Bundessozialgericht, Urteil vom 11.08.2015, Az. B 9 SB 2/15 R

9. Senat | REWIS RS 2015, 6835

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Heilungsbewährung - wesentliche Änderung der Verhältnisse - unterlassene Neubewertung - Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises - Aufhebung der GdB-Feststellung für die Zukunft - Zehnjahresfrist - Vertrauensschutz - sozialrechtliches Verwaltungsverfahren


Leitsatz

1. Zehn Jahre nach einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse des Betroffenen ist nur die rückwirkende Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts ausgeschlossen, nicht die Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft.

2. Die Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises begründet kein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand der zugrunde liegenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.

Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 30. Januar 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

 Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte sein Recht verwirkt hat, die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des [X.] aufzuheben.

2

Beim Kläger wurde im Juni 1992 ein bösartiges Geschwür des rechten Hoden diagnostiziert, der ebenso wie die dazugehörigen Lymphknoten entfernt werden musste. Wegen dieser Krebserkrankung stellte das Versorgungsamt U. auf Antrag des [X.] dessen Grad der Behinderung (GdB) mit 50 seit dem 1.6.1992 fest (Bescheid vom [X.]) und stellte dem Kläger einen bis zum 30.6.1997 befristen Schwerbehindertenausweis aus. Zugrunde lag eine versorgungsärztliche Stellungnahme die [X.] vermerkt hatte, im Juni 1997 sei eine Nachprüfung erforderlich.

3

Ein im Dezember 1994 wegen einer Knochenzyste gestellter Neufeststellungsantrag des [X.] blieb erfolglos (Bescheid vom [X.]). Auch die in diesem Zusammenhang erstellte versorgungsärztliche Stellungnahme erinnerte daran, der GdB von 50 müsse im Juni 1997 wegen einer möglichen [X.] überprüft werden. Trotzdem unterblieb die Nachprüfung. Stattdessen wurde der Schwerbehindertenausweis des [X.] jeweils am 18.6.1997 und am 3.7.2002 befristet und am 28.6.2007 unbefristet verlängert. Auf dem Formular der letzten internen Ausweisverfügung des [X.] war "Nachprüfung nicht erforderlich" angekreuzt.

4

Am 21.12.2011 leitete das Landratsamt O. von Amts wegen eine Nachprüfung ein, hörte den Kläger dazu an und hob den Bescheid vom [X.] nach § 48 [X.]B X auf. Nach [X.] liege seit dem 3.6.2012 kein GdB von mindestens 20 mehr vor (Bescheid vom 31.5.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom [X.]). Das [X.] hat medizinisch ermittelt und auf dieser Grundlage den Aufhebungsbescheid des [X.] ([X.]) seinerseits aufgehoben. Zwar sei der GdB an sich nur noch mit weniger als 20 zu bemessen, weil der Zeitraum der [X.] abgelaufen und keine nennenswerten Gesundheitsstörungen hinzugetreten seien. Der Beklagte habe aber sein [X.] verwirkt und sei daher an die ursprüngliche höhere Feststellung gebunden (Urteil vom 28.2.2014).

5

Auf die Berufung des [X.] hat das L[X.] das [X.]-Urteil aufgehoben und die Klage gegen den Aufhebungsbescheid abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 S 1 [X.]B X lägen wegen der erfolgreichen [X.] vor. § 48 Abs 4 S 1 [X.]B X iVm § 45 Abs 3 S 3 [X.]B X stehe der Aufhebung nicht entgegen, sondern schließe nach Ablauf von zehn Jahren lediglich eine rückwirkende Aufhebung aus. Der [X.] folge insoweit der vom B[X.] (Urteil vom 11.12.1992 - 9a [X.]) vertretenen Auffassung. Für sie spreche auch die inzwischen erfolgte Erweiterung des § 45 Abs 3 [X.]B X. [X.] habe der Beklagte das [X.] nicht; es fehle jedenfalls an der erforderlichen Vertrauensbetätigung des [X.] (Urteil vom 30.1.2015).

6

Mit seiner Revision macht der Kläger weiterhin geltend, der Beklagte habe sein [X.] verwirkt. Dieser habe in den Jahren 2002 und 2007 zweimal seine Schwerbehinderteneigenschaft bestätigt und danach den Schwerbehindertenausweis unbefristet verlängert. Er habe daher nicht mehr von einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ausgehen können, sondern auf das Fortbestehen seiner Eigenschaft als Schwerbehinderter vertrauen können. Sein Vertrauen verdiene Schutz, weil die Schwerbehinderteneigenschaft seinen Kündigungsschutz verstärkt, ihm einen steuerlichen Vorteil sowie die Option einer früheren Rente verschafft habe. Fehler habe allein der Beklagte begangen.

