Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.04.2016, Az. 1 StR 1/16

1. Strafsenat | REWIS RS 2016, 12697

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[X.]:[X.]:[X.]:2016:200416B1STR1.16.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1
StR 1/16
vom

20. April
2016

in dem selbständigen Verfallsverfahren

gegen

wegen Verfalls

-
2
-
Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 20. April 2016 gemäß §
349 Abs.
2 und 4
StPO beschlossen:

1.
Auf die Revision der [X.]n wird das Urteil des [X.] vom 10.
September 2015 mit den Fest-stellungen zur Höhe der vorenthaltenen Arbeitnehmer-
und Ar-beitgeberbeiträge aufgehoben.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-tels, an eine andere Strafkammer des [X.]s zurückver-wiesen.
3.
Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:
Das [X.] hat in dem selbständigen Verfallsverfahren festgestellt, dass die [X.] durch Taten des Angeklagten

B.

Vermögenswerte im Gesamtwert von 458.407,34

von Wertersatz nicht angeordnet werden kann, weil Ansprüche der Verletzten entgegenstehen. Die Revision der [X.]n rügt die Verletzung mate-riellen Rechts und beanstandet das Verfahren. Sie hat den aus der Beschluss-formel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie gemäß §
349 Abs.
2 StPO un-begründet.

1
-
3
-
I.
Nach den Feststellungen des [X.]s wurde die [X.]

eine [X.] Gesellschaft mit beschränkter Haftung und selbständiger Zweigniederlassung in G.

am 21.
Februar 1997 von dem Ange-klagten

B.

gegründet, der 95 % der Gesellschaftsanteile hielt. Das Verfahren wurde zunächst gegen den Angeklagten B.

betrieben, wo-bei die Nebenbeteiligung der [X.]n angeordnet war. Infolge unbe-kannten Aufenthalts wurde das Verfahren vom [X.] gegen den Ange-klagten B.

gemäß § 205 StPO vorläufig eingestellt und gegen die Verfalls-beteiligte im selbständigen Verfallsverfahren fortgesetzt. Der [X.]

war zumindest bis Mitte 2008 alleiniger faktischer Geschäftsführer der Ver-fallsbeteiligten und formal als Einzelprokurist der selbständigen Zweigniederlas-sung der [X.]n im Handelsregister eingetragen. Die [X.] beschäftigte von April 2003 bis Mai 2008 insgesamt 98 [X.] Arbeitneh-mer im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis-ses auf verschiedenen Baustellen in [X.] und führte mit diesen insge-samt 36 Werkverträge über Rohbauarbeiten aus. Den vorgenannten [X.]n Arbeitnehmern standen im Tatzeitraum nach dem jeweils gültigen allgemein-verbindlichen Tarifvertrag für das Bauhauptgewerbe [X.] (brutr-beitszeit belief sich auf 200 bis 220 Arbeitsstunden. Sämtliche [X.] Arbeit-nehmer wurden für die [X.] in der [X.] ausschließlich für eine Tätigkeit auf [X.] Baustellen angeworben und waren weder vor noch nach dieser Beschäftigung für die [X.] in der [X.] tätig. Gegen-über den [X.]n und [X.] Behörden wurde die Tätigkeit aller 98 türki-schen Arbeitnehmer mit Wissen und Wollen des Angeklagten
B.

als sog. h-mer eines Unternehmens mit Sitz in der [X.] vorübergehend zur [X.]
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4
-
tung in das Gebiet der Bundesrepublik [X.] entsandt wird, um dort eine Arbeit für Rechnung dieses Unternehmens auszuführen. Die [X.]n Behör-den stellten den [X.]n Arbeitnehmern auf Antrag der [X.]n bzw. der jeweiligen Arbeitnehmer sog. A/T 1 oder [X.] aus. Der [X.]

wusste, dass es bei keinem der [X.]n Arbeitnehmer eine Vorbeschäftigung oder eine von vornherein vor-gesehene Anschlussbeschäftigung bei der [X.]n in der [X.] gab. Er unterließ die Anmeldung der [X.]n Arbeitnehmer zur [X.] Sozial-versicherung unter Berufung auf das Abkommen zwischen der Bundesrepublik [X.] und der Republik [X.] über [X.] Sicherheit vom 30.
April 1964 ([X.], S. 1170), zuletzt ergänzt durch Zusatzabkommen vom 2.
November 1984 ([X.] 1984
II, S. 1040) und entrichtete für die 98 [X.]n t-r-fallsbeteiligten, der [X.]

