der jeweiligen Arbeitnehmer sog. [X.] 1 oder [X.] 11-Entsendebescheinigungen aus. Der Angeklagte B.     wusste, dass es bei keinem der [X.]n Arbeitnehmer eine Vorbeschäftigung oder eine von vornherein vorgesehene Anschlussbeschäftigung bei der [X.]n in der [X.] gab. Er unterließ die Anmeldung der [X.]n Arbeitnehmer zur [X.] Sozialversicherung unter Berufung auf das Abkommen zwischen der Bundesrepublik [X.] und der Republik [X.] über [X.] Sicherheit vom 30. April 1964 ([X.], S. 1170), zuletzt ergänzt durch Zusatzabkommen vom 2. November 1984 ([X.], S. 1040) und entrichtete für die 98 [X.]n Arbeitnehmer in der [X.] Sozialversicherungsbeiträge für die Dauer der "Entsendezeit" nach [X.]. Der alleinige faktische Geschäftsführer der [X.]n, der Angeklagte B.    , war jedoch tatsächlich verpflichtet, die [X.]n Arbeitnehmer bei der zuständigen Einzugsstelle – der [X.] ([X.]) – als sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer anzumelden und der genannten Einzugsstelle gemäß § 28a [X.] monatlich für jeden in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung bzw. nach dem Recht der Arbeitsförderung kraft Gesetzes versicherten Beschäftigten Meldung zu erstatten. Darüber hinaus war er verpflichtet, die Beiträge zur Sozialversicherung und zur [X.] entsprechend diesen Meldungen bei Fälligkeit monatlich an die genannte Einzugsstelle abzuführen. Diesen Verpflichtungen kam der Angeklagte B.     im Zeitraum April 2003 bis Mai 2008 nicht nach, wodurch er der [X.]n die Abführung entsprechender Sozialversicherungsbeiträge ersparte.

3

Als Bemessungsgrundlage für die Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge legte das [X.] den tariflichen Mindestbruttolohn und die von den [X.]n Arbeitnehmern für die [X.] geleisteten Arbeitsstunden zugrunde. Die durchschnittliche monatliche Arbeitszeit der [X.]n Arbeitnehmer ermittelte das [X.] im Wege der Schätzung unter Hinzuziehung der vom Zoll aufgefundenen Arbeitsstundenaufzeichnungen und entsprechenden zeugenschaftlichen Bekundungen [X.]r Arbeitnehmer zu ihren Arbeitszeiten. Die danach festgestellten vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge führte das [X.] für die einzelnen Monate – getrennt nach Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil – tabellarisch auf, ohne allerdings die Berechnung im Einzelnen darzulegen und die maßgeblichen Beitragssätze der örtlich zuständigen Krankenkasse sowie die gesetzlichen Beitragssätze der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung anzuführen. Ausweislich der tatrichterlichen Feststellungen beläuft sich der Gesamtbetrag nicht abgeführter Sozialversicherungsbeiträge auf 801.030,57 €, wobei sich ein Arbeitgeberanteil in Höhe von 323.997,47 € und ein Arbeitnehmeranteil in Höhe von 477.033,10 € ergibt. Von dieser Summe hat das [X.] – ohne konkrete Anhaltspunkte – einen Sicherheitsabschlag in Höhe von 20 % vorgenommen, um auszugleichen, dass einzelne Arbeitnehmer weniger gearbeitet haben könnten, so dass sich ein Gesamtbetrag nicht abgeführter Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 640.824,45 € ergibt. Letztlich wurde der vom [X.] als erlangt festgestellte Betrag auf 458.407,34 € beschränkt, weil in dieser Höhe Vermögenswerte der [X.]n gesichert worden waren.

4

Im Rahmen der Beweiswürdigung hat sich das [X.] im Hinblick auf die Feststellungen zu den vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträgen für den Zeitraum April 2003 bis Mai 2008 auf die Bekundungen des [X.]gestützt, der bei der [X.] für die Berechnung der Beitragsforderungen zuständig ist und dem [X.] im Rahmen der Beweisaufnahme den [X.] erläuterte. Der Zeuge M.    habe die monatliche Bruttolohnsumme errechnet, indem er die vom Zoll ermittelten Arbeitsstunden der [X.]n Arbeitnehmer mit den jeweils gültigen Mindestlöhnen der niedrigsten Lohngruppe ([X.]) des gültigen allgemeinverbindlichen Tarifvertrags für das Bauhauptgewerbe multipliziert habe. Sodann habe er "unter Anwendung der jeweiligen im Urteil nicht näher genannten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitragssätze zur Sozialversicherung" die offenen Sozialversicherungsbeiträge – gegliedert nach Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil – für jeden der 62 verfahrensgegenständlichen Monate errechnet. Dieser Berechnungsmethode ist das [X.] gefolgt, wobei es zum einen davon abgesehen hat, für die Monate April 2003 bis Juli 2004 Arbeitgeberanteile als vorenthalten zu berücksichtigen, und zum anderen – ohne konkrete Anhaltspunkte – den bereits erwähnten Sicherheitsabschlag von 20 % vorgenommen hat.

II.

5

Das Urteil hält rechtlicher Überprüfung nicht vollumfänglich stand.

