Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.10.2019, Az. VI ZR 71/17

6. Zivilsenat | REWIS RS 2019, 2387

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Beweiserleichtung zu Gunsten des Patienten im Arzthaftungsprozess


Leitsatz

Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Erhebung und Sicherung medizinischer Befunde und zur ordnungsgemäßen Aufbewahrung der Befundträger lässt im Wege der Beweiserleichterung für den Patienten zwar auf ein reaktionspflichtiges positives Befundergebnis schließen. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn ein solches Ergebnis hinreichend wahrscheinlich ist. Es geht zu weit, als Folge der Unterlassung medizinisch gebotener Befunderhebung oder Befundsicherung unabhängig von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Befundergebnisses eine Vermutung dahingehend anzunehmen, dass zugunsten des Patienten der von diesem vorgetragene Sachverhalt für den Befund als bestätigt gilt.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 13. Zivilsenats des [X.] in [X.] - vom 17. Januar 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt den Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.

2

Der im Jahre 1969 geborene Kläger wurde am 13. Mai 2010 Opfer eines tätlichen Angriffs, bei dem er auch eine Verletzung am rechten Fuß erlitt. Er stellte sich am 14. Mai 2010 in der Praxis des beklagten Facharztes für Chirurgie und Unfallchirurgie vor und berichtete von Schmerzen und einer Schwellung im Bereich des rechten Fußes. Nach Fertigung von Röntgenbildern veranlasste der Beklagte eine Computertomographie, durch die sich sein Verdacht einer nicht dislozierten schalenförmigen Absprengung am [X.] bestätigte. Am 18. Mai 2010 passte der Beklagte dem Kläger einen sog. OPED-Stiefel zur Ruhigstellung und Entlastung des Fußes an. Bei einer Kontrolluntersuchung am 25. Mai 2010 nahm der Beklagte den OPED-Stiefel wegen Druckbeschwerden des [X.] ab und legte stattdessen einen Gipsverband an. Der Gipsverband reichte vom Fuß bis auf die Höhe des [X.]. Die Zehen waren frei. Ob der Gipsverband aufgeschnitten ("gespalten") war, ist zwischen den Parteien streitig. Am 31. Mai, 10. Juni und 21. Juni 2010 erfolgten Wiedervorstellungen des [X.] beim Beklagten. Am 31. Mai 2010 vermerkte der Beklagte in der Patientendokumentation "[X.]". Bei der Kontrolle am 10. Juni 2010 fertigte der Beklagte Röntgenbilder an und hielt den Befund "gute Stellung, beginnende Konsolidierung" fest. Am 21. Juni 2010 entfernte der Beklagte den Gipsverband.

3

Der Kläger leidet nunmehr unter CRPS (Komplexes regionales Schmerzsyndrom, früher auch Sympathische Reflexdystrophie oder Morbus Sudeck genannt). Er hat geltend gemacht, der Wechsel auf einen zirkulären Gipsverband, der nicht aufgeschnitten gewesen sei, habe gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstoßen.

4

Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des [X.] hat das [X.] das landgerichtliche Urteil im Kostenpunkt aufgehoben, im Übrigen abgeändert und durch Grund- und Teilurteil festgestellt, dass der Beklagte dem Grunde nach verpflichtet ist, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld zu bezahlen, dessen Höhe dem Betragsverfahren vorbehalten bleibt; es hat den Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 4.589,03 € nebst Zinsen verurteilt und dessen Ersatzpflicht für weitere materielle und immaterielle Schäden festgestellt. Die Revision hat es nicht zugelassen. Der Beklagte begehrt mit seiner vom Senat zugelassenen Revision die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

I.