7

Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des L[X.] Baden-Württemberg vom 30. Jan[X.]r 2015 aufzuheben und die Berufung des [X.] gegen das Urteil des [X.] Ulm vom 28. Febr[X.]r 2014 zurückzuweisen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er beruft sich auf die Ausführungen des angefochtenen Urteils.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist unbegründet und zurückzuweisen (§170 Abs 1 S 1 [X.]), weil die vom [X.]läger nach § 54 Abs 1 Alt 1 [X.] zulässig erhobene isolierte Anfechtungsklage gegen die Aufhebung seiner Schwerbehinderteneigenschaft unbegründet ist. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 31.5.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] war rechtmäßig und verletzte den [X.]läger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte durfte seinen Aufhebungsbescheid auf § 48 [X.] stützen (1.); seine Aufhebungsbefugnis ist nicht verwirkt (2.).

1. Der Beklagte hat den Ausgangsbescheid vom [X.] zu Recht gemäß § 48 Abs 1 S 1 [X.] aufgehoben. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Die erforderlichen formellen Voraussetzungen der Aufhebung hat der Beklagte erfüllt, indem er den [X.]läger vorab ordnungsgemäß schriftlich angehört und seinen Bescheid ausreichend begründet hat, § 24 Abs 1 und § 35 Abs 1 [X.].

Auch die materiellen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 48 Abs 1 S 1 [X.] lagen im entscheidungserheblichen [X.]punkt des Widerspruchsbescheids als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung (vgl Zeihe, [X.], Stand April 2015, § 54 Rd[X.] 2d; [X.] vom 27.10.1976 - 2 [X.] - [X.] 2200 § 690 [X.] 4 = [X.] 43, 1-9 = [X.] 1500 § 131 [X.] 4) vor. Bei der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft im Bescheid vom [X.] handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung iS von § 48 [X.] (vgl [X.] vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 - [X.] 79, 223, 225 = [X.] 3-1300 § 48 [X.] 57 S 128 f mwN). Seine tatsächlichen Grundlagen hatten sich durch den erfolgreichen Ablauf der Periode der [X.] beim [X.]läger im Sinne dieser Vorschrift entscheidungserheblich geändert.

Gemäß [X.] 26.1 Abs 3 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht ([X.]) bzw jetzt Teil B [X.] 1 c der Anlage "[X.]" zur [X.] ([X.]) ist nach Behandlung bestimmter [X.]rankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine [X.] abzuwarten. Der [X.]raum der [X.] beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem [X.]punkt, an dem die Geschwulst durch [X.] oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und wichtigsten solcher [X.]rankheiten angegebenen GdB/MdE/[X.] sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein". Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB langdauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen ([X.] vom 2.12.2010 - B 9 SB 4/10 R - Juris Rd[X.] 22). Wegen dieser Pflicht der Versorgungsbehörden, trotz der grundsätzlich vorgesehenen Pauschalierung besonders gelagerten Einzelfallkonstellationen zu Gunsten der Betroffenen Rechnung zu tragen (vgl [X.] vom 2.12.2010 - B 9 SB 4/10 R - Juris; [X.] vom [X.] - B 9 SB 4/08 R - [X.] 4-3250 § 69 [X.] 10), begegnen die Regeln über die [X.] keinen grundsätzlichen gleichheitsrechtlichen Bedenken. Sie lassen den Versorgungsbehörden ausreichend Spielraum dafür, in jedem Einzelfall den Gleichheitsgrundsatz ausreichend zur Geltung zu bringen. Verfassungsrechtliche Erwägungen zwingen daher nicht dazu, das Modell der [X.] zu überarbeiten.

Bestehen - wie beim [X.]läger - keine solchen außergewöhnlichen Folgen oder Begleiterscheinungen der [X.]rebserkrankung, so legt die VersMedV die Höhe des GdB pauschal fest. Erst für die [X.] danach ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörungen zu bemessen (vgl dazu Teil A [X.] 2 [X.] und B[X.] Beschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - Juris Rd[X.] 7). Beruht daher die Höhe des GdB auf einer Erkrankung, für welche die einschlägigen Normen einen erhöhten GdB-Wert während des [X.]raums der [X.] ansetzen, ändert das Verstreichen dieses [X.]raums die wesentlichen, dh rechtserheblichen tatsächlichen Verhältnisse, die der Feststellung des GdB zugrunde lagen (vgl [X.] vom 12.2.1997 - 9 RVs 12/95 - Juris Rd[X.] 14 mwN).

