Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 19.10.2022, Az. 1 B 65/22

1. Senat | REWIS RS 2022, 6153

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Gegenstand

Rechtsweg für Durchsuchungsanordnungen nach § 58 Abs. 6 AufenthG


Leitsatz

Für den Antrag auf die Anordnung der Durchsuchung einer Wohnung nach § 58 Abs. 6 AufenthG ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 12. Juli 2022 - 3 ZB 6/21 - juris).

Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 31. August 2022 und des [X.] vom 1. September 2022, letzterer in der Fassung des [X.] vom 2. September 2022, werden aufgehoben.

Der Verwaltungsrechtsweg ist zulässig.

Gründe

1

Der Antragsteller stellte beim [X.] einen auf § 58 Abs. 8 [X.] gestützten Antrag auf Anordnung der Durchsuchung der Wohnung einschließlich aller Nebenräume und des sonstigen befriedeten Besitztums zum Zwecke der Durchsetzung der Ausreisepflicht des Betroffenen. Das Verwaltungsgericht hat hierfür den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das [X.] verwiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen und die weitere Beschwerde zum [X.] zugelassen.

2

1. Die nach § 17a Abs. 4 Satz 5 GVG zugelassene Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Dem Antragsteller fehlt insbesondere nicht das Rechtsschutzinteresse. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antrag im Hauptsacheverfahren zurückgenommen oder für erledigt erklärt worden wäre. Ob das Verstreichen des vorgesehenen Termins für die Abschiebung Auswirkungen auf das Rechtsschutzinteresse hat, wird das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren zu klären haben. Der Rechtsstreit ist nur wegen des [X.], nicht aber insgesamt beim [X.] anhängig (vgl. [X.], Beschluss vom 12. Juli 2022 - 3 ZB 6/21 - juris Rn. 8).

3

2. Die Beschwerde ist begründet. Für den vorliegenden Rechtsstreit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Das Verwaltungsgericht hätte den Rechtsstreit daher nicht an das Amtsgericht verweisen dürfen; das Oberverwaltungsgericht hat die Beschwerde des Antragstellers zu Unrecht zurückgewiesen.

4

a) Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art gegeben. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

5

Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlicher Art ist, richtet sich nach der Rechtsnatur der Rechtsnormen, die das Rechtsverhältnis prägen, aus dem der geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 10 B 1.20 - [X.] 404 IFG Nr. 39 Rn. 6). Die - nicht verfassungsrechtliche - Streitigkeit um den Erlass der von dem Antragsteller begehrten Durchsuchungsanordnung beurteilt sich nach § 58 Abs. 6 und 8 [X.] und ist daher öffentlich-rechtlich.

6

b) Die Streitigkeit ist nicht im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO durch [X.] einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen.

7

Die beantragte Durchsuchung stellt keine Freiheitsentziehung im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 [X.] dar, für die die ordentlichen Gerichte zuständig sind ([X.], Beschluss vom 12. Juli 2022 - 3 ZB 6/21 - juris Rn. 13; [X.], Beschluss vom 10. März 2021 - 13 OB 102/21 - juris Rn. 5).

8

Auch aus § 58 Abs. 10 [X.] ergibt sich keine abdrängende Zuweisung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit. Für eine solche verlangt § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO eine ausdrückliche anderweitige Zuweisung der Streitigkeit an ein anderes Gericht, um Zweifel über das im jeweiligen Fall zuständige Gericht im Interesse der Rechtssuchenden auszuschließen (BVerwG, Urteil vom 24. Mai 1972 - 1 [X.] 33.70 - BVerwGE 40, 112 <114>). Nach § 58 Abs. 10 [X.] bleiben weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt des § 58 Abs. 5 bis 9 [X.] betreffen, unberührt. Diese Vorschrift stellt keine als solche bezeichnete und erkennbare Sonderregelung des Rechtswegs dar, die allein die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten ausschließen könnte.