5

Das [X.]erufungsgericht hat ausgeführt, die [X.]ehandlung des [X.] am 25. Mai 2010 sei grob [X.] gewesen, so dass zugunsten des [X.] vermutet werde, dass der Primärschaden, der Eintritt des Morbus Sudeck, durch sie verursacht worden sei. Es sei davon auszugehen, dass der [X.] trotz diffuser Schmerzen und Schwellungen am behandelten Fuß einen zirkulären, nicht gespaltenen Gips angelegt habe. Der Sachverständige habe den vom Kläger so geschilderten [X.]ehandlungsverlauf als [X.] bewertet. Der [X.] dagegen habe angegeben, er habe bei Öffnung des Schuhs keine pathologischen Veränderungen im Sinne von Schwellungen, Druckspuren oder Druckmalen gesehen. Auf Frage nach dem Schmerzempfinden habe der Kläger auf die Stelle der Absplitterung gedeutet. Er habe deshalb den Gipsverband anmodelliert und dann nach oben aufgeschnitten. Es sei aber die Schilderung des [X.] in den entscheidenden Punkten zugrunde zu legen, weil ihm [X.]eweiserleichterungen aufgrund einer unzureichenden Dokumentation zu [X.] kämen. Auf der Grundlage der - bestrittenen - Angaben des [X.] sei es angesichts diffuser Schmerzen und Schwellungen [X.] gewesen, den Gips nicht aufzuschneiden und den Kläger nicht zur Gipskontrolle binnen 24 Stunden aufzufordern. Dass der Gips nicht gespalten worden sei, sei zugunsten des [X.] anzunehmen, weil eine Spaltung vom [X.]n nicht dokumentiert worden sei. Die Spaltung sei jedoch erforderlich gewesen, denn es müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger über diffuse Schmerzen am Fuß geklagt habe und sich bei Abnahme des [X.] ein diffuses Schwellungsbild gezeigt habe, nachdem der [X.] den klinischen [X.]efund bei Abnahme des [X.] pflichtwidrig nicht gesichert (dokumentiert) habe. Aufgrund der unterlassenen Sicherung des zu dokumentierenden [X.]efundes werde vermutet, dass der [X.]efund den Vortrag des [X.] stütze. Es sei nicht erforderlich, dass der [X.]efund, dessen Erhebung oder Sicherung unterlassen worden sei, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges Ergebnis erbracht hätte.

6

Der [X.] habe nicht nachzuweisen vermocht, dass die Annahme dieses [X.]ehandlungsfehlers nicht zutreffen könne. Zwar habe der Sachverständige klargestellt, dass der Kläger binnen zwei bis drei Tagen unter massiven Schwellungen und rasenden Schmerzen gelitten haben müsse, wenn ihm tatsächlich am 25. Mai 2010 ein zirkulärer, nicht aufgeschnittener Verband angepasst worden sein sollte, obwohl der ganze Fuß schmerzhaft und geschwollen gewesen sei. Einen solchen Verlauf könne man zwar ausschließen, wenn man unterstelle, dass die Dokumentation des [X.]n vom 10. Juni und 21. Juni 2010 richtig sei. Damit ließe sich der [X.]eweis, dass am 25. Mai 2010 nicht fehlerhaft behandelt worden sei, aber nur führen, wenn man von der Richtigkeit der Dokumentation ausgehe. Die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Dokumentation des [X.]n sei vorliegend aber schon deshalb erschüttert, weil feststehe, dass die Dokumentation für den 25. Mai 2010 unvollständig sei. Sei die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit in einem entscheidenden Punkt erschüttert, gehe es nicht an, andere Teile der Dokumentation isoliert zu betrachten und hinsichtlich dieser an der [X.] festzuhalten. Dies müsse jedenfalls dann gelten, wenn die nachweisliche Lücke - wie hier - einen nicht nur untergeordneten, sondern im Gegenteil ganz zentralen Punkt betreffe und zwischen dem lückenhaften Teil der Dokumentation und dem weiteren Teil ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang bestehe.

II.