So lag der Fall des [X.]. Der Beklagte hatte bei ihm wegen seiner [X.] [X.]rebserkrankung (Hodentumor) nach Teil A [X.] 26.13 [X.] 1983 (vgl jetzt Teil B [X.] 13.6., Teil B [X.] 3.7 [X.] ) für die [X.] einer [X.] von fünf Jahren einen pauschalen GdB von 50 angesetzt. Bereits 1997 war diese [X.]spanne abgelaufen. Die nunmehr anstelle pauschaler Bemessung zugrunde zu legenden tatsächlichen Umstände rechtfertigten beim [X.]läger nach den für den [X.] bindenden Feststellungen der Instanzgerichte einen GdB-Wert von nur noch unter 20.

Die von § 48 Abs 4 S 1 [X.] angeordnete "entsprechende" Anwendung des § 45 Abs 3 [X.] steht einer Aufhebung der GdB-Feststellung wegen dieser Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht entgegen. Nach § 45 Abs 3 [X.] kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch bei [X.] Verhalten des Begünstigten nur bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Das [X.] hat unter Verweis auf die Rechtsprechung des [X.]s ([X.] vom 11.12.1992 - 9a [X.] - [X.] 3-1300 § 48 [X.] 22 = [X.] 72, 1-7 = [X.] 3-3100 § 61 [X.] 1) zutreffend angenommen und im Einzelnen ausgeführt, dass die entsprechende Anwendung der Zehnjahresfrist nach Systematik sowie Sinn und Zweck nicht dazu dient, einer wesentlichen Änderung nach zehn Jahren jegliche Bedeutung abzusprechen. Vielmehr verbietet sie es lediglich nach Ablauf dieser [X.], den Leistungsbescheid rückwirkend zu ändern und damit in abgeschlossene Lebensvorgänge einzugreifen. Andererseits besteht kein überzeugender Grund, die Aufhebung des [X.] davon abhängig zu machen, wann die Änderung eingetreten ist. [X.] Verwaltungsakten, insbesondere dem Nichterlass eines Aufhebungsbescheides, kann - anders als den von § 45 [X.] geregelten, von Anfang an unrichtigen Bescheiden - keine Bestandskraft zukommen. Im Fall der Änderung der Verhältnisse fehlt es vielmehr hinsichtlich der neuen, nunmehr maßgebenden Sach- und Rechtslage an einer Verwaltungsentscheidung, die dem Betroffenen Anlass geben könnte, sich auf die Unerheblichkeit der eingetretenen Änderung zu verlassen. Sein Interesse wird dadurch nicht unzumutbar vernachlässigt. Bis der Aufhebungsbescheid wirksam wird, verbleibt ihm die Dauerleistung, die der Gesetzgeber ihm nach der materiellen Rechtslage nicht zugedacht hatte ([X.]).

Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, dieses vom [X.] 1992 gefundene Ergebnis infrage zu stellen. Die vom [X.] thematisierte Gesetzesänderung im Jahre 1998 (Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom 6.4.1998 - [X.], 688) hat die entscheidungserhebliche Vorschrift des § 45 Abs 3 [X.] unberührt gelassen und ihr lediglich zwei weitere, hier nicht einschlägige Sätze angefügt. Seitdem kann nach § 45 Abs 3 S 4 [X.] in den Fällen des § 45 Abs 3 [X.] - also bei [X.]enntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit bzw im Falle eines [X.] ein rechtswidriger Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung selbst noch nach Ablauf der Zehnjahresfrist zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Zehnjahresfrist am 15.4.1998 bereits abgelaufen, ist die Aufhebung nach Satz 4 der Vorschrift nur noch für die Zukunft möglich. Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber die Rücknahme von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung auch für die Vergangenheit insbesondere in Fällen ermöglichen, in denen sich der Leistungsempfänger der Unrechtmäßigkeit der Zahlung bewusst war. Die Regelung sollte ausdrücklich auf laufende Geldleistungen beschränkt sein (BT-Drucks 13/10033 [X.]). Aus dieser Ausweitung der Rücknahmemöglichkeiten ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte für eine Absicht des Gesetzgebers, die dem Gesetzgeber bekannte Rechtsprechung des B[X.] und ihre Auslegung des Verweises von § 48 Abs 4 S 1 [X.] auf § 45 Abs 3 [X.] zu beseitigen und damit in bestimmten [X.]onstellationen die Befugnisse der Behörden umgekehrt wieder einzuschränken.