, war jedoch tatsächlich verpflichtet, die [X.]n Arbeitnehmer bei der zuständigen Einzugsstelle

der [X.] ([X.])

als sozialversicherungspflichtige Arbeit-nehmer anzumelden und der genannten Einzugsstelle gemäß § 28a [X.] monatlich für jeden in der Kranken-, Pflege-
und Rentenversicherung bzw. nach dem Recht der Arbeitsförderung kraft Gesetzes versicherten Beschäftigten Meldung zu erstatten. Darüber hinaus war er verpflichtet, die Beiträge zur Sozi-alversicherung und zur [X.] entsprechend diesen Meldun-gen bei Fälligkeit monatlich an die genannte Einzugsstelle abzuführen. Diesen Verpflichtungen kam der [X.]

im Zeitraum April 2003 bis Mai 2008 nicht nach, wodurch er der [X.]n die Abführung entsprechen-der Sozialversicherungsbeiträge ersparte.
Als Bemessungsgrundlage für die Berechnung der vorenthaltenen [X.] legte das [X.] den tariflichen [X.] 3
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5
-
und die von den [X.]n Arbeitnehmern für die [X.] geleisteten Arbeitsstunden zugrunde. Die durchschnittliche monatliche Arbeitszeit der türki-schen Arbeitnehmer ermittelte das [X.] im Wege der Schätzung unter Hinzuziehung der vom Zoll aufgefundenen Arbeitsstundenaufzeichnungen und entsprechenden zeugenschaftlichen Bekundungen [X.]r Arbeitnehmer zu ihren Arbeitszeiten. Die danach festgestellten vorenthaltenen [X.] führte das [X.] für die einzelnen Monate

getrennt nach Arbeitgeber-
und Arbeitnehmeranteil

tabellarisch auf, ohne allerdings die Be-rechnung im Einzelnen darzulegen und die maßgeblichen Beitragssätze der örtlich zuständigen Krankenkasse sowie die gesetzlichen Beitragssätze der Renten-, Arbeitslosen-
und Pflegeversicherung anzuführen. Ausweislich der tatrichterlichen Feststellungen beläuft sich der Gesamtbetrag nicht abgeführter

ergibt. Von dieser Summe hat das [X.]

ohne konkrete Anhaltspunk-te

einen Sicherheitsabschlag in Höhe von 20 % vorgenommen, um auszuglei-chen, dass einzelne Arbeitnehmer weniger gearbeitet haben könnten, so dass sich ein Gesamtbetrag nicht abgeführter Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 640.824,45

vom [X.] als erlangt fest-gestellte Betrag auf
458.407,34

s-werte der [X.]n gesichert worden waren.
Im Rahmen der Beweiswürdigung hat sich das [X.] im Hinblick auf die Feststellungen zu den vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträgen für den Zeitraum April 2003 bis Mai 2008 auf die Bekundungen des Zeugen M.

gestützt, der bei der [X.] für die Berechnung der Beitragsforderungen zuständig ist und dem [X.] im Rahmen der Be-weisaufnahme den Berechnungsvorgang erläuterte. Der Zeuge M.

habe die monatliche Bruttolohnsumme errechnet, indem er die vom Zoll ermittelten [X.]
-
6
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beitsstunden der [X.]n Arbeitnehmer mit den jeweils
gültigen Mindestlöh-nen der niedrigsten Lohngruppe ([X.]) des [X.] für das Bauhauptgewerbe multipliziert habe. Sodann habe e-ber-
und l-versicherungsbeiträge

gegliedert nach Arbeitgeber-
und Arbeitnehmeranteil

für jeden der 62 verfahrensgegenständlichen Monate errechnet. Dieser [X.] ist das [X.] gefolgt, wobei es zum einen davon abgese-hen hat, für die Monate April 2003 bis Juli 2004 Arbeitgeberanteile als vorent-halten zu berücksichtigen,
und zum anderen

ohne konkrete Anhaltspunkte

den bereits erwähnten Sicherheitsabschlag von 20 % vorgenommen hat.

II.
Das Urteil hält rechtlicher Überprüfung nicht vollumfänglich stand.
Dem Tatgericht obliegt es nach ständiger Rechtsprechung, die [X.] Beiträge