9

c) Die Streitigkeit ist nicht durch Landesrecht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen (§ 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Dies kommt nur bei einer Streitigkeit auf dem Gebiet des Landesrechts in Betracht. Die beantragte Durchsuchung ist indessen in § 58 Abs. 6 [X.] bundesrechtlich geregelt. Aus der Kompetenz der Länder zur Regelung des Verwaltungsverfahrens (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG) lässt sich nicht ihre Zuständigkeit für die Bestimmung des hinsichtlich der Anordnung einer Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 [X.] eröffneten Rechtswegs ableiten ([X.], Beschluss vom 12. Juli 2022 - 3 ZB 6/21 - juris Rn. 18 f.; a. A. OVG Schleswig, Beschluss vom 22. Juli 2020 - 4 O 25/20 - NVwZ-RR 2020, 900).

d) § 58 Abs. 10 [X.] stellt schließlich entgegen der Auffassung der Vorinstanzen keine neben die allgemeine Regelung des § 40 Abs. 1 VwGO tretende, gleichrangige eigenständige Zuständigkeitsregelung dar, mit der es im Sinne einer Öffnungsklausel den Ländern ermöglicht wird, bereits bestehende Rechtswegregelungen für Wohnungsdurchsuchungen auf die Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 bis 9 [X.] zu erstrecken. Ein derartiger Regelungsgehalt ist § 58 Abs. 10 [X.] nicht beizumessen. Für Streitigkeiten, die eine solche Durchsuchung zum Gegenstand haben, bleibt es vielmehr beim Rechtsweg zu den [X.] (§ 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO); das gilt auch, soweit das Landesrecht inhaltlich deckungsgleiche oder hinter die bundesrechtlichen Regelungen zurücktretende Vorschriften enthält (ebenso [X.], Beschluss vom 12. Juli 2022 - 3 ZB 6/21 - juris Rn. 24).

Dem von den Vorinstanzen für richtig gehaltenen abweichenden Verständnis des § 58 Abs. 10 [X.] steht bereits der Wortlaut der Norm entgegen, der keinen Anhaltspunkt für eine umfassende Regelungskompetenz der Länder hinsichtlich der Rechtswegzuweisung enthält, sondern lediglich weitergehende landesrechtliche Regelungen unberührt lässt. Landesrechtliche Vorschriften finden daher nur dann Anwendung, wenn sie über die in § 58 Abs. 5 bis 9 [X.] geregelten Befugnisse und sonstigen Vorgaben hinausgehen. Das gilt sowohl für die landesrechtlichen Normen materieller und verfahrensrechtlicher Art als auch für die darauf bezogenen Rechtswegzuweisungen. Entgegen der Auffassung des [X.] steht dem nicht entgegen, dass in § 58 Abs. 10 [X.] nicht von weitergehenden Befugnissen, sondern von weitergehenden Regelungen die Rede ist. Denn die vom Oberverwaltungsgericht für anwendbar gehaltenen bestehenden landesrechtlichen Rechtswegzuweisungen für Streitigkeiten über Maßnahmen, die nicht über die bundesrechtlich geregelten [X.] hinausgehen, sind keine gegenüber dem Bundesrecht weitergehenden Regelungen.

Die Systematik des [X.]es führt zu keinem anderen Ergebnis. Während § 56a Abs. 9 Satz 1 [X.] die Zuständigkeit für Anordnungen nach § 56a Abs. 1 [X.] ausdrücklich den Amtsgerichten zuweist, fehlt eine vergleichbare Vorschrift im Rahmen des § 58 [X.]. Mangels einer solchen Sonderregelung findet die allgemeine Rechtswegzuweisung des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO Anwendung.

Diese Begrenzung des Anwendungsbereichs von § 58 Abs. 10 [X.] wird durch seine Entstehungsgeschichte bestätigt. Mit der Norm wird geregelt, dass durch § 58 Abs. 5 bis 9 [X.] bundeseinheitlich ein Mindestmaß für Betretensrechte bei Abschiebungen vorgegeben wird; bestehende Regelungen der Länder, die weitergehende Befugnisse geben, sollen fortgelten, ohne dass hierzu ein Rechtsakt der Länder notwendig wäre (vgl. [X.]. 19/10706, [X.]). Dem lässt sich nicht entnehmen, dass den Ländern eine umfassende Befugnis zur Regelung des jeweils zu beschreitenden Rechtswegs verbleiben oder eröffnet werden sollte. Die Annahme des [X.], der [X.]geber habe sich mit § 58 Abs. 10 [X.] auf die Regelung materiellrechtlicher Mindeststandards beschränken und die Länder ermächtigen wollen, eine von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO abweichende Rechtswegzuweisung beizubehalten, findet daher in der Entstehungsgeschichte des Gesetzes keine Stütze. Die von § 58 Abs. 10 [X.] getroffene Anordnung des unveränderten Fortgeltens bezieht sich nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich auf bestehende, über § 58 Abs. 5 bis 9 [X.] hinausgehende Regelungen der Länder. Die nunmehr von § 58 Abs. 5 bis 9 [X.] erfassten Sachverhalte hingegen unterfallen der speziellen bundesgesetzlichen Regelung und sind daher auch einer landesrechtlichen Rechtswegzuweisung entzogen.