Auch die Rechtsprechung der Landessozialgerichte ([X.] für das [X.] Urteil vom 23.10.2003 - L 2 RJ 110/02 - Juris Rd[X.] 38; [X.] Rheinland-Pfalz Urteil vom 1.4.2003 - L 3 U 66/01 - Juris Rd[X.] 44 entgegen und unter Aufhebung von [X.] Urteil vom [X.] - Juris; [X.] für das [X.] Urteil vom 7.11.2001 - L 10 SB 50/01 - Juris; [X.] Hamburg Urteil vom [X.] - Juris) sowie die vom [X.] zitierte Literatur folgen der [X.]srechtsprechung inzwischen nahezu einhellig ([X.], [X.] 1990, [X.], 255).

Der Aufhebung der Schwerbehinderteneigenschaft des [X.] steht auch nicht entgegen, dass der Beklagte nach Ablauf der [X.] noch erhebliche [X.] - mehr als ein Jahrzehnt - hat verstreichen lassen, bevor er daraus die zutreffenden rechtlichen Schlüsse gezogen und das Überprüfungsverfahren eingeleitet hat. Denn § 48 Abs 1 S 1 [X.] verpflichtete den Beklagten auch noch lange [X.] nach Änderung der wesentlichen Verhältnisse zur Aufhebung des begünstigenden Bescheides. Im Gegensatz zu § 48 Abs 1 S 2 [X.] bei atypischen Fällen ("soll") eröffnet § 48 Abs 1 S 1 [X.] nach seinem eindeutigen Wortlaut dem zuständigen Verwaltungsträger bei der Entscheidung über die Aufhebung des Verwaltungsakts für die Zukunft kein Ermessen ("ist"). Sind daher die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs 1 S 1 [X.] erfüllt, so ist der Verwaltungsakt zwingend mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ([X.] vom [X.] - B 6 [X.]A 15/13 R - [X.] 4-1300 § 47 [X.] 1 Rd[X.] 32; [X.] in jurisP[X.]-[X.], 2013, § 48 Rd[X.] 113 mwN). Die Vorschrift räumt damit der Gesetzesbindung der Verwaltung Vorrang vor individuellem Vertrauensschutz ein. Gesichtspunkte wie zögerliches Handeln der Behörde oder Gutgläubigkeit des Empfängers spielen daher für die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung keine Rolle. Mit § 46 Abs 1 S 1 [X.] aF, der dem heutigen § 48 Abs 1 S 1 [X.] entspricht, wollte der Gesetzgeber - im Gegensatz zu der im allgemeinen Verwaltungsrecht geltenden Ermessensvorschrift des § 49 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz - im leistungsrechtlich geprägten Sozialrecht bewusst eine Pflicht schaffen, den Verwaltungsakt für die Zukunft aufzuheben, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen (BT-Drucks 8/2034 [X.]5).

2. Der Beklagte hat seine Befugnis zur [X.]orrektur der rechtswidrig gewordenen Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des [X.] nicht verwirkt.

Das richterrechtliche Institut der Verwirkung ist als Ausprägung des Grundsatzes von [X.] und Glauben (§ 242 BGB) im Sozialversicherungsrecht ebenso wie im allgemeinen Verwaltungsrecht und im Zivilrecht anerkannt (vgl [X.] 7, 199, 200; 34, 211, 213; 41, 275, 278; 59, 87, 94 = [X.] 2200 § 245 [X.] 4 S 22 f; [X.] 80, 41, 43 = [X.] 3-2200 § 1303 [X.] 6 S 17 f). Eine solche Verwirkung setzt allgemein voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren [X.]raumes unterlassen hat, wie es der Beklagte über deutlich mehr als ein Jahrzehnt getan hat. Zum [X.]ablauf müssen jedoch weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des einschlägigen Rechtsgebietes das verspätete [X.] des Rechts nach [X.] und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (vgl [X.] 32, 305; BVerwGE 44, 339, 343; [X.], 201, 202; [X.] 34, 211, 214; 35, 91, 95 mwN). Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete - erstens - infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten ([X.]) darauf vertrauen durfte, dieser werde das Recht nicht mehr geltend machen (Vertrauensgrundlage), - zweitens - der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, das Recht werde nicht mehr ausgeübt (Vertrauenstatbestand), und - drittens - er sich infolge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat ([X.]), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl [X.] 47, 194, 196 = [X.] 2200 § 1399 [X.] 11 S 15 mwN; [X.] 80, 41, 43 = [X.] 3-2200 § 1303 [X.] 6 S 18; BVerwGE 44, 339, 343 f).

