Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.07.2023, Az. 1 StR 106/23

1. Strafsenat | REWIS RS 2023, 4683

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Gegenstand

(Anforderungen an Darstellung der Feststellungen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit; Gefährlichkeitsprognose vor dem Hintergrund tätlicher Angriffe gegen Polizeibeamte)


Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 22. November 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) nach Überleitung des Sicherungsverfahrens in das Strafverfahren (§ 416 Abs. 2 StPO) abgelehnt, den Angeklagten wegen Bedrohung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in vier tateinheitlichen Fällen sowie wegen Bedrohung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt sowie deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte und vom [X.] vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

2

Das [X.] hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. Der Angeklagte leidet seit 2009 unter einer paranoiden Schizophrenie, die von sozialem Rückzug begleitet ist. Er befand sich deshalb bis einschließlich September 2019 durchgängig in ambulanter Therapie. Auf eigenen Wunsch begab er sich infolge des Erlebens psychotischer Symptome (darunter Angstzustände und [X.]) im [X.]raum zwischen den Jahren 2009 und 2012 viermal in stationäre psychiatrische Behandlung von jeweils zwei Wochen. Ab Mai 2019 verweigerte der Angeklagte die Einnahme der seit 2012 verordneten [X.]; im November 2020 brach er die Behandlung vollends ab.

4

Im Frühjahr 2021 kündigte der Angeklagte sein bis dahin in Vollzeit ausgeübtes Arbeitsverhältnis als Postbote, da er nicht bereit war, eine [X.] zu tragen. [X.]gleich brach er den Kontakt zu seiner Familie ab; denn er glaubte, seine Eltern würden ihm schädliche Substanzen in sein Essen mischen. Im Zusammenhang mit einem ebenfalls im Frühjahr 2021 wegen eines Parkverstoßes geführten Bußgeldverfahren wurde sein Bankkonto gepfändet, woraufhin die Wohnungsmiete nicht mehr vereinbarungsgemäß eingezogen werden konnte. Infolgedessen erging gegen den Angeklagten nach Kündigung des [X.] auf die Räumungsklage seines Vermieters im September 2021 ein Versäumnisurteil. Der Angeklagte, der die anstehende Räumung – wie bereits das vorangegangene Bußgeldverfahren – als Unrecht gegen seine Person empfand und der Meinung war, legale Schritte seien zwecklos, beschloss, seine Wohnung nicht freiwillig zu verlassen. Nach Ankündigung des [X.] verwüstete er die Wohnung und heftete nach außen sichtbar einen Zettel an sein Küchenfenster, auf den er „[X.] ein Bitte" geschrieben hatte. Gegenüber einer Sozialarbeiterin äußerte er, es handele sich bei der Räumung um ein „Komplott“ gegen ihn.

5

Am 3. Dezember 2021, dem [X.], forderte der Gerichtsvollzieher, der polizeiliche Unterstützung hinzugezogen hatte, den Angeklagten auf, die Wohnungstür zu öffnen. Der Angeklagte kam dem jedoch nicht nach, sondern beschimpfte die Beamten. Er nahm außerdem einen [X.] in die Hand, mit dem er auf den Fußboden schlug und den er gegen Personen einsetzen wollte, sollten diese seine Wohnung betreten. Sodann bewaffnete er sich mit einer geladenen Schreckschusspistole und schrie durch die geschlossene Tür, er habe eine Waffe und es würde etwas passieren, wenn die Beamten in die Wohnung kämen. Die Polizeibeamten und der Gerichtsvollzieher nahmen diese Drohung ernst, zogen sich zurück und forderten ein Spezialeinsatzkommando an. Dieses stemmte, nachdem auch eine erneute Kontaktaufnahme zu dem Angeklagten gescheitert war, die von ihm verbarrikadierte Wohnungstür auf. Der Angeklagte befand sich zu diesem [X.]punkt unmittelbar hinter der Wohnungstür und hielt einsatzwillig sowie -bereit den [X.] in seiner rechten und den Schreckschussrevolver in seiner linken Hand. Nachdem die Tür einen Spalt breit geöffnet war, streckte er die einer scharfen Waffe sehr ähnelnde Schreckschusswaffe heraus und zielte damit auf die vor der Tür positionierten [X.]. Zwei daraufhin von einem der Beamten abgegebene Schüsse auf den Arm des Angeklagten gingen fehl, führten aber dazu, dass dieser den Revolver zurückzog. Nachdem ihn die Schüsse verfehlt hatten, streckte er seinen Arm mit der Waffe erneut aus dem Türspalt hinaus und zielte auf das Gesicht eines [X.]. In der Folge schoss ein – akute Lebensgefahr befürchtender – [X.] erneut auf den Angeklagten und traf ihn am linken Arm. Danach gelang es den Beamten, die Wohnung zu räumen.