7

Das [X.]erufungsurteil hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die [X.]eurteilung des [X.]erufungsgerichts, der [X.] habe dem Kläger [X.] einen nicht gespaltenen Gipsverband trotz eines diffusen Schmerz- und Schwellungsbildes am Fuß angelegt, ist nicht frei von [X.]. Das [X.]erufungsgericht hat die Voraussetzungen und die Reichweite der [X.]eweiserleichterungen verkannt, die dem Patienten bei [X.] und Verstößen gegen die Pflicht zur [X.]efundsicherung zu [X.] kommen, und rechtsfehlerhaft allein aus dem Umstand, dass der [X.] den klinischen [X.]efund bei Abnahme des [X.] nicht dokumentiert bzw. gesichert hat, die Vermutung abgeleitet, der erhobene [X.]efund entspreche dem vom Kläger behaupteten [X.]efund.

8

1. Grundsätzlich ist es Sache des klagenden Patienten, einen von ihm behaupteten [X.]ehandlungsfehler des Arztes nachzuweisen. Allerdings kommen nach der Rechtsprechung des erkennenden [X.]es zugunsten eines Patienten [X.]eweiserleichterungen in [X.]etracht.

9

a) Dies gilt etwa für den Fall, dass die gebotene ärztliche Dokumentation lückenhaft bzw. unzulänglich ist. Nach gefestigter Rechtsprechung des erkennenden [X.]s begründet das Fehlen der Dokumentation einer aufzeichnungspflichtigen Maßnahme die Vermutung, dass die Maßnahme unterblieben ist. Der [X.]ehandlungsseite obliegt es dann, die Vermutung zu widerlegen (vgl. [X.]surteile vom 11. November 2014 - [X.], NJW 2015, 411, juris Rn. 21; vom 14. Februar 1995 - [X.], [X.], 6, 10, juris Rn. 13; vom 29. September 1998 - [X.], [X.], 190, juris Rn. 14; [X.]sbeschluss vom 9. Juni 2009 - [X.], [X.], 1406 Rn. 4; ferner Pauge/[X.], Arzthaftungsrecht, 14. Aufl., Rn. 514; [X.]/[X.], [X.], 7. Aufl., [X.] Rn. 247; jeweils mwN; vgl. auch § 630h Abs. 3 [X.]G[X.]).

Weiter reicht die [X.]eweiserleichterung in der Regel aber nicht. Sie führt grundsätzlich weder unmittelbar zu einer [X.]eweislastumkehr hinsichtlich des [X.] (vgl. nur [X.]surteil vom 6. Juli 1999 - [X.], NJW 1999, 3408, juris Rn. 13) noch rechtfertigt sie den Schluss auf ein für den Patienten positives [X.]efundergebnis im behaupteten Sinne (so aber [X.]/[X.] in [X.], [X.]G[X.], 15. Aufl., § 630h [X.]G[X.], Rn. 27; ähnlich [X.]/[X.], Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., [X.]; anders ausdrücklich [X.]/[X.], [X.], 7. Aufl., S. 181).

b) Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Erhebung und Sicherung medizinischer [X.]efunde und zur ordnungsgemäßen Aufbewahrung der [X.]efundträger lässt im Wege der [X.]eweiserleichterung für den Patienten zwar auf ein reaktionspflichtiges positives [X.]efundergebnis schließen. Dies ist jedoch entgegen der Auffassung des [X.]erufungsgerichts nur dann der Fall, wenn ein solches hinreichend wahrscheinlich ist (vgl. [X.]surteile vom 13. Februar 1996 - [X.], [X.]GHZ 132, 47, juris Rn. 16; vom 13. Januar 1998 - [X.], [X.]GHZ 138, 1, juris Rn. 7; vom 3. November 1998 - [X.], [X.], 231, juris Rn. 16; vgl. auch MünchKomm[X.]G[X.]/[X.], 7. Aufl. § 630h Rn. 66; v. [X.], Die [X.]eweisfigur des [X.]efunderhebungs- und [X.]efundsicherungsfehlers im [X.] nach der Rechtsprechung des [X.]GH und der Instanzgerichte, 2009, Seite 42).