Allerdings enthalten die §§ 45 ff [X.] in ihrem Anwendungsbereich eine spezielle und abschließend gedachte Regelung des Vertrauensschutzes bei der Aufhebung von Verwaltungsakten. Der Gesetzgeber hat damit ein abgestuftes Vertrauensschutzkonzept geschaffen, mit dem er [X.] zwischen rückwirkender und allein zukunftsgerichteter Aufhebung unterscheidet sowie enge Handlungsfristen für die Aufhebung vorsieht, vgl § 45 Abs 4 [X.]. Diese passgenaue gesetzliche Interessenabwägung können die Sozialgerichte nicht pauschal durch allgemeine, aus der Generalklausel von [X.] und Glauben abgeleitete Vertrauensschutzerwägungen ersetzen. Zumindest im Fall der gebundenen Aufhebung einer Statusentscheidung im Schwerbehindertenrecht wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse muss die Annahme einer Verwirkung daher auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben, in denen eine wortgetreue Anwendung der gesetzlichen Vorschriften dazu führen würde, insbesondere grundrechtlich geschützte Positionen zu verletzen (allg vgl [X.], Vertrauensschutz im [X.] und [X.] Verwaltungsrecht, 2000, [X.] ff; vgl BVerwG Urteil vom 20.12.1999 - 7 C 42/98 - BVerwGE 110, 226 ff). Da die Verwirkungsvoraussetzungen hier deshalb eng auszulegen sind, hat der Beklagte sein Aufhebungsrecht trotz seiner langen Untätigkeit nicht verwirkt. Dafür fehlt es schon an einer ausreichenden Verwirkungshandlung des Beklagten und damit auch an der erforderlichen Vertrauensgrundlage (a) sowie unabhängig davon an einem schützenswerten [X.] des [X.] (b).

a) Die lange Säumnis des Beklagten bei der erforderlichen Überprüfung des Gesundheitszustands des [X.] stellt - selbst in Verbindung mit der Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises - keine ausreichende Verwirkungshandlung dar.

Wie der [X.] speziell für den Fall der Aufhebung einer Feststellung der Schwerbehinderung nach erfolgreicher [X.] bereits entschieden hat, können Sozialbehörden aus einer Änderung der Verhältnisse für die Zukunft jedenfalls grundsätzlich zeitlich unbeschränkt Gestaltungsrechte ableiten ([X.] vom 12.2.1997 - 9 RVs 12/95 - Juris Rd[X.] 16). Dies fordert maßgeblich der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung, der die Wiederherstellung gesetzmäßiger Zustände und die Gleichbehandlung aller Antragsteller gebietet. Verwirken kann die zuständige Behörde ihr Recht, eine rechtswidrig gewordene Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft aufzuheben, allenfalls dann, wenn sie erkennbar auf das Verstreichen einer Phase der [X.] Bezug nimmt und darauf hinweist, daraus auch in Zukunft keine Folgerungen mehr ziehen zu wollen ([X.], vgl [X.]). Bereits eine solche eindeutige Verwirkungshandlung des Beklagten hat das [X.] indes nicht festgestellt. Sie liegt insbesondere nicht in der Verfügung vom 28.6.2007 über die unbefristete Verlängerung des Schwerbehindertenausweises mit dem fälschlicherweise angekreuzten [X.], eine Nachprüfung sei nicht erforderlich. Denn diese Verfügung ist nur ein behördeninterner Vorgang ohne Außenwirkung.