6

Dem Tatgericht obliegt es nach ständiger Rechtsprechung, die geschuldeten Beiträge – für die jeweiligen Fälligkeitszeitpunkte gesondert – nach Anzahl, Beschäftigungszeiten, Löhnen der Arbeitnehmer und der Höhe des [X.] der örtlich zuständigen Krankenkasse festzustellen, um eine revisionsgerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen ([X.], Beschlüsse vom 4. März 1993 - 1 StR 16/93 und vom 22. März 1994 - 1 StR 31/94; Urteil vom 20. März 1996 - 2 StR 4/96, [X.], 543; [X.] in [X.], 2. Aufl., § 266a Rn. 61, 133), weil die Höhe der geschuldeten Beiträge auf der Grundlage des Arbeitsentgelts nach den Beitragssätzen der jeweiligen Krankenkassen sowie den gesetzlich geregelten Beitragssätzen der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu berechnen ist ([X.], Urteil vom 11. August 2010 - 1 [X.], [X.], 376). Falls solche Feststellungen im Einzelfall nicht möglich sind, kann die Höhe der vorenthaltenen Beiträge auf Grundlage der tatsächlichen Umstände geschätzt werden ([X.], Beschluss vom 10. November 2009 - 1 [X.], [X.], 635; [X.] in [X.], 2. Aufl., § 266a Rn. 136). Die Grundsätze, die die Rechtsprechung bei Taten nach § 370 AO für die Darlegung der Berechnungsgrundlagen der verkürzten Steuern entwickelt hat, gelten insoweit entsprechend ([X.], Beschluss vom 4. März 1993 - 1 StR 16/93, [X.], 364; Urteil vom 11. August 2010 - 1 [X.], [X.], 376). Dementsprechend genügt es gerade nicht, die vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge lediglich der Höhe nach anzugeben ([X.], Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, [X.]St 47, 318). Vielmehr müssen die Urteilsgründe die Berechnungsgrundlagen und Berechnungen im Einzelnen wiedergeben ([X.], Beschluss vom 4. März 1993 - 1 StR 16/93, [X.], 364; [X.] in [X.], 2. Aufl., § 266a Rn. 133).

7

Den vorgenannten Anforderungen trägt das Urteil nicht ausreichend Rechnung. Zwar bestehen gegen die Schätzung des [X.]s hinsichtlich der durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit der [X.]n Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der aufgefundenen Arbeitsstundenaufzeichnungen und der zeugenschaftlichen Bekundungen [X.]r Arbeitnehmer zu ihren Arbeitszeiten keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Allerdings stützt das [X.] seine Feststellungen zur Höhe der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge allein auf die Bekundungen und Berechnung des [X.]von der [X.], ohne die Berechnung für das Revisionsgericht im Einzelnen nachvollziehbar darzulegen. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat das [X.] lediglich ausgeführt, dass die vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge anhand der ermittelten Bruttolohnsumme "unter Anwendung der jeweiligen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitragssätze zur Sozialversicherung" errechnet worden seien. Welche Beitragssätze letztlich der Berechnung zugrunde liegen, führt das Urteil nicht aus, weshalb eine Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge nicht möglich ist und diese unzureichenden Feststellungen damit einer vollumfänglichen revisionsgerichtlichen Nachprüfung entgegenstehen.

8

Auch ist es im vorliegenden Fall nicht ausnahmsweise ausreichend, lediglich die Höhe der vorenthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeiträge und die darin enthaltenen Arbeitnehmeranteile, die geschädigten Krankenkassen und die betroffenen Beitragsmonate festzustellen (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 7. Oktober 2010 - 1 [X.], [X.], 161), weil es sich gerade nicht um einen Fall des schlichten Nichtzahlens ordnungsgemäß angemeldeter Beiträge handelt, bei welchem der vom Arbeitgeber eingereichte Beitragsnachweis gemäß § 28f Abs. 3 S. 3 [X.] die geschuldeten und in der Regel vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge belegt.

9

Der Senat kann infolge der fehlenden revisionsgerichtlichen Nachprüfbarkeit – auch in Anbetracht des [X.] in Höhe von 20 % und der wenig nachvollziehbaren Beschränkung auf den Betrag, in dessen Höhe Vermögenswerte der [X.]n gesichert werden konnten – nicht ausschließen, dass das angefochtene Urteil auf dem vorgenannten Mangel beruht und möglicherweise bei richtiger Anwendung des Gesetzes anders ausgefallen wäre.

Das neue Tatgericht wird dementsprechend unter Beachtung obiger Ausführungen neue Feststellungen zur Höhe der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge zu treffen haben. Die übrigen Feststellungen des [X.]s sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und bleiben insoweit bestehen.

Da das Urteil im Übrigen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, war die weitergehende Revision der [X.]n gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

Raum     

Graf     

     Jäger

Cirener     

Rin[X.] Dr. Fischer ist im
Urlaub und deshalb an der
Unterschriftsleistung
gehindert.

Raum

Meta

1 StR 1/16

20.04.2016

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Würzburg, 10. September 2015, Az: 5 KLs 751 Js 16897/14

§ 266a StGB, § 370 AO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.04.2016, Az. 1 StR 1/16 (REWIS RS 2016, 12714)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 12714

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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