6

2. Das [X.] hat sich – in Abweichung vom Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen – nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Unrechtseinsicht oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten trotz seiner Grunderkrankung krankheitsbedingt aufgehoben oder auch nur erheblich vermindert war (§§ 20, 21 StGB), und deshalb eine Unterbringung nach § 63 StGB abgelehnt. Die Anordnung der Maßregel scheide aber auch deswegen aus, weil der Angeklagte nicht gefährlich im Sinne von § 63 StGB sei. Bei den [X.] handele es sich nicht um erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB; denn diese seien zum Nachteil von Personen begangen worden, die professionell mit derartigen Konfliktsituationen umzugehen hätten und dafür eigens geschult seien. Besondere Umstände gemäß § 63 Satz 2 StGB seien nicht gegeben. Es habe eine Ausnahmesituation für den Angeklagten bestanden, der letztlich niemanden verletzt habe und trotz seiner langjährigen Erkrankung nur einmal – und dabei von der Störung unbeeinflusst – bestraft worden sei.

II.

7

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

8

1. Die Entscheidung des [X.]s hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Urteil einen durchgreifenden Darstellungsmangel aufweist.

9

Das [X.] hat im Urteil nicht tragfähig begründet, aus welchen Gründen es dem psychiatrischen Sachverständigengutachten nicht darin gefolgt ist, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei zur Tatzeit im Sinne von § 20 StGB aufgehoben gewesen.

Zwar ist das Tatgericht nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, weil dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann (vgl. [X.], Urteile vom 12. Dezember 2018 – 5 [X.] Rn. 14 und vom 24. Februar 2021 – 6 [X.] Rn. 9). [X.] es aber eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht, ob das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen wurden. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf die das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. [X.], Urteile vom 12. Juni 2001 – 1 [X.]/01 Rn. 55; vom 7. Juni 2017 – 1 [X.] Rn. 7 und vom 24. Februar 2021 – 6 [X.] Rn. 9; Beschlüsse vom 18. Oktober 2017 – 3 StR 368/17 Rn. 11 und vom 15. Mai 2023 – 6 [X.] Rn. 5). Eine solche lässt das Urteil hier vermissen.

Das [X.] hat seine Schuldfähigkeitsbeurteilung auf eigene Erkenntnisse und die vom Sachverständigen ermittelten Befundtatsachen gestützt, ohne im Einzelnen offenzulegen, worin letztere genau bestehen. Aus dem Gutachten des Sachverständigen hat es im Urteil nur einzelne „Hypothesen“ mitgeteilt. Um dem Revisionsgericht eine Nachprüfung zu ermöglichen, hätte es indes zunächst der Darlegung der Befundtatsachen bedurft, von denen der Sachverständige ausgegangen ist. Im [X.] daran hätte das [X.] dessen Schlüsse und Bewertungen mitteilen müssen und vor allem, zu welchen Ergebnissen der Sachverständige gekommen ist. Daran fehlt es weitgehend. Wie der Sachverständige die von ihm aufgestellten „Hypothesen“ im Ergebnis beurteilt hat, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen.

2. Die vom [X.] angestellten Hilfserwägungen betreffend die Gefahrenprognose vermögen die [X.] der Maßregel gleichfalls nicht zu tragen. Ein durchgreifender Darstellungsmangel liegt – erneut – darin, dass sich das [X.] nicht mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandergesetzt hat. Wie sich der Sachverständige zu der [X.] verhalten hat, bleibt völlig offen (vgl. dazu etwa [X.], Beschluss vom 11. April 2023 – 4 StR 80/23 Rn. 18 f.).

3. Der Senat hebt die getroffenen Feststellungen insgesamt auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter sowohl zu den für die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der [X.] bedeutsamen Umständen als auch zu sämtlichen prognoserelevanten Aspekten umfassende und in sich widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

III.

1. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird, naheliegend unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen, Feststellungen dazu zu treffen haben, in welcher Weise sich die psychische Erkrankung des Angeklagten auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 4. April 2023 – 1 [X.] Rn. 13 mwN). Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis allein genügt nicht (vgl. dazu [X.], Urteil vom 9. August 2017 – 1 [X.]/17 Rn. 21; Beschlüsse vom 23. August 2012 – 1 [X.] Rn. 7; vom 12. Oktober 2016 – 4 [X.] Rn. 11; vom 4. Dezember 2018 – 4 [X.] Rn. 6; vom 22. Mai 2019 – 4 [X.]/19 Rn. 14 und vom 15. Mai 2023 – 6 [X.] Rn. 5).