Es geht danach zu weit, als Folge der Unterlassung medizinisch gebotener [X.]efunderhebung oder [X.]efundsicherung unabhängig von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des [X.]efundergebnisses eine Vermutung dahingehend anzunehmen, dass zugunsten des Patienten der von diesem vorgetragene Sachverhalt für den [X.]efund als bestätigt gilt. Soweit das [X.]erufungsgericht seine abweichende Auffassung auf die [X.]sentscheidung vom 21. November 1995 ([X.], NJW 1996, 779, juris Rn. 10) gestützt hat, hat es übersehen, dass der [X.] bereits in der Entscheidung vom 13. Februar 1996 ([X.], [X.]GHZ 132, 47, juris Rn. 10) eine Einschränkung dahingehend formuliert hat, dass auf ein positives [X.]efundergebnis nur zu schließen ist, wenn ein solches hinreichend wahrscheinlich ist (vgl. auch [X.]surteile vom 13. Januar 1998 - [X.], [X.]GHZ 138, 1, juris Rn. 7; vom 3. November 1998 - [X.], [X.], 231, juris Rn. 16; vom 29. Juni 1999 - [X.], [X.]GHZ 142, 126, juris Rn. 31; vom 6. Juli 1999 - [X.], NJW 1999, 3408, juris Rn. 21). Daran hält der [X.] fest.

2. Gemessen daran hätte das [X.]erufungsgericht hinsichtlich der - hier (wahlweise) offengelassenen - fehlenden [X.]efunderhebung oder fehlenden [X.]efundsicherung in [X.]ezug auf die [X.] bei Abnahme des [X.] und vor Anpassung des Gipses Feststellungen dazu treffen müssen, ob der von ihm zugrunde gelegte [X.]efund, wonach der Kläger über diffuse Schmerzen am Fuß geklagt und sich dort ein diffuses Schwellungsbild gezeigt habe, (objektiv) hinreichend wahrscheinlich war. Dies wird es nachzuholen haben.

III.

Das [X.]erufungsurteil ist danach aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das [X.]erufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die neue Verhandlung gibt dem [X.]erufungsgericht im Übrigen Gelegenheit, sich mit dem weiteren Vorbringen der Parteien in der Revisionsinstanz zu befassen. Für das weitere Verfahren weist der [X.] darauf hin, dass eine vom [X.]erufungsgericht möglicherweise angenommene [X.]eweisregel, wonach dann, wenn die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Dokumentation in einem entscheidenden Punkt erschüttert ist, andere Teile der Dokumentation nicht isoliert betrachtet werden dürfen und hinsichtlich dieser an der [X.] nicht festzuhalten ist, nicht existiert.

von [X.]     

      

[X.]     

      

[X.]

      

[X.]     

      

Müller     

      

Meta

VI ZR 71/17

22.10.2019

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Karlsruhe, 17. Januar 2017, Az: 13 U 49/16

§ 630h Abs 3 BGB, § 823 Abs 1 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.10.2019, Az. VI ZR 71/17 (REWIS RS 2019, 2387)

Papier­fundstellen: MDR 2020, 267-273 REWIS RS 2019, 2387

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI ZR 71/17 (Bundesgerichtshof)


3 U 161/04 (Oberlandesgericht Hamm)


VI ZR 285/17 (Bundesgerichtshof)

Arzthaftung: Pflicht zur Weiterleitung von Informationen über bedrohliche Befunde in Arztbriefen an den Patienten; Beurteilung …


VI ZR 81/17 (Bundesgerichtshof)

Grundsatz der Subsidiarität im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren: Geltendmachung eines Gehörsverstoßes des Berufungsgerichts im Arzthaftungsprozess


5 U 97/99 + 5 U 191/99 (Oberlandesgericht Köln)


Referenzen
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.