für die jeweiligen Fälligkeitszeitpunkte gesondert

nach [X.], Beschäftigungszeiten, Löhnen der Arbeitnehmer und der Höhe des [X.] der örtlich zuständigen Krankenkasse festzustellen, um eine revisi-onsgerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen ([X.], Beschlüsse vom 4.
März 1993 -
1 StR 16/93 und vom 22. März 1994 -
1 StR 31/94; Urteil vom 20.
März 1996 -
2 StR 4/96, [X.], 543; [X.] in [X.], 2.
Aufl., §
266a Rn.
61, 133), weil die Höhe der geschuldeten Beiträge auf der Grundlage des Arbeitsentgelts nach den Beitragssätzen der jeweiligen Krankenkassen sowie den gesetzlich geregelten Beitragssätzen der Renten-, Arbeitslosen-
und Pfle-geversicherung zu berechnen ist ([X.], Urteil vom 11. August 2010 -
1
[X.], [X.], 376). Falls solche Feststellungen im Einzelfall nicht 5
6
-
7
-
möglich sind, kann die Höhe der vorenthaltenen Beiträge auf Grundlage der tatsächlichen Umstände geschätzt werden ([X.], Beschluss vom 10.
November 2009 -
1 [X.], [X.], 635; [X.] in [X.], 2. Aufl., §
266a Rn.
136). Die Grundsätze, die die Rechtsprechung bei Taten nach § 370 AO für die Darlegung der Berechnungsgrundlagen der verkürzten Steuern entwickelt hat, gelten insoweit entsprechend ([X.], Beschluss vom 4. März 1993 -
1
StR 16/93, [X.], 364; Urteil vom 11. August 2010 -
1 [X.], [X.], 376). Dementsprechend genügt es gerade nicht, die vorenthaltenen So-zialversicherungsbeiträge lediglich der Höhe nach anzugeben ([X.], Beschluss vom 28.
Mai 2002 -
5 StR 16/02, [X.]St 47, 318). Vielmehr müssen die Urteils-gründe die Berechnungsgrundlagen und Berechnungen im Einzelnen wieder-geben ([X.], Beschluss vom 4. März 1993 -
1 StR 16/93, [X.], 364;
[X.] in [X.], 2.
Aufl., §
266a Rn. 133).
Den vorgenannten Anforderungen trägt das Urteil nicht ausreichend Rechnung. Zwar bestehen gegen die Schätzung des [X.]s hinsichtlich der durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit der [X.]n Arbeitnehmer un-ter Berücksichtigung der aufgefundenen Arbeitsstundenaufzeichnungen und der zeugenschaftlichen Bekundungen [X.]r Arbeitnehmer zu ihren Arbeitszei-ten keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Allerdings stützt das [X.] seine Feststellungen zur Höhe der vorenthaltenen Sozialversicherungsbei-träge allein auf die Bekundungen und Berechnung des Zeugen M.

von der [X.], ohne die Berechnung für das Revisionsgericht im Einzelnen nachvollziehbar darzulegen. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat das [X.] lediglich ausgeführt, dass die vorenthaltenen Sozialversiche-jeweiligen Arbeitgeber-

errechnet worden seien. Welche Beitragssätze letztlich der Berechnung zu-grunde liegen, führt das Urteil nicht aus, weshalb eine Berechnung der vorent-7
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8
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haltenen Sozialversicherungsbeiträge nicht möglich ist und diese unzureichen-den Feststellungen damit einer vollumfänglichen revisionsgerichtlichen Nach-prüfung entgegenstehen.
Auch ist es im vorliegenden Fall nicht ausnahmsweise ausreichend, le-diglich die Höhe der vorenthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeiträge und die darin enthaltenen Arbeitnehmeranteile, die geschädigten Krankenkassen und die betroffenen Beitragsmonate festzustellen (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 7. Oktober 2010 -
1 [X.], [X.], 161), weil es sich gerade nicht um einen
Fall des schlichten Nichtzahlens ordnungsgemäß angemeldeter [X.] handelt, bei welchem der vom Arbeitgeber eingereichte Beitragsnachweis gemäß § 28f Abs. 3 S. 3 [X.] die geschuldeten und in der Regel vorenthal-tenen Sozialversicherungsbeiträge belegt.
Der [X.] kann infolge der fehlenden revisionsgerichtlichen Nachprüf-barkeit

auch in Anbetracht des [X.] in Höhe von 20 % und der wenig nachvollziehbaren Beschränkung auf den Betrag, in dessen Höhe Vermögenswerte der [X.]n gesichert werden konn-ten

nicht ausschließen, dass das angefochtene Urteil auf dem vorgenannten Mangel beruht und möglicherweise bei richtiger Anwendung des Gesetzes an-ders ausgefallen wäre.
Das neue Tatgericht wird dementsprechend unter Beachtung obiger [X.] neue Feststellungen zur Höhe der vorenthaltenen [X.] zu treffen haben. Die übrigen Feststellungen des [X.]s sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und bleiben insoweit bestehen.
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9
-
Da das Urteil
im Übrigen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Ange-klagten aufweist, war die weitergehende Revision der [X.]n gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
Raum Graf

Jäger

Cirener
Rin[X.] Dr. Fischer ist im

Urlaub und deshalb an der

Unterschriftsleistung

gehindert.

Raum

11

Meta

1 StR 1/16

20.04.2016

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.04.2016, Az. 1 StR 1/16 (REWIS RS 2016, 12697)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 12697

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1 StR 199/10

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