2. Die Gefährlichkeitsprognose wird es dabei auf den [X.]punkt der neuen Entscheidung unter Berücksichtigung des aktuellen [X.] zu beziehen haben.

a) Die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten ist daran auszurichten, ob eine zu erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, was grundsätzlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden kann (vgl. [X.], Urteil vom 29. November 1994 – 1 [X.] Rn. 11; Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 [X.]5/10 Rn. 11 mwN). Dabei können sich nähere Darlegungen erübrigen, wenn sich – wie in aller Regel bei Verbrechen oder Gewalt- und Aggressionsdelikten – eine schwere Störung des Rechtsfriedens bereits aus dem Gewicht des Straftatbestandes ergibt, mit dessen Verwirklichung gerechnet werden muss (vgl. [X.], Urteil vom 12. Juni 2008 – 4 [X.]/08 Rn. 18; Beschlüsse vom 24. November 2004 – 1 [X.] Rn. 7 und vom 22. Februar 2011 – 4 [X.]5/10 Rn. 11). Dagegen wird die Annahme einer schweren Störung des Rechtsfriedens nur in Ausnahmefällen zu bejahen sein, wenn die zu erwartenden Delikte nicht zumindest den Bereich der mittleren Kriminalität erreichen (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 11. Oktober 2018 – 4 [X.] Rn. 17; Beschlüsse vom 29. November 2018 – 5 [X.] Rn. 9 und vom 27. Juni 2019 – 1 [X.] Rn. 4). Wichtige Gesichtspunkte bei der Einzelfallerörterung sind die vermutliche Häufigkeit neuerlicher Delikte und die Intensität der zu erwartenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen (vgl. [X.], Urteile vom 17. November 1999 – 2 StR 453/99 Rn. 5, [X.]R StGB § 63 Gefährlichkeit 27 und vom 22. Mai 2019 – 5 [X.] Rn. 9).

Nach Maßgabe dessen können auch tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte erhebliche [X.] im Sinne des § 63 Satz 1 StGB sein, was bereits die gesetzgeberische Wertung des § 114 StGB nahelegt (vgl. hierzu bereits [X.], Urteil vom 13. Dezember 2021 – 5 [X.] Rn. 27 und Beschluss vom 22. November 2022 – 5 [X.]; vgl. auch [X.], Beschluss vom 22. September 2021 – 1 [X.] Rn. 21 mwN [zur Erheblichkeit von Bedrohungen]). Zwar ist bei der Gewichtung von Bedrohungen und einfachen körperlichen Attacken gegen Polizeibeamte in den Blick zu nehmen, dass diese darin ausgebildet sind, professionell mit Konfliktsituationen umzugehen, und zumeist über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 14. Februar 2017 – 4 StR 565/16 Rn. 10 und vom 22. November 2022 – 5 [X.]). Dies bedeutet aber nicht, dass Polizeibeamte nicht zu den durch § 63 StGB geschützten potentiellen Opfern gehören würden und ihnen zugefügte körperliche Schäden allein aufgrund ihrer beruflichen Stellung weniger erheblich wären ([X.], Beschluss vom 22. November 2022 – 5 [X.]). Die vorgenannte Einschränkung gilt vielmehr nur dann, wenn es sich um niederschwellig gelagerte Taten handelt, derer sich Polizeibeamte kraft ihrer Ausbildung ohne erhebliches Verletzungsrisiko erwehren können.

b) [X.] wird die trotz langjährig bestehenden Krankheitsbildes bislang weitgehend ausgebliebene Delinquenz des Angeklagten sowie das bisherige Fehlen von symptomatischen Gewaltdelikten zu würdigen sein.

c) Sollte das neue Tatgericht – trotz der prognosegünstigen Umstände – erneut die Voraussetzungen der Anordnung der Unterbringung bejahen, wird es jedenfalls in den Blick zu nehmen haben, dass die Anordnung der Unterbringung, gegebenenfalls mit geeigneten Weisungen, auch zur Bewährung ausgesetzt werden kann, was zu einer ordnungsgemäßen Medikamentierung des Angeklagten während dieser [X.] beitragen kann.

Jäger     

  

Bär     

  

Leplow

  

Allgayer     

  

Munk     

  

Meta

1 StR 106/23

12.07.2023

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 22. November 2022, Az: 3 KLs 258 Js 208032/21

§ 20 StGB, § 63 S 1 StGB, § 114 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.07.2023, Az. 1 StR 106/23 (REWIS RS 2023, 4683)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4683

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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