Der aus dieser Genese folgende Zweck der Norm deutet in dieselbe Richtung. Die Einfügung von § 58 Abs. 5 bis 10 [X.] beruhte darauf, dass in der Praxis einiger Länder keine Rechtsgrundlage für das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zum Zwecke des [X.] einer abzuschiebenden Person bestand und dafür eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage im [X.] geschaffen werden sollte. Sie gibt ein Mindestmaß für Betretensrechte bei Abschiebungen vor (vgl. [X.]. 19/10706 [X.]). Im Anwendungsbereich dieser bundesrechtlichen Regelung sollen indessen keine landesrechtlichen Vorschriften zur Anwendung kommen, auch nicht hinsichtlich des Rechtswegs.

Dieses Verständnis der Norm entspricht dem zu § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO entwickelten Gebot einer klaren und ohne Weiteres erkennbaren Rechtswegzuweisung (vgl. dazu oben b)). Mit der dargelegten Abgrenzung wird die im Interesse der [X.] gebotene eindeutige Bestimmung des Rechtswegs für Streitigkeiten über Anordnungen nach § 58 Abs. 6 [X.] erreicht. Die vom Oberverwaltungsgericht erwähnten Gesichtspunkte der Praktikabilität bleiben dem Gesetzgeber vorbehalten. Es ist zudem nicht erkennbar, dass die Verwaltungsgerichte unter dem geltenden Prozessrecht zur Bewältigung von Anträgen nach § 58 Abs. 6 [X.] nicht in der Lage sein könnten.

Für die Entscheidung über das Begehren des Antragstellers ist mithin der Rechtsweg zu den [X.] eröffnet. Der Antrag ist ausdrücklich auf § 58 Abs. 8 [X.] gestützt und damit auf den Erlass einer Anordnung nach § 58 Abs. 6 [X.] gerichtet. Seiner Begründung ist zu entnehmen, dass die Durchsuchung ausschließlich zum Zweck der Durchführung der Abschiebung im Sinne des § 58 Abs. 6 [X.] erfolgen soll und anderweitige Ziele hiermit nicht verfolgt werden. Weitergehende Regelungen für die Wohnungsdurchsuchung im Sinne des § 58 Abs. 10 [X.] lassen sich dem [X.] Landesrecht nicht entnehmen (vgl. [X.], Beschluss vom 12. Juli 2022 - 3 ZB 6/21 - juris Rn. 24).

3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Das folgt im Beschwerdeverfahren allerdings nicht aus § 17b Abs. 2 GVG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2014 - 9 B 3.14 - [X.] 310 § 40 VwGO Nr. 310 Rn. 11). Jedoch fallen Gerichtskosten nicht an, da die Beschwerde Erfolg hat (vgl. Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG). Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten kommt nicht in Betracht, da dies eine - hier nicht vorhandene - Gegenpartei voraussetzt, der Kosten auferlegt werden können (vgl. [X.], Beschluss vom 8. April 2002 - 5 [X.]/02 - NVwZ-RR 2003, 159; [X.], Beschluss vom 8. Dezember 2015 - 4 [X.] 15.2471 - NVwZ-RR 2016, 399 <400>). Der Festsetzung eines Streitwerts bedarf es daher ebenfalls nicht.

Meta

1 B 65/22

19.10.2022

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend OVG Lüneburg, 1. September 2022, Az: 13 OB 222/22, Beschluss

§ 58 Abs 6 AufenthG 2004, § 58 Abs 8 AufenthG 2004, § 58 Abs 10 AufenthG 2004, § 40 Abs 1 S 1 VwGO, § 17a Abs 4 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 19.10.2022, Az. 1 B 65/22 (REWIS RS 2022, 6153)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 6153

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