Die Umsetzung dieser Verfügung nach außen durch Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises an den [X.]läger stellt ebenfalls keine ausreichende Verwirkungshandlung des Beklagten dar; sie hat deshalb keine geeignete Vertrauensgrundlage für den [X.]läger geschaffen. Denn ein solcher Ausweis hat keine konstitutive Bedeutung für die darin verlautbarten Feststellungen ([X.] in [X.]/[X.], [X.], Stand 8/2014, [X.] § 69 Rd[X.] 38; [X.] in jurisP[X.]-[X.], 2. Aufl 2015, § 69 Rd[X.] 25: "deklaratorische Bedeutung"). Vielmehr weist er gemäß § 69 Abs 5 S 2 [X.] lediglich als öffentliche Urkunde die gesondert im Ausgangsbescheid getroffene Feststellung der Schwerbehinderung gegenüber Dritten nach (vgl [X.] vom [X.] - 9a RVs 4/83 - [X.] 3870 § 3 [X.] 21 = [X.] 60, 11-18; [X.] vom 11.5.2011 - B 5 R 56/10 R - Juris Rd[X.] 25 mwN; [X.] aaO Rd[X.] 65). Demgegenüber nahm der dem [X.]läger ausgestellte Ausweis weder auf das Verstreichen der [X.] Bezug, noch wies er darauf hin, daraus auch in Zukunft keine Folgerungen ziehen zu wollen. Zwar darf nach § 6 Abs 2 S 2 Schwerbehindertenausweisverordnung der Ausweis entgegen der Sollvorschrift des § 69 Abs 5 [X.] [X.], die regelmäßig nur eine befristete Ausstellung vorsieht, an sich nur dann unbefristet ausgestellt werden, wenn eine Neufeststellung wegen einer wesentlichen Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen nicht zu erwarten ist. Insofern hat sich der Beklagte aber offenbar lediglich geirrt. [X.] Vertrauen konnte der [X.]läger auf die [X.]undgabe dieses Irrtums nicht gründen, mag er sich auch in laienhafter Anschauung darauf verlassen haben, sich trotz der ihm bekannten Besserung seines Gesundheitszustands keiner Nachprüfung mehr stellen zu müssen. Denn nach § 69 Abs 5 S 4 [X.] wird der Schwerbehindertenausweis eingezogen, sobald der gesetzliche Schutz schwerbehinderter Menschen erloschen ist. Die Ausstellung des Schwerbehindertenausweises stand ebenso wie die zugrunde liegende Feststellung der Schwerbehinderung des [X.] von Anfang an unter dem Vorbehalt der Nachprüfung bei Änderung der Verhältnisse. Dies gilt ohnehin für jede gesundheitliche Einschränkung, soweit sie einer Besserung zugänglich ist und erst recht für die Feststellung der Schwerbehinderung nach Ablauf der [X.]spanne der [X.].

b) Zudem hat der [X.]läger sein subjektiv möglicherweise gefasstes, aber objektiv nicht gerechtfertigtes Vertrauen nicht schützenswert betätigt ([X.]). Auch dies hat das [X.] für den [X.] bindend festgestellt. Die dem [X.]läger in der Vergangenheit gewährten Steuer- bzw Statusvorteile verbleiben ihm. Für die Zukunft hat der [X.]läger keine Vertrauensdispositionen getroffen, die er nicht mehr oder nur noch unter unzumutbaren Anstrengungen und [X.]osten rückgängig machen könnte. Die Aufhebung der rechtswidrig gewordenen Statusentscheidung berührt insbesondere keine grundrechtlich geschützten Positionen des [X.].

Insgesamt erschließt sich nicht, warum die Aufhebung der Schwerbehinderteneigenschaft den [X.]läger für die Zukunft unzumutbar belasten sollte, obwohl sein gesundheitlicher Zustand diese Feststellung schon seit langem in keiner Weise mehr rechtfertigt und er gleichwohl während der langen Untätigkeit des Beklagten von den an den Schwerbehindertenstatus geknüpften Vorteilen und Erleichterungen profitiert hat.

Das [X.] hat daher das stattgebende Urteil des [X.] zu Recht aufgehoben und die Anfechtungsklage des [X.] gegen die Aufhebung der Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft abgewiesen.

3. Die [X.]ostenentscheidung ergibt sich aus § 193 [X.].

Meta

B 9 SB 2/15 R

11.08.2015

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Ulm, 28. Februar 2014, Az: S 9 SB 2788/12, Urteil

§ 45 Abs 3 S 3 SGB 10, § 45 Abs 3 S 4 SGB 10, § 45 Abs 4 SGB 10, § 48 Abs 1 S 1 SGB 10, § 48 Abs 4 S 1 SGB 10, § 69 Abs 1 SGB 9, § 69 Abs 5 S 2 SGB 9, § 69 Abs 5 S 3 SGB 9, § 69 Abs 5 S 4 SGB 9, § 242 BGB, § 2 VersMedV, Anlage Teil A Nr 2 VersMedV, Anlage Teil B Nr 1 Buchst c VersMedV, Anlage Teil B Nr 13.6 VersMedV, § 6 Abs 2 S 2 SchwbAwV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 11.08.2015, Az. B 9 SB 2/15 R (REWIS RS 2015, 6835)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 6835

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